Mai 30th, 2017

X-MIST RECORDS (#165, 04-2014)

Posted in interview by Jan

Interview mit Armin Hofmann von X-Mist Records im Februar 2014

Armin Hofmann (X-Mist) und das TRUST waren Mitte bis Ende der 80er Jahre eng verbunden. Seither hat sich Vieles verändert, so auch das Verhältnis zwischen beiden. Nicht verändert hat sich hingegen, dass X-Mist und das TRUST nach wie vor aktiv präsent sind und sich auch in ihrer Einstellung treu blieben. Passend zur 100. Veröffentlichung von X-Mist hat sich das TRUST daher mit Armin über dessen Jubiläum und einiges Mehr unterhalten.

Soeben erschien das 100. X-Mist-Release, eine Discografie 12“ EP Deiner ehemaligen Band Happy Ever After. Wie kam es damals zu dem Projekt und wieso war es so kurzlebig?

Die Geschichte der Entstehung ist relativ einfach erzählt: Unsere vorherigen Bands, Apes of Wrath und Skeezicks, hatten sich aufgelöst. Aber Utes und mein Equipment standen immer noch in dem Gemeinschaftsproberaum rum. Genauso wie das Schlagzeug von meinem Bruder Andy, ebenfalls ex-Skeezicks. Also hatten wir die Idee das zu nutzen, ein bisschen gemeinsam Musik zu machen, zu jammen, wie man so sagt, aber ohne Ziel und Zweck eine Band zu gründen.

Jason blieb nach der Social Unrest-Tour in Tübingen hängen. Erst als er auf die Idee kam, sich uns anzuschließen, waren wir gefordert, das Ganze etwas ernsthafter anzugehen. Was aber auch kein großes Problem darstellte, denn niemals zuvor und nie wieder danach hab ich es erlebt, wie homogen Leute miteinander Musik machen können. Es hat perfekt funktioniert, die Stücke entstanden quasi aus dem Nichts heraus. Kein erzwungenes Songwriting, sondern rein aus dem Gemeinschaftsgefühl beim Jammen.

Die Songs hatten daher auch nie eine festgesetzte Struktur, sondern veränderten sich bei jeder Probe. Das ist auch der Grund, weshalb wir nur ein paar Songs aufgenommen hatten, das heißt das Germs-Cover war eine spontane Idee im Studio und für die anderen Aufnahmen hatten wir uns für eine feste Form von drei unserer Stücke entschieden. Als Jason nach gut einem Jahr wieder in die USA zurückkehrte war dann auch Schluss. Wir vier Leute zusammen ergaben Happy Ever After – und als ein Teil wegfiel, konnte es auch nicht mehr diese Band geben.

Jason wohnt mittlerweile zumindest zeitweise in Berlin. Habt Ihr noch Kontakt oder gar, da Eure Zusammenarbeit so harmonisch verlief, einmal über ein weiteres Projekt nachgedacht?

Der Kontakt war über lange Jahre abgebrochen. Aber wie bei so vielen Menschen entdeckt man sich via Facebook wieder. Also seit einiger Zeit besteht zumindest in der Hinsicht wieder Kontakt. Aber über weitere musikalische Projekte denke ich prinzipiell nicht mehr nach: Meine „Karriere“ ist definitiv beendet. Der Schlussstrich war ein Auftritt in Nagold mit dem Happy Ever After Orchestra – einem Projekt, das von Ute und mir initiiert war und mit dem wir einmal im Jahr auftraten –, bei dem ich versuchte, mit meinem Bass die Wand einzuschlagen. Das war quasi der Höhepunkt meiner Musikerkarriere – und gleichzeitig auch deren Ende.

Happy Ever After ging damals eher etwas unter. Was war der Grund für Dich, dennoch gerade diese Platte als Jubiläumsrelease zu planen?

Das Risiko eine Platte von einer Band zu veröffentlichen, die es gar nicht mehr gibt, die niemals wirklich bekannt war und die heutzutage kaum ein Mensch mehr kennt, war mir durchaus bewusst. Aber gerade bei der 100. Veröffentlichung spielten solche ökonomischen Überlegungen überhaupt keine Rolle. Die Frage war eher: Was passt als Jubiläum? Dabei kam mir der Gedanke eben diese Band zu wählen, die uns selbst, also Ute und mich, am besten repräsentierte. Auch wenn ich davon nur fünf Stück verkaufen könnte, dann war es trotzdem genau die richtige Wahl: Kein Aufmerksamkeit heischendes Prestige-Objekt, keine Wichtigtuerei, sondern ein Geschenk an uns selbst.

Wenn man die 100 Veröffentlichungen überfliegt, die Du über die vergangenen 28 Jahre veröffentlich hast, fällt besonders auf, dass musikalisch keine rote Linie gibt und es von Youth-Crew-Hardcore über Emo über instrumentalem Freejazz bis hin zu Rap geht. Wenn man gehässig sein wollte, dann könnte man sagen, dass X-Mist stets opportunistisch Trends gefolgt ist. Wenn man nett sein möchte, könnte man hingegen meinen, dass X-Mist keine Scheuklappen hat und sich stetig verändert und dadurch interessant bleibt.

Das mit der musikalischen roten Linie sehe ich komplett anders. Wenn man – so wie ich das versuche – Musik als Teil des großen Ganzen, also was man gemeinhin als Kultur bezeichnen könnte, begreift, dann ist da absolut eine durchgehend rote Linie. Wenn man mal von ein paar Missgriffen und Fehltritten absieht, aber niemand ist frei von Irrtümern.

Jedenfalls war es zu jeder Zeit der Versuch, aktuelle Entwicklungen und Veränderungen innerhalb dieser subkulturellen Szene abzubilden und widerzuspiegeln. Ich darf wohl – ohne dabei groß zu übertreiben – behaupten, dass die Platten so gut wie immer zu einem Zeitpunkt rauskamen bevor die darauf veröffentlichte Musik zu einem Trend wurde. Das war schon bei den Spermbirds so, auch bei Dawnbreed und nun auch zuletzt mit den Sleaford Mods. Der Hype um Letztere kam erst in Fahrt, als wir die Single schon geplant hatten. Glückstreffer sozusagen.

Opportunistisch wäre in meinen Augen eher, sich um solche Entwicklungen zu kümmern, nachdem bereits ein Trend daraus geworden ist. Außerdem interessiert mich Musik auch gar nicht mehr, nachdem sie zum Trend mutiert ist. Das hat nichts mit Arroganz oder übertriebenem Individualismus zu tun. Das Leben wär mir einfach zu fad und öde, wenn ich nicht permanent nach neuen Herausforderungen suchen würde, sondern nur noch aus Wiederholung und Stillstand bestehen würde. Kurzum: Meine musikalischen Vorlieben haben sich Zeit meines Lebens nicht verändert, denn sie bestanden immer darin, Neues zu entdecken.

Wenn Du davon berichtest, dass Du immer auf der Suche nach neuer Musik und nach wie vor hungrig darauf bist, so stelle ich mir die Frage, wieso Du ausgerechnet weiter in Nagold wohnst. Für Hardcore sicherlich ein guter Ort, denn ich bin der festen Ansicht, dass Hardcore in einer Kleinstadt stets besser funktioniert, weil Großstädtern meist aufgrund des Überangebotes das Quäntchen Enthusiasmus abhanden kommt, was Hardcore aber gerade so spannend macht, und tourende Hardcore-Bands eben auch in solche Städtchen kommen. Wenn ich mir aber Deine Mailorder-Newsliste so durchsehe, finde ich fast nur noch Bands, die am Ende wahrscheinlich auf einer Europatour in Deutschland maximal in Hamburg, Köln und Berlin spielen. Funktioniert das Neuentdecken für Dich heutzutage auch nur über aufgenommene Musik, d.h. brauchst Du das Drumherum einer Show nicht oder nicht mehr?

Der Sänger einer bekannten Band, die mir zeitweise sehr gut gefiel, sagte mal mit einer Miene, die gähnende Langeweile zum Ausdruck bringen sollte: „Four guys rocking on a stage? I’ve seen it a thousand times!“. Geht mir genauso! Konzerte brauch ich mir nicht mehr zu geben – und wenn ich es doch tue, dann ist es meistens der gleiche Scheiß wie schon immer. Daher versuch ich mir nur noch die Perlen raus zu picken, von denen ich glaube, dass sie mich dann wirklich überraschen. Ansonsten hat man in der Zwischenzeit das Internet erfunden und das ermöglicht Vieles, was früher nur über langwierige und umständliche Wege zu erreichen war. Nicht zuletzt auch das Entdecken von neuer Musik. Irgendwie impliziert deine Fragestellung auch den Eindruck, dass man in der Provinz hinter dem Mond leben müsste. Dem ist nicht so und das war auch noch nie so: Provinzialität ist eine Frage der Geisteshaltung, nicht des Wohnorts.

Aber mal ganz ernsthaft bzw. wiederum auch nicht, denn ich nehme mich nie wirklich ernst: Nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen scheint es mir tatsächlich so zu sein, dass man in der sogenannten Provinz mehr Enthusiasmus und Engagement aufbringen muss, um sich kulturell zu bilden. Was man nicht selber tut, das erledigt hier kein Anderer für einen. Großstädter scheinen dagegen zu glauben, dass ihnen in ihren Metropolen tatsächlich ein Angebot unterbreitet werden würde, das dem neuesten und hipsten „State of the Art“ entspräche. Ein fataler Trugschluss, denn dieser konsumistische Standpunkt bedeutet auch gleichzeitig, dass die sogenannten Veranstalter, die ja teilweise identisch sind mit den Konsumenten, wenig Bemühungen in das Entdecken neuer Ausdrucksformen stecken, sondern ebenso irrtümlich glauben, das würde ihnen alles von selbst in ihrer Berliner, Hamburger oder Kölner Hände fallen.

Als Kind vom Land würde ich auch nicht pauschal behaupten, dass das Leben in der Provinz zwingend Provinzialität mit sich bringen muss. Und wie bereits erwähnt, glaube ich, dass in der Provinz etwa Hardcore-Konzerte viel enthusiastischer ablaufen, einfach weil jeder sich freut, dass überhaupt mal was los ist. Aber: Nicht alles findet den Weg in die Provinz. Und gerade in großen Städten, wo Einflüsse vieler Leute aus unterschiedlichen Nationen zusammenkommen, kommt oft ein Ergebnis heraus, die vielleicht erst später als Kopie in der Provinz ankommt. Wenn man nun wie Du von der Suche nach Neuem getrieben ist, macht es einem die Provinz nicht ungemein schwerer am Ball zu sein?

Deine Behauptung, dass etwas Neues oder Innovatives in Ballungszentren entsteht und erst mit Verspätung sich aufs Land ausbreitet, hat was für sich. Das mag in gewissen Punkten stimmig sein. Du spielst hier ja zum Beispiel auf die „Melting Pot“-These an, die unbestrittener Weise Innovationen in Metropolen hervorbringt. Aber in mancherlei Hinsicht stimmt es wiederum auch nicht: Zum einen in popkultureller Hinsicht, zutreffend für Jugendbewegungen, wie Punk, Hip-Hop usw.

Zum anderen hat sich die Gesellschaft seit den 1980er dermaßen radikal verändert, dass es so was wie diese Jugendbewegungen seither gar nicht mehr gegeben hat. Konsequenterweise findet man die Entwicklungen und Innovationen im Bereich der Musik seither größtenteils bei Außenseitern, Individualisten – Leuten die sich nicht einer gewissen Peer-Group unterordnen. Die sogenannte „Peer Pressure“ dürfte in dieser Hinsicht in Großstädten weit mehr ausgebreitet sein als in der Provinz. Diese Individuen finden sich in Städten wie auf dem Land. So war das schon immer in der gesamte Kultur – und letztlich hängt es nur von der Persönlichkeit ab, nicht von ihrem Wohnort.

Was nun noch das Konzert-Erlebnis angeht, kann ich aus zigfacher und langjähriger eigener Erfahrung behaupten: Es ist ungemein schwieriger für eine neue unbekannte, aber durchaus interessante Band ein Konzert in einer Großstadt zu bekommen als bei diversen Enthusiasten auf dem flachen Land.

Da hat sich das Verhältnis des Innovationspotentials geradezu ins Gegenteil verkehrt – und diese neuen interessanten Geschichten landen erst dann in der Metropole, nachdem sie bereits auf dem Lande waren bzw. sich eine gewisse Anerkennung dadurch erworben haben. Ich könnte frecher Weise und etwas übertrieben behaupten, aber mit zig Beispielen aus den letzten 30 Jahren sogar unterlegen, dass ich in Städten nichts zu sehen bekommen werde, was mich wegblasen könnte, weil ich es schon lange vorher in irgendeinem Dorf gesehen habe. Aber natürlich sollte man nicht pauschalisieren, so oder so.

Du sprichst von Fehlern, die Du auch mal gemacht hast. Meinst Du damit, dass Du Platten herausgebracht hast, die sich nicht verkauft haben, oder Platten, die Du aus dem ein oder anderen Grund nicht mehr machen würdest?

Wenn ich von Fehlern spreche, dann meine ich das nicht in kommerzieller Hinsicht. Verkauft haben sich letztlich alle Platten. Aber ganz konkret war das die Zeit, in der wir die Spermbirds auf dem Label hatten. Damals lief es in finanzieller Hinsicht sogar so erfolgreich wie nie zuvor und auch nie mehr danach. Aber die beiden letzten Veröffentlichungen mit der Band, „Eating Glass“ und „Joe“, waren für mich persönlich nicht wirklich überzeugend. Aus musikalischer Sicht – rein menschlich gesehen lief es prima und wir waren Freunde.

Aber genau dieser Umstand führte dazu, dass ich den eigentlichen Sinn und Zweck des Labels aus den Augen verlor. Es lief einfach zu gut in ökonomischer Hinsicht – und ich ließ mich dazu hinreißen Platten zu machen, weil die Bands Freunde waren oder Freunde von Freunden. Irgendwann wurde mir klar, dass ich damit X-Mist zu einem Label mache, das Musik rausbringt und vermarktet – also eher ein schöner Job, aber nicht mehr das, womit ich mich zu 100 Prozent identifizieren kann. Der Umschwung oder die Rückkehr zur eigentlichen Idee kam dann wohl wieder mit der ersten Kurt LP.

Was war denn die eigentliche Idee?

Die eigentliche Idee war und ist Musik zu veröffentlichen, die mir etwas bedeutet. Einen Stellenwert für mich hat, der über das „Gefällt mir“ hinausgeht. Etwas pathetisch formuliert: Die das in musikalischer Form ausdrückt, zu dem ich selbst nicht imstande bin. Also das Label nicht nur als Plattenvehikel, sondern als Umsetzung meiner eigenen musikalischen und künstlerischen Ansprüche und Vorstellungen.

Du hättest eine Neuausrichtung Deiner Labelpolitik unter Beibehaltung Deiner finanziellen Sicherheit in Form des ständigen Verfügbarhaltens der Spermbirds-Platten vornehmen können. Was hat Dich zu dieser Konsequenz eines völligen Striches und Neustarts bewogen? Man könnte ja wahrscheinlich auch heute noch pro Jahr noch hunderte Spermbirds-Platten verkaufen.

Nun, eben das bereits Erwähnte: Finanzielle Sicherheit ist ein Aspekt, an dem man nicht vorbeikommt. Aber sich damit identifizieren zu können, und dadurch auch eine gewisse Zufriedenheit mit sich selbst zu erreichen, war mir dann doch wichtiger. Wenn ich damals so weiter gemacht und das bis heute beibehalten hätte, dann stünde ich finanziell sicherlich besser da. Aber ich hätte mich auch selbst belogen und betrogen, wenn ich versucht hätte Musik zu vertreten und zu promoten, die mich nicht mehr wirklich überzeugt und zufrieden gestellt hat. So kann ich nun heute immer sagen, wenn ich eine Platte rausbringe, dass ich davon überzeugt bin – und wenn sie jemand nicht kaufen will oder nicht mag, kann er/sie mich halt am Arsch lecken. Da muss ich nichts relativieren oder entschuldigen.

Das war dann letztlich auch der Grund weshalb ich den Spermbirds-Backkatalog nicht weiterführen wollte und abgeben hab: Konsequenterweise wollte ich auch kein Geld mehr an etwas verdienen, das mir nicht mehr wirklich was bedeutete. Damit man mich aber nicht falsch versteht: Das war absolut okay und exakt das Richtige für mich zu seiner Zeit! Aber dann musste es für mich auch weitergehen. That was then, and this is now!

Der Trend ist ja aber derzeit aber ein völlig anderer: Es gibt Bücher über Bücher, die sich mit der Historie von Punk und Hardcore auseinandersetzen, einen Dokumentarfilm nach dem anderen und Labels veröffentlichen selbst Platten von völlig durchschnittlichen Bands aus den 80ern, die in jeder Billigkiste in Plattenläden in der Originalaufnahme zu finden sind. In einigen dieser Dokumentationen und Bücher bist Du ja selbst berichtender Zeitzeuge bzw. Interviewpartner.

Du sagst es ja selbst: Es werden auch durchschnittliche Bands wiederveröffentlicht. Teilweise sogar Bands, die schon damals völlig belanglos und überflüssig waren. Da spielt wohl die nostalgische Verklärung eine große Rolle. All die Bücher und Dokumentationen, genauso wie sinnvolle Wiederveröffentlichungen, also in gewisser Hinsicht bedeutende Platten, die schon lange nicht mehr erhältlich und auch rar sind, können durchaus ihre zeitgeschichtliche Relevanz haben. Und damit auch zum besseren Verständnis für nachfolgende Generationen beitragen.

Aber wenn man sich schon mit einer historischen Aufarbeitung befasst, dann sollte man halt auch eine kritische Distanz bewahren bzw. zu einer solchen inzwischen auch fähig sein. Nur dann ergibt das Sinn, bringt einen selbst weiter und hat auch so was wie einen Erkenntniswert für diejenigen, die nicht dabei waren. Wenn aber als Tenor nur so was dabei rauskommt wie: „Was waren wir für tolle Hechte“ – um dann auch noch den letzten Scheiß von damals irgendwie im Nachhinein abzufeiern, dann muss sich doch jeder halbwegs intelligente jüngere Mensch fragen: „Na und, was soll der Scheiß?“

Klingt zwar gut, aber hast Du diese Entscheidung wirklich nie bereut in Zeiten, in denen es immer schwieriger wird Platten an den Verkäufer zu bringen? Gerade da Du ja von X-Mist lebst.

Vielleicht hab ich ab und zu darüber gegrübelt, ob es nicht auch anders hätte laufen können. Aber bereut hab ich es letztlich dann doch nie, weil mir mein eigenes Wohlbefinden dann doch wichtiger war als ein pralles Bankkonto. Natürlich wurde es im Laufe der Jahre immer schwieriger Platten zu verkaufen. Da hat das Downloaden via Internet schon für einen riesigen und konstanten Einbruch gesorgt. Aber andererseits war es auch ein Segen für mich. Denn gerade weil ich mich für ein spezielles Nischendasein entschieden habe, ist die wesentlich unkompliziertere Kommunikation via Internet wiederum ein Pluspunkt.

Das heißt einerseits hat sich die potentielle Kundschaft permanent reduziert, andererseits hat sich die geographische Reichweite wiederum durch das Internet erweitert und auch durch die Einführung des gemeinsamen EU-Marktes. Inzwischen gehen gut 50 Prozent aller Bestellungen in europäische Nachbarländer. Ohne die Einführung des gemeinsamen Marktes und des Euro gäbe es X-Mist mit Sicherheit schon lange nicht mehr. Und wenn wir an einen Punkt gelangen, wo dieser ganze beschissene Renationalisierungstrend dazu führen sollte, dass die Idee von Europa stirbt anstatt weiterentwickelt zu werden, dann ist es auch mit X-Mist vorbei.

Das bringt uns zur „Network of Friends“: War Hardcore in Europa nicht seit jeher dem bereits verpflichtet, was die europäische Idee darstellt und daher der politischen Entwicklung ggf. vorauseilend?

Natürlich war es das. Und nicht zuletzt war eben genau diese europaweit übergreifende Szene vielleicht mit das Beste und Interessanteste an der ganzen Sache. Da konnte man nicht nur Musik entdecken, sondern enorm viel lernen über Menschen, Kultur und Politik. Das war gelebtes Europa. Umso frustrierender treffen mich die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Vielleicht liegt ein Grund für diese Tendenzen darin, dass die Leute heute all das als selbstverständlich betrachten und dementsprechend auch wenig Beachtung und Wertschätzung schenken: Grenzkontrollen, Zoll, Währungsumtausch, Reisen ohne Navi, langwierige Kommunikation per Post usw. – das kennen viele heutzutage gar nicht mehr.

Für uns war das noch eine Summe an kleinen Komplikationen und umso intensiver und euphorischer die Erkenntnis, dass es weit weg Menschen gibt, die genauso denken und fühlen, sich in der gleichen Aufbruchphase befinden. Diese Begegnungen haben mich geprägt und ich bezeichne mich seither gerne als überzeugten Europäer, womit ich nicht das durchaus mangelhafte und stark kritisierenswerte politische Konstrukt der EU meine.

Ich stelle da im Mailorder-Bereich auch seit einigen Jahren einen bedenklichen Trend fest: Damals war absolut spannend und von großem Interesse, was es da an Musik in Italien, Spanien oder sonst wo zu hören gibt, und in welchen Eigenheiten sich das dort ausdrückt. Heute ist es viel schwieriger, das überhaupt noch an den Mann/die Frau zu bringen – und wenn, dann fast nur noch in der gleichen Art und Form, wie man es schon aus anderen Ländern bzw. von zu Hause aus kennt. Ein Zeichen von zunehmender Gleichförmigkeit, anstatt Offenheit für eine kulturelle Vielfalt.

Welches sind die zehn meistverkauften Releases auf X-Mist und welche die zehn Platten, auf über Du Dich am meisten freust, dass Du bei dem Release involviert sein durftest?

Darüber führe ich keine Statistiken. Ich weiß aber, dass nach wie vor die Spermbirds „Common Thread“ die mit Abstand bestverkaufte Platte war und ist. Aber wenn ich in einer Zeit, in der es wesentlich schwieriger wurde Platten zu verkaufen, von einer Band wie zum Beispiel Kurt, die weitaus weniger populär war als die Spermbirds, etwa zehn Mal weniger von deren LPs verkauft habe, dann ist doch die Frage, ob die tatsächlich schlechter lief?

Ansonsten freue ich mich am Meisten eigentlich immer über das nächste anstehende Projekt. Denn Platten zu planen und zu produzieren ist wesentlich interessanter und spannender, als sie dann verkaufen zu müssen. Aber ein schönes Beispiel ist natürlich die Tatsache, dass ich die Big Boys LPs wiederveröffentlichen durfte. Die Band hatte einen enormen Einfluss auf meine eigene Entwicklung und hat mich maßgeblich geprägt fürs Leben. Deren Einverständnis zu dieser Wiederveröffentlichung, war für mich vom Glücksgefühl her so was wie ein Sechser im Lotto!

Ich habe schon mehrfach gelesen, dass Du Big Boys als großen Einfluss siehst. Nachdem Skeezicks sehr an Negative Approach angelehnt war, kommt man da ggf. nicht gleich.

Der Einfluss der Big Boys auf mich persönlich liegt schlichtweg in allem, was diese Band ausmachte: Ihre Offenheit im musikalischen Bereich, ohne dabei jemals die Idee von Punk aus den Augen zu verlieren, die Texte, das Konzept der Band, all das Nonkonformistische an ihnen. Man muss sich einfach nur ihre Platte anhören und sich auch inhaltlich damit auseinandersetzen. Wer es dann immer noch nicht versteht, dem werde ich das auch niemals erklären können.

Tim Kerr von Big Boys sagte mal in einem Interview: „What we did back then was totally different from what punk is now”. Das trifft den Nagel auf den Kopf, soll aber überhaupt keine Wertung sein. Wie könnte ich auch jemandem einen Vorwurf machen, der 20 oder 30 Jahre später diese Musik entdeckt, sie cool findet und so was mit seiner eigenen Band spielt? Woher sollten diese Leute auch wissen, dass da mehr dahinter steckte, als „coole Musik zu machen mit rotzigen Texten“.

Aber für mich bedeutet das dann auch, dass ich eher nach denen suche, die auch ein Verständnis bzw. einen Sinn entwickeln für die ursprünglichen Ideen des Punk, die Motivationen und Intentionen von damals, also über Sound und Stil hinaus, und das weiter transportieren – ganz unabhängig davon, ob es dann den inzwischen standardisierten Formen und Formeln von Punk oder Hardcore entspricht. Nebenbei bemerkt: Punk oder Hardcore zu spielen und sich dabei schön wertkonservativ an 20 bis 30 Jahre lang tradierte Formen zu halten, hat schon was ironisch Paradoxes, oder? Denn eine der ursprünglichen Ideen war es ja eben gerade Standards nicht zu entsprechen, sondern sie aufzubrechen und zu zerstören.

Seit einiger Zeit genießen Kassetten wieder eine größere Verbreitung und sind teils richtige Sammlerobjekte geworden. Dies dürfte vielleicht den rückläufigen Absatzzahlen von Vinyl und die Möglichkeit einer Herstellung auch in kleineren Auflagen zu akzeptablen Preisen geschuldet sein. Nun kommst Du aus der Kassetten-Szene und X-Mist hat bekanntlich seine Ursprünge in Deinem Label ExtremMist-Cassetten. Hast Du nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, die ExtremMist-Veröffentlichungen wieder verfügbar zu machen oder gar X-Mist-Releases, soweit sich Vinyl nicht lohnt, wieder auf Kassetten herauszugeben?

Ich halte diesen aktuellen Trend zu Kassetten in erster Linie und größtenteils für kompletten Schwachsinn. Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass es sich um „coole“ Objekte handelt, mit Vintage-Appeal sozusagen, die nur dazu dienen, einen noch größeren Exklusivitätsfaktor zu haben, noch nerdiger und damit auch hip zu sein. Das ist dann das pure Aufplustern des eigenen kleinkarierten Egos von Menschen mit einer Briefmarkensammler-Mentalität. Wenn es tatsächlich darum ginge eine Alternative zum Vinyl zu haben, wegen den geringen Absatzmöglichkeiten, dann soll mir mal einer erklären worin der Vorteil besteht, auf relative teure Art und Weise Kassetten zu kopieren, anstatt viel billigere CD-Rs anzubieten?

Da wir vorhin über Wiederveröffentlichungen und über die Dokumentation von Vergangenem sprechen: Das ist zwar eine andere Zeit und ein anderer Kontext gewesen, ich habe aber nie irgendwo was darüber gelesen, wie es dazu kam, dass das Skeezicks-Reunion-Konzert als Liveaufnahme auf Lost & Found erschien und dann auch noch ein Begleittext von Moses Arndt bekam. Immerhin war dies ja nur kurz bevor die Fehde zwischen Plot und Lost & Found entbrannte und Dein Verhältnis zu Moses ja auch irgendwie getrübt wirkte.

Zu jener Zeit war mein Verhältnis zu Bernd Granz von Lost & Found und Moses Arndt noch ganz okay bzw. noch einigermaßen ungetrübt. Als Bernd von diesem einmaligen Reunion-Konzert hörte machte er den Vorschlag, dass wir uns drum kümmern sollten, dass es mitgeschnitten wird und er dann eine Live-LP davon veröffentlicht. Meinetwegen, wenn er will, dann soll er. Nach dem Konzert bekamen wir dann auch einen Mitschnitt vom Soundboard auf Kassette. Allerdings wurden die Verstärker überhaupt nicht abgenommen, so dass man an sich nur Gesang hören konnte und was halt noch als Nebengeräusche an Instrumenten über das Gesangsmikro reinkam.

Ich hatte Bernd dann geschrieben, dass es mir Leid tut, aber die Aufnahmen ja nun leider komplett unbrauchbar wären. Worauf er mir dann versicherte, dass das gar kein Problem wäre. Sein Kollege von Gigantor könnte das gut in seinem Studio bearbeiten und da noch wesentlich mehr rausholen. Als wir dann die fertigen LPs bekamen, war ich doch reichlich verblüfft, dass sie genau so klangen wie die Kassette. Dass Moses die Liner Notes schreiben sollte war auch die Idee von Bernd. Aber wenn schon die Platte komplett beschissen klingt, so entsprechen wenigstens die Worte von Moses dem, was die Band tatsächlich ausmachte.

Gibt es eine Platte oder mehrere Platten, bei der oder denen Du Dich ärgerst, dass sie Dir angeboten wurde bzw. wurden und die sie nicht herausgeben hast?

Kann ich mir nicht denken oder vielleicht hab ich es verdrängt. Aber wenn ich ein Angebot ausgeschlagen habe, dann hatte ich auch einen Grund dafür. Eigentlich ist es eher umgekehrt: Im Laufe der vielen Jahre hab ich definitiv etliche Anfragen von Bands bekommen, ohne jetzt Namen zu nennen, denen ich ein Absage erteilt habe Wenn die dann später recht bekannt und populär wurden, dacht ich mir eher immer amüsiert und ironisch: „Schau an, jetzt haben diese Luschen tatsächlich den Durchbruch geschafft“ – ohne dass ich dabei die Absage bereut hätte.

Neben äußerer Faktoren, wie etwa die Entwicklung in der EU etc., wo denkst Du liegt die Zukunft des Tonträgerhandels?

Schwer zu sagen, ich bin kein Prophet. Anhand der aktuellen Entwicklungen im Handel generell stellt sich wohl eher die Frage, ob Tonträger überhaupt eine Zukunft haben. Ich würde das ähnlich einschätzen wie es auch in anderen Bereichen ist: Die folgenden Generationen werden Musik immer mehr als rein virtuelle Angelegenheit wahrnehmen und konsumieren. Das iPhone ersetzt dann nicht nur die Musik-Anlage, sondern bald auch den selbständig handelnden Menschen. Wie heißt es so treffend: Das Gerät ist dann nicht mehr das Werkzeug das der Mensch benutzt, sondern umgekehrt.

Aber wie schon immer in der Geschichte der Menschheit, wird es dann auch Reaktionen und Gegenbewegungen geben, so marginal sie auch erscheinen mögen. Das sieht man zum Beispiel an den Essensgewohnheiten: Es gibt ein riesige und zunehmende Masse an Menschen, die von der Fast-Food-Welle und Großkonzernen manipuliert und kontrolliert werden. Aber eben auch die Tendenz zur Rückbesinnung auf „richtiges Essen“ – ökologisch und naturverträglich. Noch vor ca. zehn Jahren hielt man das für eine winzige Minderheit, ohne jegliche Breitenwirksamkeit. Ein paar Spinner, die halt auch die nötigen finanziellen Mittel haben, sich das zu leisten.

Inzwischen hat dieser Trend zur Regionalität und bewussterem Umgang mit Lebensmitteln aber enorm zugenommen. Was ich damit sagen will: Ein bewussterer und intensiver Umgang mit Musik, also nicht nur das banale und oberflächliche Durchzappen von zigtausend Downloads auf dem iPhone, könnte auch dazu führen, dass Menschen wieder ein Bedürfnis entwickeln, sich mehr damit auseinander zu setzen als nur als rein virtueller Fast-Food-Konsum. Dass es dabei dann letztlich doch nur eine Minderheit bleiben wird, also reale Tonträger in Kleinstauflagen mit gehobener Ausstattung, scheint mir aber auch klar zu sein.

Siehst Du der Zukunft von X-Mist dabei gelassen entgegen?

In der Hinsicht ist eher die Frage, wie man generell mit dem Thema Zukunft umgeht. Da habe ich mir schon sehr viele Gedanken gemacht und versuche dabei nicht zu sehr in diese „German Angst“-Falle zu tappen bzw. sie zu vermeiden. Das typische Verhalten, eben vor allem in Deutschland, sich permanent um die Zukunft Sorgen zu machen, für alles und jedes eine Versicherung abzuschließen, und das eigene richtige Leben – so wie man es sich vorstellt – dann in die Zukunft zu verschieben, ist mir ein Graus. Es kommt halt wie es kommt, irgendwie geht es immer weiter. Und die Hauptsache ist: Ich lebe jetzt und muss mir später nicht selbst vorwerfen, ich hätte irgendwas verschoben und verpasst.

Wenn Du vor 100 Releases nicht mit X-Mist angefangen hättest, was wärst Du heute?

Die Frage hat sich auch nie gestellt. Ich hatte nie was Richtiges gelernt, nie andere Pläne. Es hat sich von Anfang an, nach Ende der Schulzeit, so entwickelt. Rückblickend stellt man sich natürlich die Frage, was sonst aus einem hätte werden können. Aber das setzt auch voraus, dass man damals – vor langer Zeit – auch Schritte und Entwicklungen in diese oder jene Richtung unternommen hätte.

Sich im Nachhinein darüber zu ärgern, dass man es nicht getan hat, ist müßig! Aber wenn es denn so gewesen wäre, dann könnte ich mir vorstellen, heute als Bergführer oder Senner zu arbeiten. Ein Senner/Käser-Praktikum hab ich vor zwei Jahren interessehalber auch mal gemacht. Aber in erster Linie einfach nur, weil ich wissen wollte, wie das wirklich ist und ob man das nicht zu romantisch verklärt betrachtet

Danke für das Interview.

Mehr Infos und Kontakt über http://www.x-mist.de

von Christian Unsinn

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