Januar 11th, 2019

THE MAKE UP (#81, 2000)

Posted in interview by Jan

Das Make Up im richtigen Leben, also das, was frau sich als Schmiere kaufen kann, verdeckt, ist so eine Art zweite Haut über dem Gesicht. Die Band Make Up dagegen will aufdecken, will einen Blick hinter das Rock’n’Roll-Geschäft gewähren und zeigen, daß in diesem Geschäft der blanke Kapitalismus regiert. Zugleich benutzen Make Up allerdings eine absolut smarte Musik, die sich selbst den Touch des Kapitalismus gibt, den Luxus des Glam und Glitzer – ein Widerspruch, der natürlich ebenso reizvoll wie beabsichtigt ist.
Reizvoll deshalb, weil Make Up mit den Mitteln spielen, anhand derer sie die Falschheit der Welt aufzuzeigen versuchen (ähnlich funktionierten ja auch die frühen Roxy Music) und sich eben nicht auf die Seite stellen, die glaubt, sie sei an sich gegenüber jeglicher Kritik erhaben: Die „ehrliche“ Seite des Rock’n’Roll, die kleine Nische, wo man(n) sein Leid und Unverstandensein ins Mikro brüllt.
Make Up sind cool, um zugleich die Oberflächlichkeit einer nur noch auf veräußerlichte Coolnes ausgelegten Welt zu entlarven. Ähnlich habe ich auch stets die Filme von Quentin Tarantino empfunden. Bissiger, kritischer und letztlich verzweifelter, als sie von den meisten seiner Fans wahrgenommen wurden.

Für gewöhnlich empfinde ich Interviews als langweilige Sache. Nicht notwendig als Leser, sondern als Autor, der das ganze Zeug abtippen muß, in ein möglichst sinnvolles Deutsch bringen. Da ist es mir lieber, mit wenigen Statements auszukommen – manchmal sogar am liebsten, gar keine zu haben – und mir meine eigenen Gedanken über eine Band zu machen, gerne die Gefahr in Kauf nehmend, etwas ganz anderes in sie hineinzulesen, als ‚die Künstler‘ selbst darin sehen.

Das hat nichts mit mangelndem Respekt gegenüber den Ausführenden zu tun – im Gegenteil: jede Interpretation zollt einer Sache mehr Ehre, Mühe und Einfühlungsvermögen als bloß ein Interview zu führen -, sondern eher mit der Erfahrung, daß gerade die Künstler am wenigsten geeignet sind, etwas Klärendes über ihre Arbeit zu sagen. Zum Glück ist das Produkt, das Kunstwerk, vogelfrei, steht allen zur Verfügung, die sich damit auseinandersetzen wollen. Viele Fans haben diese Freiheit leider noch nicht begriffen oder wollen sie einfach nicht begreifen. Gerade im Pop und im Rock’n’Roll wimmelt es von bloßem Starkult, der nicht über eine Sache nachdenken will, sondern nur den Helden von den Lippen lesen.

Genau das steht auch im Mittelpunkt der Kritik, die Ian Svenonius, der Sänger von Make Up, in diesem Interview gegenüber dem Künstlerbild formuliert, das typisch für unsere Gesellschaft geworden ist. Und genau hier könnte ich, wenn ich wollte, ansetzen und Make Up für sehr vieles kritisieren, was sie selbst an sich für überwunden glauben. Daß die „Oh Baby“-Schwitz- und Stöhn-Musik ein komplexes Hintergrundwissen über Make Up und deren Philosophie voraussetzt, um überhaupt als Ironie wahrgenommen werden zu können, wäre noch die geringste Kritik. Noch fragwürdiger erscheint mir Ians permanente Abgrenzung vom Rest der amerikanischen Musik, die in einem diffusen Sex-Begriff begründet liegt und einem noch diffuseren Kollektiv-Begriff. Warum ausgerechnet Make Up, wie Ian behauptet, kollektiver arbeiten und weniger Distanz zu ihrem Publikum aufbauen als andere Bands, leuchtet mir nicht ein. Im Gegenteil: Die Ironie in ihrer Musik ist bereits eine Form von Distanz. Und eigentlich auch eine ganz sympathische.

Aber, wie gesagt: Ich möchte hier nicht ausführlich all die Ungenauigkeiten und Fragwürdigkeiten aufdröseln, die sich im Gespräch mit Ian ergeben haben, weil ich denke, daß sie offensichtlich sind. Die Selbststilisierung von Make Up ist übertrieben und sicher auch falsch. Komischerweise macht aber gerade das den Reiz aus, sich mit dieser Band zu beschäftigen. Wären Make Up so, wie ihre Musik häufig klingt (von wegen: „Tanzen und Schwitzen ist cool, im Leben geht es doch eh nur darum, Spaß und geile Babes zu haben“), wären sie grauenvoll. Und wäre die Musik von Make Up so, wie sie sich häufig in Interviews geben, hätten wir es wahrscheinlich mit der x-ten Emo-Sektierer-Brüll-Brüll-Heul-Heul-Band zu tun, die kein Mensch mehr braucht. Es ist der Widerspruch selbst, das Zusammenkommen von scheinbar Unvereinbarem, das Make Up so faszinierend macht und uns alle (vorsicht, jetzt kommt eine Hippie-Floskel) irgendwie zum Nachdenken zwingt.

Sex und Erotik spielen eine wichtige Rolle in Eurer Musik. Glaubst du, daß es möglich ist, Sex in eine Form von Gesellschaftskritik umzuwandeln?
Ian: „Aber natürlich! Es ist nur schwer, das zu erklären. Ich halte die ganze westliche Welt, also die kapitalistischen Staaten für ungeheuer sexualisiert, ohne daß es dabei wirklich um Sex, also wirklich um Erfüllung geht. Im Kapitalismus ist alles funktional, Mode und Design beispielsweise. Es ist funktional, weil es darum geht, Waren möglichst gut zu verkaufen. Und Waren lassen sich am besten verkaufen, wenn sie sexy aussehen, also Sex vorspiegeln. Aber eben nur: vorspiegeln! Mit erfüllter Sexualität hat das alles nichts zu tun.

Im Gegenteil: Erfüllte Sexualität, glaube ich, hat gar nichts mich Funktionalität zu tun. Deshalb ist sie auch für kein Geld der Welt kaufbar. Der erfüllten Sexualität geht es nicht um Fortpflanzung, Ehe, sondern es geht ihr… uuuh, schwer zu erklären, denn ich befürchte, daß es sie in unseren Ländern gar nicht mehr gibt. Wir sind schon dermaßen vom Kapital und vom Patriarchat geprägt, daß wir das, worum es geht, eigentlich nur noch erahnen können, kaum mehr in Worte fassen.“

Gerade die Linke hat Probleme mit cooler, lockerer Popmusik, mit einer Musik, die sehr viel Erotik spielen läßt. Ist das eine Provokations-Strategie von Make Up, einerseits eine linke Agit-Prop-Band sein zu wollen, andererseits aber mit einer Sexieness zu spielen, die bis an den Rand des Pornographischen geht?
Ian: „Na ja, pornographisch ja nicht, denn Pornographie ist ja auch wiederum Sex um des Geldes willen. Aber sicher, wir wollen provozieren. Unser Anliegen ist schwer zu erklären. Es hat etwas mit Lust zu tun, mit körperlicher Lust. Wir wollen der ganzen Rock-Chose ihre eigene Verklemmtheit vorführen, ihre Unfähigkeit, den Körper gehen zu lassen. Das ist aber nur ein Aspekt, der eine viel komplexere Idee betrifft… ein verdammt komplexes Programm, das sich nicht nur gegen die ganze Rock-Ideologie wendet, sondern gegen das gesamte Kunstverständnis Amerikas.

Und das begann, als die Europäer im 16. Jahrhundert Amerika kolonialisierten und diese riesige klaffende Lücke gegenüber der sogenannten Dritten Welt schufen. Mit der Kolobialisierung Amerikas begann auch ein neuer Typus von Künstler zu wachsen, der dem kapitalistischen Prinzip – jeder gegen jeden – entsprach: der Individualist. Ich sehe Make Up zwar nicht als marxistische Band an, aber ich denke, daß sich unser Hauptaugenmerk doch gegen den Individualismus richtet, gegen ein Einzelkämpfertum, das unsere Wirtschaft ebenso bestimmt wie unsere Kunst – und schließlich auch unsere Sexualität.

Davon wollen wir wegkommen und dagegen ist uns jedes Mittel recht. Oder, um deine Frage knapp zu beantworten: Die ganzen Szenen, auch die linken Szenen, leiden unter einem gestörten Verhältnis zur Sexualität und Sinnlichkeit. Sie sind Teil des konkurrierenden kapitalistischen Systems, sie haben verlernt, ihren Körper kollektiv zu verschwenden. Für fast alle ist der Körper nur noch Kapital, ein schwer gehütetes Kapital.“

Stücke wie „(Make Me A) Feeling Man“ können ja auch als ironisches Statement gegenüber den Geschlechterrrollen gelesen werden. Geht es Euch darum, die sozial festgelegten Rollen von Mann und Frau aufzubrechen?
Ian: „Darum geht es uns auch. Das ist notwendig, um von diesem kämpferischen Prinzip fortzukommen. Aber der Song, den du da ansprichst, dreht sich eher um etwas anderes. Unsere neue Platte hat eine Art durchgängiges Thema, bei dem es gar nicht mal so sehr um Sex geht, auch nicht um Geschlechterklischees und Sexismus. Unsere Songs sind vielmehr voller Anspielungen auf diesen Frankenstein-Traum, auf die Erzeugung eines neuen, künstlichen Menschen.

Wenn wir zum Beispiel das Wort ‚baby‘ benutzen – und das benutzen wir auf der Platte oft – bezieht sich das nicht auf diese rocktypische Verniedlichung der Frau, sondern auf richtige Babys, nämlich auf Babys, die alien-mäßig, genetisch, künstlich gewonnen wurden. Die ganze Alien-Idee ist total faszinierend! Es ist der Wunsch, eine Art künstlich geborene Menschheit zu schaffen, die nichts mehr mit diesem ganzen kämpferischen Individualismus am Hut hat, sondern die sich völlig selbstverständlich kollektiv verhält.“

Na ja, in erster Linie stellt Ihr Euch damit ja in eine ganz bestimmte Tradition der „Black Music“, in der Ihr ja auch musikalisch steht. Von Sun Ra bis George Clinton gibt es ja dieses ganz große, abgefahrene Konzept vom Musiker „Outa Space“. Einmal ganz abgesehen von den ganzen schwulen Glam- und Disco-Geschichten, die damit gespielt haben: Das künstlich erzeugte androgyne Wesen, wie es in der „Rocky Horror Picture Show“ vorkommt, so eine Art „Dorian Gray“-Version der siebziger Jahre…
Ian: „Du hast völlig recht, natürlich stehen wir in dieser Tradition. Es waren entweder Schwarze oder Homosexuelle, die diese Träume vom Alien oder vom Frankenstein durchgespielt haben, weil sie sich eine Metarmorphose der bestehenden Gesellschaft gewünscht haben. Aber wie kann man eine Gesellschaft umpolen, die über Jahrhunderte rassistisch und homophob gewesen ist? Das ist so schwer vorstellbar, daß man sich lieber in die Phantasie vom künstlich erzeugten neuen Menschen oder vom coolen, schwarzen oder schwulen Alien begibt, das mit dem Raumschiff auf die Erde kommt und die bescheuerte Menschheit umpolt, endlich auf cool und sexy umpolt. Diese ganzen Phantasien sind ja von Minderheiten, von Ausgestoßenen ausgegangen, weil sie sich angesichts der Allmacht des Kapitalismus gar keine andere Alternative mehr vorstellen konnten außer der, ihre Träume in eine Science-Fiction-Welt zu projizieren.“

Interessant, daß solche Debatten in Europa sehr belastet sind: Wer sich hier einen neuen, genetisch gegenüber was auch immer weniger anfälligen Menschen wünscht, sieht sich sehr schnell dem Vorwurf ausgesetzt, faschistische Euthanasie-Gedanken, zumindest einen biologischen Elitekult fortzuführen. Wahrscheinlich kommt es ja wirklich darauf an, wer solche Frankenstein-Phantasien, wie du es genannt hast, zu welchem Zweck entwickelt. Im einen Fall kann es ironisch und kritisch sein, im anderen bloß zynischer Sozialdarvinismus.
Ian: „Richtig. Wir sind sicher keine Zyniker. Wir stellen dem Publikum vielmehr die Frage, worauf sie denn, verdammt noch mal, immer noch warten wollen. Nachdem der Kommunismus weltweit zusammengebrochen ist, gibt es kaum mehr einen Menschen, der noch an irgendeine erlangbare soziale Veränderung glauben will. Deshalb stellen wir die These auf, mehr oder weniger rhetorisch: Wenn niemand mehr bereit ist, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen, bleibt nur noch die Hoffnung auf den geklonten besseren Menschen oder auf die Aliens, die uns retten können.

Letztlich ist das natürlich pure Ironie, um die Leute mit ihrer eigenen Passivität zu konfrontieren und ihnen klar zu machen, daß auf Frankenstein zu hoffen, nichts bringen wird: Die Mittel zur genetischen Veränderung des Erbmaterials liegen in den Händen der Kapitalisten. Abgesehen davon, daß nichts an diesem ganzen Gen-Spuk wirklich wünschenswert wäre, würden sie sowieso daran arbeiten, alles, was Minderheit ist, was gegen ihre Norm verstößt, zu eliminieren.“

Einst wurdet Ihr in einem Punk/Hardcore-Kontext wahrgenommen, habt Euch davon aber musikalisch verabschiedet. Liegt das daran, daß Punk Euch als Musik oder als Szene zu eintönig geworden ist?
Ian: „Also, ehrlich gesagt hatten wir uns dieser Szene nie zugehörig gefühlt. Wir haben nie von uns behauptet, Punk oder Hardcore zu spielen. Okay, unsere Musik war immer mal wieder ganz schön kraftvoll, vor allem vor Make Up, da hatten wir Einflüsse wie MC 5 und die Stooges, also altes Zeug, Noise-Rock, nicht unbedingt Hardcore. Aber uns ging es immer schon darum, solche Musik mit Free Jazz-Elementen, mit experimentellen Dingen zu verknüpfen.

Wenn eine Musik der Form nach revolutionär sein will, dann darf sie keinen strikten Parametern angehören. Und Punk oder Hardcore haben strikte, konservative und öde Parameter. Diese Musik ist abgehangen und veraltet. Es ist eine Form, in der den Musikern ganz genau vorgeschrieben ist, was sie zu tun haben und was nicht. Außerdem ist die Musik asexuell. Gibt es denn etwas, was weniger Sex ausstrahlt als eine Hardcore-Band voller glatzköpfiger, brüllender Typen?“

Aber Punk hatte am Anfang sehr viel Sexieness. Immerhin hieß Malcom McLarrens Laden, von dem alles Ausging „Sex Shop“.
Ian: „Nein, das war nicht wirklich sexy. Das war vulgär. Das war eigentlich eine Art Rebellion gegen alles, was mit Sex zu tun hat, eine irrsinnige, vulgäre Übertreibung von Sex.“

Du hast Dich gegen das Kunstverständnis Amerikas ausgesprochen, gegen den Künstlertypus, den die USA hervorgebracht haben. Aber ganz gleich, auf wen Du Dich berufst: Make Up steht selbst in einer sehr amerikanischen Tradition.
Ian: „Ich muß vielleicht noch etwas genauer erklären, was ich meinte. Also, Amerika hat, wie gesagt, die Welt nach dem zweiten Weltkrieg nach seinen Vorgaben erzogen, antikommunistisch. Das CIA hat den Abstrakten Expressionismus finanziert und unterstützt, den Jazz, die Beat Poeten und den Rock’n’Roll. In Europa wurden all diese neuen Strömungen aus den USA als große neue Stimme der Freiheit wahrgenommen, in Wirklichkeit war es jedoch eine Propagandamaschine des CIA, um Europa gegen den Kommunismus einzunehmen.

Jackson Pollock wurde ganz klar in seiner Karriere als Bildender Künstler vom CIA gepuscht. Und Jackson Pollock entspricht ja auch ganz dem American Way Of Life eines Künstlers: Ein egoistischer Macho, destruktiv, ein Alkoholiker, der früh gestorben ist. Eine ähnliche Karriere wie James Dean. Und der ganze Rock’n’Roll funktioniert ja genauso: Er ist das Dikat, Macho und möglichst cool, also gefühllos und oberflächlich zu sein.

Ich will nicht sagen, daß die Kunst, die in der Sowietunion geschaffen wurde, dem gegenüber besonders toll war. Aber sie strebte wenigstens dem Gedanken nach Kollektivität an.
Okay, nun zu uns. Ich muß gestehen, daß ich Jazz und Rock’n’Roll ja mag, obwohl ich es zugleich als US-Propaganda ablehne. Wie kann ich damit umgehen? Ich versuche, an diese Kultur, in die ich nun einmal hineingeboren wurde, anders heranzugehen. Es ist Make Up wirklich daran gelegen, alle Macho-Attitude aus unserer Musik herauszuhalten und es ist uns wichtig, kollektiv zu arbeiten. Kollektiv als Band, kollektiv im Studio und kollektiv auch im Zusammenhang mit dem Publikum.“

Der Kollektiv-Gedanke ist sicher enorm wichtig. Ihr seid ja nicht die ersten, auch bei Crass war das ein entscheidender Teil der Band-Philosophie. Aber Kollektive lassen sich nicht von außen regeln und bestimmen, wie das zum Beispiel in der UDSSR der Fall war.
Ian: „Dann nimm ein anderes Beispiel, dann nimm die Kunst vor dem Zweiten Weltkrieg: Dadaismus, Futurismus, Surrealismus. All das war eine kollektive Kultur, die sich über Manifeste ausdrückte und die eine Veränderung der Gesellschaft zum Ziel hatte, auch wenn das bei einigen Futuristen leider sehr schnell in eine beschissen rechte Richtung ging. Aber der Tendenz nach waren die Avantgarden, bevor die Nazis kamen, entschieden kollektiv. Nach dem Krieg dagegen hat es zumindest im Westen keine kollektive Gruppe mehr gegeben, die je so einflußreich war wie die Bewegungen vor dem Krieg. Und das lag daran, daß die USA nach dem Krieg mit ihrem individualistischen Kämpfertypus von Künstler das westliche Kunstsystem bestimmte.“

Was Du über das CIA in den Fünfzigern sagst, ist ja historisch belegt. Aber es wäre doch übertrieben, zu behaupten, daß die USA wirklich alles, was an Kultur geschaffen wird, als großes Freiheitsprinzip in die Welt schickt. Es gibt ja bestimmte, explizite Formen von politischem Hip Hop, an der die Regierenden gar kein Interesse haben können.
Ian: „Das ist richtig. Obwohl sie es geschafft haben, Hip Hop als Bewegung für sich einzunehmen und auch als Garantie für ihre Toleranz und Freiheitsliebe auszuschlachten. Aber natürlich – ich habe Respekt vor allen Hip Hop-Künstlern, die sich aufgrund ihrer inhaltlichen Radikalität nicht vereinnahmen lassen. Ich finde Rap sowieso sehr faszinierend, weil es die Rückkehr der Dichtung gewesen ist. Es ist vielleicht sogar das erste Mal, daß Dichtung in der Popmusik eine Rolle gespielt hat, daß der Text und die Botschaft wichtig gewesen sind. Wann war das denn im Rock je der Fall? Mal abgesehen von Bob Dylan war Text doch fast immer nur Füllmaterial, absolute Nebensache.“

Wie groß ist der Einfluß von Bands wie Gang Of Four, The Pop Group oder Jamce Chance & The Contortions für Euch? Bands, die vor zwanzig Jahren schon einmal als weiße Musiker Funk benutzten, um damit politische Botschaften oder zumindest eine Protesthaltung rüberzubringen? Ist das nicht ein ähnlicher Ansatz gewesen?
Ian: „Definitiv! Wir lieben diese Gruppen! Verdammt, in der Zeit damals ist so viel passiert. Zwischen den ausgehenden Siebzigern und den beginnenden Achtzigern ist der Rock’n’Roll wahrscheinlich in seine kreativste und radikalste Phase eingetreten. Da gab es dann ja auch noch so Sachen wie Birthday Party… eine verdammt große Zeit. Warum war sie bloß so kurz?“

Vielleicht, weil die Musik zu negativ und radikal war, um lange Bestand zu haben. Gegenüber einer Band wie The Pop Group klingen heute ja auch Make Up eher gemäßigt und gefällig.
Ian: „Nein, das sehe ich nicht so. Was heißt negativ und radikal? All diese Gruppen hatten sehr viel Ironie, sehr viel Humor. Das war nicht einfach nur Destruktion und Verzweiflung. In seinen besten Formen ist Rock’n’Roll zugleich ernst und humorvoll. Wenn er nur eines von beidem ist, wird er lächerlich und stumpf. Bob Dylan, die Beatles und James Brown hatten beides: Ernst und Humor. Es ist ein ganz großer Fehler, den fast alle in unserer Gesellschaft machen, Ernst und Humor als Gegensatz zu denken und zu glauben, eine Sache könne immer nur eines sein. Große Kunst entsteht immer erst dann, wenn sie zugleich beides ist.“

Interview: Martin Büsser
Photos: Yvonne Weiß

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