August 20th, 2018

PUNK 2000. Eine Nestbeschmutzung (#73, 1998)

Posted in artikel by Jan

Ich gehöre nicht zu den regelmäßigen TRUST-Autoren, die hier Bands interviewen und damit den „spirit“ einer Bewegung am Leben erhalten. Nicht zuletzt, weil sich mir die Frage stellt, welche Bewegung dies denn noch sein sollte. Freilich ist es mög­lich, im TRUST mit treuer Regelmäßigkeit bis ins Jahr 2020 den stets gleichen Kanon von Bands zu featuren und auf jede kommende NOMEANSNO-Platte ein weiteres fünfseitiges NOMEANSNO-Inter­view im Heft unterzubringen.

Jedoch: Über NOMEANSNO war bereits 1988 alles gesagt worden, zu einer Zeit, als die Band tatsächlich musi­kalisch relevant gewesen ist. Musikalisch wie auch in Interviews hat diese Band (die ich hier wirklich nur als exemplarisches Beispiel neh­men will, ganz im Wissen darüber, daß es noch immer sehr liebe Typen sind) seit ihrer letzten wirklich großartigen und zeitgemäßen Veröffentli­chung, nämlich „Wrong“, nichts mehr hinzufügen können. Reine Nostalgie (bzw. sektiererischer Kleinfamilien-Geist) scheint diese Band und ihre Fans noch zusammenzuhalten (denn „am Leben“ möchte man in diesem Fall so wenig sagen wie bezüglich der ROLLING STONES).

Solche harten Worte, gemünzt auf eine beharrliche Rock-Nostalgie, in der Menschen eine Phase ihrer Jugend beweinen bzw. zu konservieren versuchen, ließen sich gegenüber beinahe sämtlichen Punk/Hardcore-Heroen fällen, die noch immer beharrlich so tun, als seien die Uhren auf 1976 bzw. auf 1986 stehen geblieben. Sogar so ein sympathischer, hellköpfiger Mensch wie Jello Biafra geht mir mit seiner rockistisch vorgestrigen LARD-Veröffentlichung auf die Nerven. (Einmal abgesehen, daß Biafra mit seinen politischen Arbeiten, etwa dem Spoken Words-Programm, nach wie vor sehr wichtige Dinge leistet, für die ich ihn auf keinem Fall kritisieren möchte).

Einige töten vor allem durch ihre Beharrlichkeit nachträglich den eigenen, einmal erworbenen Ruf: Hätten Campino, Biafra, Ian McKaye und die Wright-Brüder doch besser zum richtigen Zeitpunkt aufgehört! Sie wären als Helden in die Geschichte eingegangen.

Aufgehört, oder doch zumindest die Strategie gewechselt.

Größe besteht darin, denke ich, an einer einmal losgelösten Explosion nicht dauerhaft festzuhalten (und sie so nach­träglich selbst fade werden zu lassen), sondern zu akzeptieren, daß jede Explosion einmal verhallt (auf daß andere kommen und neue Explosio­nen lostreten). Insofern war es Größe, als Johnny Lydon nach den SEX PISTOLS mit PIL musikalisch in einer ganz anderen Liga begann, die Strategie also gewechselt hatte. Und es war Größe, als Malcolm McLarren nach dem PISTOLS-Management mit Scratching, Opern-Pop und vielem hervorragenden Unsinn mehr, seinen „Swindle“ strategisch auf ganz andere Bereiche übertrug.

Der treuherzige, mit dicken Dread­locks ausgestattete HC-Fan mag nun intervenieren, daß Lydon und McLarren doch stets nur „Major“-Figuren gewesen sind, die Trends gerochen, ausgeschlachtet und von ihnen profitiert haben. Korrupt gegenüber jener beharrlichen „Indie“-Haltung, mit der NOMEANSNO und FUGAZI bis heute den sogenannten Hardcore-Geist am Leben erhalten, einen Geist, der über kommerziellen Teenie-Gruppen wie DOG EAT DOG schon schlimm genug in Verruf gekommen ist.

Ich sehe das anders. Ich sehe es anders, weil mir der Major/Indie-Gegensatz längst nicht mehr einleuchtet. Er paßt längst nicht mehr in die Neun­ziger, in ein Jahrzehnt, wo eine Band wie SUPERTRAMP über den EfA-Vertrieb läuft (weil SUPERTRAMP heute de facto den Status eine Nischen- bzw. „Indie“-Band haben), die BACK STREET BOYS über „Rough Trade“ laufen (weil „Rough Trade“ dies finanziell benötigen, um auf der anderen Seite auch noch weniger Verkäufliches rausbringen zu können)… genau betrachtet hat der Gegensatz eigentlich nie 100%ig hingehauen: Die SEX PISTOLS, ohne die Punk in seiner ganzen Trag­weite auf zumindest mein Leben nie stattgefunden hätte, waren auch einmal kurz auf Emi, genau dem Label, auf dem sich jene PINK FLOYD befanden, denen Johnny Rotten verdankte, zum Sänger der PISTOLS zu werden – weil Malcolm McLarren sein „I hate Pink Floyd“-T-Shirt so cool fand.

Jede Pop-Rebellion hat sehr viel mit Coolness und mit Strategie zu tun. Um cool zu bleiben, muß die Strategie allerdings ab und an gewechselt werden. Im Punk und Hardcore haben das viele verpennt. Sie haben es so verpennt, wie die ROLLING STONES jegliche Veränderung verpennt haben und also absolut kein bißchen cool sind, sondern nur scheißkonservative, faltige Säcke.

Wer unter die Gürtellinie geht und über Falten herzieht, kann man mir nun vorwerfen, ist selbst Rockist, der immer nur auf die wilde Jugend abonniert sein möchte.

Falsch: Nicht, daß die STONES Falten haben, ist mir ein Greuel, sondern daß sie mit ihnen kokettieren, indem sie tun, als wäre der faltige Rock noch immer wild rebellisch. Nicht das Altern ist abstoßend, sondern im Gegenteil die hier vorgetragene Ignoranz des Alterns.

Wer strategisch dagegen ständig die Schaltpläne tauscht, wer nicht irgendwelchen Momenten in der Vergangenheit „auf immer treu“ nachhängt, kann sehr wohl sehr cool altern. (Positives Beispiel: Die ständige Bereitschaft zur Veränderung bei den GOLDENEN ZITRONEN. Ihr „für immer Punk“ haben sie tatsächlich eingelöst, indem sie bis heute mit Punk-Attitude politisch und sperrig sind, sich aber nie nostalgisch an einem Stil fest­gebissen haben. Ich schreibe dies, obwohl mir die aktuelle ZITRONEN-Veröffentlichung gar nicht so gut gefällt; allerdings: von ihrer Haltung her wird diese Band stets meine Unterstützung haben).

Zu einem gewissen Zeitpunkt war Hardcore musikalisch sehr wichtig. Und er war wichtig als Haltung, als eine Art Fundamentalpolitik gegen das Busi­ness, seinerzeit ins Leben gerufen von CRASS, meiner Meinung noch immer die erste und damit eigentliche Hardcore-Band, an der bereits alle Diskussionen verhandelt wurden, die bis in die Neunziger hinein immer wieder die Fanzines überschwemmt haben. Hardcore ist ab dem Moment nicht mehr wichtig gewesen, ja indiskutabel, als er zum bloßen Konservator eines Stils und einer Idee geworden ist.

Im Pop sind anti­kapitalistische Statements, Anti-business-Bewegungen ja stets strategi­scher Art: Sie schaffen den Kapitalismus nicht ab, sie sorgen im besten Fall nur dafür, im richtigen Moment einer wuterfüllten Generation den richtigen Ort zu stellen, an dem diese Wut abgelassen werden kann. Was darüber hinausgeht, nämlich die Bewahrung und Verwaltung dieser Wut, ist im Politischen regressiv und im Ästhetischen peinlich. Nachzuhören z.B. bei dem, was aus DEVO oder PERE UBU nach glanzvoller Frühzeit geworden ist, nachzuhören in der Entwicklung von Henry Rollins, Danzig und Bob Mould. (Nein, ich verschone – fast – keinen. Und auch die neue RESIDENTS ist nur ein Zeichen dafür, wie einst radikale Modelle versteinern können).

Nur Bands, die von Anfang an reine Style-Produkte gewesen sind, ein reines Kunstprodukt ohne jeglichen tieferen rebellischen Gehalt, wie z.B. die RAMONES und MOTÖRHEAD, können sich eine dauernde Wiederholung ohne Pein­lichkeit erlauben.

Ich erwarte von der Musik/den Musikern nicht dauern­de Innovation, nicht ständige Überraschung. Das zu verlangen wäre im Grunde höchst bürgerlicher Kadavergehorsam, im Künst­ler/Musiker den Avantgardisten und Prophten zu sehen, dem nur die Aufgabe zukäme, mit stets neuen, überraschenden Tricks und Kniffen Wege zu finden, uns diese Gesellschaft als die noch immer spannendste oder zumindest unterhaltsame zu verkaufen.

Eher erwarte ich das beinahe Unmögliche: Die bewußte Auflösung jeglicher Zuverlässigkeit. Zuverlässigkeit nämlich heißt Einbettung, einen bequemen Ort finden. Und Subkulturen, sei es Punk/Hardcore, sei es die Metal-Szene, die Hip Hop-Szene und am schlimmsten noch die längst politisch rechtslastige Gothic-Szene, liefern fast ausschließlich nichts weiter mehr als Orte der Einbettung. Sie sind kulturelle Krankenhäuser geworden, je nach Wunsch auf Einzel- oder Gruppenzimmer abonniert. Bedient wird da stets nur noch, den absterbenden Körper am Leben zu halten: Be­wahrung der Form.

Nein, ich habe keine Lust mehr, auf eines dieser Konzerte zu gehen. Keine Lust, mir meine einst wilde Jugend zu simu­lieren und so wieder einmal nachträglich mir bestätigen zu lassen, daß es einmal die richtige Entscheidung gewesen ist, WIRE statt BARCLAY JAMES HARVEST, BLACK FLAG statt CULTURE CLUB gehört zu haben. Jede Entscheidung von damals stimmt nämlich so, wie sie damals gefällt wurde, heute nicht mehr. So wie BARCLAY JAMES HARVEST einen einmal geradezu zu WIRE getrieben haben, weil B.J.H. der Abschaum dessen gewesen sind, was mit Gruppen wie JEFFERSON AIRPLANE einmal cool begann, treibt mich heute NOMEANSNO (die ich einmal inbrünstig liebte) zu DJ Jeff Mills, der sich zu NOMEANSNO nämlich ähnlich verhält wie WIRE sich einst zu BARCLAY JAMES HARVEST verhalten haben.

Nur noch Puristen wie Steve Albini (aka SHELLAC) schaffen es, sich der Peinlichkeit zu entziehen, indem sie sich zurückziehen, keiner realen Subkultur mehr angehören, sondern nur noch eine Idee ähnlich manisch durchziehen wie Schönberg seiner­zeit die Zwölftonmusik oder SUN RA sein außerirdisches Programm.

Allen anderen von damals, die nun peinlich geworden sind, kann man nur danken, endlich aufgehört zu haben (z.B. den SWANS), den Rest muß man bedauern (z.B. THE FALL). Einzige Ausnahme (obwohl sie mich auch nicht mehr so richtig interessieren): SONIC YOUTH. Die sind schon immer eine Kunstband gewesen, so `ne Art nichtauthentisches Art School-Projekt, das deshalb auch in der Wiederholung nie richtig pein­lich werden kann, weil es auch noch nie beansprucht hat, Teil eines subkulturellen Umsturzes gewesen zu sein.

Pessimist!“, höre ich nun vorwurfsvolle Stimmen rufen.. „Einer, der sagt, daß in den ausgehenden Neunzigern nichts mehr geht.“

Stimmt nicht, das nämlich habe ich gar nicht gesagt. Ich habe nur behauptet, daß die einmal subkulturell notwendigen Strategien, die z.B. mit Punk, Hardcore (und Hip Hop, das wäre aber jetzt ein ganz anderes Thema) gefahren wurden, sich durch ständige Wiederholung und Selbstbewahrung (an der ein Fanzine wie TRUST teilnimmt) in uncool peinliche Nischen befördert haben, die aus einst rebellischen Gesten durch Konservierung ein Bauern- und Mund­art-Theater gemacht haben. Musealisierte Folklore statt Aufbruch und Unberechenbarkeit.

Wenn Subkulturen der Spiegel der Gesellschaft sein sollten, so erleben wir nach sechzehn Jahren Kohl nur deren Unbeweg­lichkeit, die längst allem innewohnt: Durch 1989 nur noch beflügelt, ist alles zum utopie- und kampflos saturierten Festhalten am einmal geschaffenen Stil geworden. Auf immer brav und mit dem Kapitalismus endgültig einverstanden, wird die Frage danach, ob jemand lieber House, Hip Hop oder Hardcore hört, eine Wahl zwischen inhaltlich völlig egal gewordenen Schemen der Identifikation. Und selbst die vielbeschworene Offenheit der Ninetees, problemlos zwischen Punk, Jazz, Klassik, Rap und Volksmusik wählen, also zappen zu können, meint nichts anderes als eine identitätsstiftende Selbstdefinierung über Verschiedenheit.

Seit alle subkulturellen Stile – von Punk bis Free Jazz – nicht nur toleriert, sondern kulturalisiert, subventioniert und streng katalogisiert sind, ist der Akt einer freien Wahl zur Farce geworden: ob ich mich heute für Punk (den es noch immer gibt, obwohl es ihn seit 1979 eigentlich aus guten Gründen nicht mehr geben dürfte) oder für Technohouse entscheide, ist nicht mehr Bekenntnis, sondern modische Willkür geworden. Ist nicht mehr wie einst, als es den schönen Feind Kapitalismus noch gab, eine Entscheidung für RAF oder für Helmut Schmidt, sondern ist heute nur noch eine Entscheidung für CDU oder SPD, für Lederjacke oder Cord.

Jede Behauptung, diese oder jene subkulturelle Szene sei ehrlicher, besser oder gar revolutionärer, führt heute in die reine Heuchelei, da es keine wirklich lebendige Subkultur mehr gibt – zumindest im Pop nicht. Eher in der S/M-Szene, unter Kinderfickern und in religiösen Kleingruppen. Trotzdem interessant, dieses bittere Fazit ziehen zu müssen: Nachdem der Kapitalismus all die einmal hoffnungsträchtig antikapitalistischen Subkulturen, von den Hippies bis zu den Punks, von den Black Panthers bis zur RAF, ent­weder vereinnahmt hat oder sie hat kapitulieren lassen, leben wir in einer wirklich grauenvollen Epoche, in der Subkulturen sich nur noch aus (noch nicht salonfähigen) Faschisten, Kinderporno-Vertreibern und religiösen Fanatikern rekrutieren.

Über Techno, Punk, Hardcore und Rap wissen Kohl, Schröder und deren Vertreter in den kommunalen Jugend­zentren dagegen zu berichten: „Toll, daß es euch gibt. Innovative Ju­gend, die ihren Stil findet. Kritische Jugend, die auf ihr Recht nach Selbstbestimmung und Ausdruck pocht.“

Löcher in der Hose oder eine total schwuchtelmäßige 70er-Skijacke vom Flohmarkt sind prächtige Statements von Selbstbewußtsein und Fitness. Ende der Neunziger müssen Politik, Polizei und Wirtschaft längst nicht mehr den wild szenemäßigen Jugendlichen befürchten, auch nicht fürchten oder be­kämpfen, wenn da mal gekifft wird oder XTC geschluckt – sie müßten sogar eher Angst haben vor dem, der keine dieser Positionierungen akzeptiert.

Darum, um auf den Ausgangspunkt dieses Textes zurück­zukommen: Mehr Strategie. Genauer: Überhaupt mal wieder, statt sich satt im Nest einzurichten, daran denken, daß Pop nur im Wechsel von Strategien funktionieren kann. Wer sich berechenbar macht, landet in dem Museum, in dem ausgestellt zu sein er dann auch verdient hat.

Manchmal ist das freilich nur Pech. Häufig landen nämlich genau jene Momente im Museum, die sich am radikalsten gegen eine Musealisie­rung gesträubt haben. In der Wiener Kunsthalle war in diesem Sommer eine Videoinstallation von Dan Graham zu sehen, die ein MINOR THREAT-Konzert zeigte.

MINOR THREAT nun als hohe Kunst für das Kunsthallen-Publikum? Nein, andersherum: Dan Graham, der dieses geile Konzert ins Museum brachte, Aufnahmen, die auch noch im Museum brutal lebendig wirken, weiß um den Schock, den diese Band einmal ausgelöst hat, weiß um die Radikalität dieser Band. Sogar noch auf Video im Museum sind MINOR THREAT zu radikal, um ver­bürgerlicht werden zu können. Nichts anderes, schätze ich, wollte Dan Graham auch vermitteln.

Ganz dialektisch gesagt: Wenn Subkulturen sich gegen eine Musealisierung behaupten, wenn sie tatsächlich leben­dig ein Dagegen formulieren, landen sie naturgemäß im Museum, da unser Kunstbetrieb für solche Äußerungen sehr sensibel ist und deren ästhetische Qualität sofort erkennt. (Bestes Beispiel: VELVET UNDERGROUND – von Anfang eine Museumsband, eine Kunstband, ein von Andy Warhol hochgezogenes Produkt… und zugleich doch radikaler als der damalige kunstferne Pop, radikaler als Donovan, PINK FLOYD oder THE MAMAS & THE PAPAS).

Jedoch: Eine strategi­sche Band, die Provokation künstlerisch zu inszenieren wußte. Anders dagegen die Musealisierung, die nichts mit dem Art-Publikum von VELVET UNDERGROUND bis SONIC YOUTH zu tun hat, die Museali­sierung, die nicht in die Galerien, sondern in Heimat- und Volkskunde­museum führt; eine Musealisierung durch Unfähigkeit, strategische Ästhetik zu betreiben. FUGAZI oder NOMEANSNO sind da für Hardcore wie GOETHES ERBEN für Gothic Beispiele einer strategisch irrelevant gewordenen Splittergruppe, deren harmloser Nostalgiewert als kultureller Treppenwitz in zwanzig Jahren kaum mehr eine Fußnote wert sein wird.

So lange keiner mehr wie König Rotten kommt; so lange keine musikalischen Erschütterungen mehr durchs Land gehen; so lange behäbig nur noch Plattensammlungen damit aufgefrischt werden, daß eine neu erworbene FLIPPER-Single von 1984 die authentischere Jugend nachträglich am Leben zu erhalten weiß; so lange auch Techno nur ganz wenige radikale (und auch politisch motivierte) Puristen wie Jeff Mills hat, auf die diese Bewegung ihre revolutionäre Kraft festzuschreiben versteht – so lange behalte ich es mir vor, einen lebendigen Under­ground für tot zu erkären.

Pop müßte sich in den ausgehenden Neunzigern auf einen ganz neuen, ganz anderen Kapitalismus ein­stellen. Weder der haßerfüllte, authentische Gitarrenmann noch der futuristische Keyboard-Geräuschler sind dem bislang gewachsen. In einer Zeit, die eine nicht-ideologische Kritik benötigt, eine Kritik, wie sie sich weder auf „Bullenschweine“ noch auf „Kill the Poor“ beschränken läßt, sondern die einen Antikapitalismus anbieten müßte, der auf Identitätsbildung und einheiltich durchsetzbare Utopie verzichtet – eine solche Zeit überfordert den Pop, scheint es mir.

Aber: Wir müssen auf der Suche bleiben. Wir müssen raus aus der Familie. Neue Verträge eingehen. Wir sollten den Mut haben, uns einzugestehen, daß Punk und Hardcore als historische Größen wichtig waren, wie sie heute nur noch lächerlich wirken können. Ich selbst habe zwar keine Alternative bereit (außer der, daß es noch viele andere, verdammt spannende Musiken gibt), denke aber, daß Punk und Hardcore stärker denn je für ihre einmal inhaltliche Radikalität betrachtet werden müßten. Stilistisch haben sie ausgedient. Nun gilt es höchstens noch, nachkommenden Generationen etwas von den Inhalten zu vermitteln. Es wäre allerdings mehr als nur lächerlich, einen 14jährigen von „der Sache“ überzeugen zu wollen, indem man ihn heute auf ein BAD RELIGION- oder MISFITS-Konzert mitschleppt. Da kommt mir wieder nur der ROLLING STONES-Vergleich in den Sinn. Der Ort, wo am Ende Chefs mit ihren Sekretärinnen, Lehrer mit ihren Schülern gemeinsam einmal den „grauen Alltag“ vergessen. MISFITS oder Mick Jagger – die Frage nach Kohl oder Schröder.

Ich erlaube mir den kleinen Nachtrag, daß mir die meisten Leute, die an der HC-Szene mitgewirkt haben, noch immer häufig die sympathischeren Menschen sind. Deswegen gehe ich ab und zu auch noch einmal auf solche Großvater-Konzerte: Man trifft viele bekannte Gesichter, freut sich, trinkt… und merkt bei so manchem Gespräch, daß viele von den anderen auch noch ganz gut drauf sind. Konzerte sind da häufig nur der Anlaß, solche alten Freund- und Bekanntschaften nicht rosten zu lassen. Das war vor Jahren einmal anders: Zu einer Zeit, als diese Freundschaften entstanden sind, waren es die Bombenkonzerte deretwegen man abends die Wohnung verlassen hat.

Wie auch immer. Ich schalte jetzt mal die BUZZCOCKS ein in der Hoffnung, daß mir dann beim Mittagsschlaf wohlig nostalgische Träume kommen.

Text: Martin Büsser

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