April 14th, 2020

NOEM aus #154, 2012

Posted in interview by Jan

Noem Interview

Einleitungen sollten kurz sein und Bands, deren ganzes Album wie ein Intro klingt, dürfen nicht theorisiert werden. Hier soll der Hinweis auf den Zeitpunkt ausreichen. Es war in der Ära als Atomkraftwerke explodierten.

Wie ich das so mitbekommen habe, fing euer schleppender Sound schon mit schleppenden Proben an.
Der Prozess dauert bei uns sehr lange und ist mit viel Akribie verbunden. Wir nennen das Zerbauungsprozess. Man erfindet die Musik, nimmt sie wieder auseinander und setzt sie neu zusammen. Von einem Anfangsriff ausgehend wird solange getüftelt und verschoben, bis am Ende ein Konstrukt von verwirrender Schönheit erschaffen ist – bis wir Liebe zum Erschafften spüren. Jeglich anderes Vorgehen wäre falsch!

Ein organisches Wachstum der Melodie?
Der Hörer soll nicht sofort nach dem ersten Refrain erahnen wie der Song weitergeht. Deswegen dieser Zerbauungsprozess. Also muss das Songwriting vielmehr als eine anorganische Zerstörung begriffen werden!

Der Song I Feed You auf der 12“ beginnt mit dem schweren Basslauf und lässt den Hörer ein Gewitter erwarten. Das kommt, aber erst sehr viel später im Song. Gewollte Zerstäubung von Hörerwartungen?
Wo Jemandem ein bestimmtes Riff gefällt, kann der Andere mit dem gesamten Song nichts anfangen. Das kann ich auch verstehen. Vertrackte und sperrige Musik entspricht nicht unbedingt dem gewohnten Hörverständnis. Eine Auseinandersetzung mit dieser sollte trotzdem stattfinden.

Ihr habt Hardcore-Bands gehabt oder spielt noch in welchen den klassischen 80er Jahre US-Sound. Wann kommt der Punkt, an dem man anfängt Lieder zu erfinden, wie ihr sie mit Noem macht?
Für mich fällt unsere Musik unter den Begriff Hardcore. Wir machen extreme Musik, obwohl ich gar keine Kategorisierung reinbringen möchte. Ich kann wohl für uns alle vier sprechen, wenn ich sage, dass Jeder in seinen alten Bands irgendwann das Gefühl hatte, etwas einseitige Musik zu machen. Wir selbst wollten gerne eine Veränderung. Die Entwicklung der eigenen Hörgewohnheiten ist stetig. So auch der Drang etwas zu machen, was einem selbst Neu erscheint. Das es dies nicht ist und keine neuen Meilensteine gesetzt werden steht leider außer Frage.

Nach 100 Shows gesehen und 200 Platten kommt der Moment, an dem man denkt: Jetzt kenne ich ungefähr die Eckpfeiler und ein paar Meilensteine meiner Lieblingsmusik. Jetzt gucke ich mal einen Wald weiter. Eine normale Entwicklung, wenn man sich Musikgeschichte oder Freundeskreis anschaut.
Ich weiß schon was du sagen willst, aber ist das noch kommentierenswert? Ich würde halt auch nicht sagen, dass das Gelände, also Hardcore, vollständig verlassenswert ist. Trotzdem ist es tatsächlich oft langweilig sich dort aufzuhalten.

Und man entwickelt ja auch Fähigkeiten heraus, die man gerne anwenden würde.
Genau! Das ist eine gute Ausgangsposition als Band. Alle spielen ihre Instrumente schon recht lange. Man weiß bestimmte Effekte zu erzielen und gleichzeitig auch zu sabotieren. Wir haben uns aber auch nie darauf geeinigt, was wir jetzt genau für Musik machen wollen. Natürlich haben wir uns auf eine Richtung geeinigt und über Bands gesprochen, die wir gut finden. Sicher wird der Kenner unsere Einflüsse auch raushören, aber wir entwickeln uns ja auch weiter. Schließlich dreht sich die Welt um uns.

Sympathisch finde ich eure vehemente, sicherlich bewusste Einschränkung der Onlinepräsenz und Konzerten. Ihr spielt selten live, habt die Musik lange reifen lassen, bis es überhaupt dazu kam und im Internet findet man neben eurem sparsam aktualisierten Blog (1) auch keine Eigenwerbung. Manche (zum Beispiel Nutzer des Mafia-Forums (2)) teilten euch dem Sub-Subgenre „Mysterious-Guy-Hardcore“ zu, dessen Vermarktung das Label Youth Attack (3) ja perfektioniert hat.
Wir haben uns nicht bewusst hinterm Berg gehalten. Erst haben wir mit unserem ersten Gitarristen Emanuel sehr lange geprobt. Der ist aber nach Amsterdam gezogen und Holger kam dazu. Bis auf zwei Songs haben wir wieder alles über Bord geworfen. Dann hat es wieder lange gedauert, bis wir genug Material hatten, um uns auf die Bühne zu wagen, was dann in einem Zug mit unserer 12“, die auf Static Age Musik aus Berlin rausgekommen ist, geschehen ist. Im Anschluss erschien recht schnell unsere LP „Panzer“ auf This Charming Man Records aus Münster. Faulheit kann man uns also nicht unterstellen, aber wir wollten zum einen keine halbgaren Sachen auffahren, und sind zum anderen auch diesem Schaffensprozess verfallen.

Auch einer Öffentlichkeit verweigern wir uns nicht. Wir sind ja eine Band, die auftritt und dadurch auch greifbar wird. Die Frage nach unserer Mysteriösität und unserer Genrezugehörigkeit scheinen nur Allwissende zu stellen, die sie sich logischerweise auch selbst beantworten – alle anderen können mühelos auf unserem Blog an alle relevanten Infos gelangen.

Da kann man jetzt auch wieder den Bogen zur „Szene“ zurückspannen. Hardcore-Konzerte als musikalische Veranstaltung. Gestern habe ich Clocked Out (4) und Pyramido (5) gesehen. Erstere war eine junge englische Band, die losballert und Pyramido bestand aus gesetzten Herren, die ihre Rückkopplung bis in die Ewigkeit rauschen ließen. Dem standardisierten Punk/Hardcore-Event kann ich als Musikveranstaltung hingegen immer weniger abgewinnen.
Ich sehe das anders. Wenn eine Band überzeugend stumpfe Musik spielen kann, erzeugt das eine wahnsinnige Gänsehaut in mir. Ich habe letzten Winter Urban Blight (6) gesehen. Selten habe ich erlebt, wie soviel Aggression in Musik transportiert werden kann. Natürlich wirkt das standardisiert, aber gibt es etwas intensiveres als eine Hardcore-Show? Eine funktionierende Mischung aus harter Musik und jungen Menschen. Und hinterher hat man viel zu reden.

Und viel zu kaufen.
Ja, und sehr viel zu kaufen.

Modern Pets (7) sind schließlich fast einen Monat durch Europa getourt, um ihre Produkte an den Mann zu bringen. Wollt ihr mit dem Album touren?
Im Moment spielen wir ausgesuchte Konzerte, was daran liegt, dass sich nicht so viele Leute für uns interessieren. Wenn das richtige Angebot kommt, dann werden wir versuchen unsere vier unterschiedlichen Leben irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Wir bekommen auch oft genug zu hören, dass wir zu wenig Konzerte spielen, aber es ist tatsächlich sehr schwer für uns dafür Termine zu finden. Zwei von uns sind mitten im Studienabschluss, einer geht arbeiten und Christoph ist dabei seine Selbständigkeit aufzubauen. Dem ist es vielleicht auch geschuldet, dass wir so lange gebraucht haben, bis wir uns so richtig zu einer Band geformt haben.

Da fällt mir doch gleich die klassische Frage ein, was denn euer Traumkonzert mit Noem wäre. Also wo und mit wem und unter welchen Vorrausetzungen?
Mit den Melvins (8) im Theater.

Würdet ihr mit Noem mal in der Philarmonie spielen?
Ich war neulich in der Berliner Philarmonie (9). Zugegebenermaßen kenne ich mich auch nicht mit klassischer Musik aus, aber mir gefällt der Gedanke, dass ein Komponist Musik verschriftlicht und ein Orchester von 70 Leuten kann es dann an einem ganz anderen Ort in einer ganz anderen Zeit einfach nachspielen. Und Dirigent und Erste Geige sind die Bosse. Außerdem hat mal ein weiser Mann gesagt: „Klassik ist der wahre Black Metal“. Aber mal im Ernst: Ein Traumladen wäre sicherlich das Berghain. Der Laden mit dem besten Sound: Man wird weggeknallt von der Intensität der Sache. Wir trauen uns das zwar nicht zu, würden es aber trotzdem machen. Aber: Respekt ist groß, Respekt ist sehr groß.

Respekt an euch. Danke für das Interview.

Text/Interview: Arne Harwig

Fussnoten:

1. http://noemnoem.blogspot,com

2. Poisonfree.com für Biertrinker.

3. Wenn Tonträger voller Krach aus Proberäumen der Vereinigten Staaten zu einem Luxusgut stilisiert wurden, dann durch dieses Label. Man legt durchschnittlich den doppelten Preis normaler Tonträger desselben Genres auf den Merchtisch. Die Gestaltung der Produkte ist undiskutabel beeindruckend, der Katalog hat inzwischen auch eine beachtliche Länge erreicht, die Musik wird selten dem Kaufpreis gerecht.

4. Hardcore aus Glasgow, einer Stadt mit der heftigsten Ganggewalt auf der britischen Insel.

5. Südschwedische Band, akkustisch mit pyroklastischen Strömen sicher nicht völlig verkehrt attributiert.

6. Urban Blight: Die Songs sind ja alle total kurz. Für mich war schon das Career Suicide-Revival ermüdend. Toronto kann es inzwischen bessser.

7. Erfolgstruppe von in Berlin residierenden Schwaben.

8. Muss hier noch etwas gesagt werden? Noiserock-Granddaddies, Protogrunge und noch immer hier. Kann man halten wie man will. Sie spielen den Soundtrack meiner Beerdigung.

9. Berliner Philarmoniker: Angeblich das beste Orchester der Welt. Konzerte werden inzwischen live in Kinos übertragen. Kinofilme gibt es über die Truppe sowieso schon. Auch in 3-D. Man rühmt sich für demokratische Strukturen. Was auch immer das bei einem klassischen Orchester mit Dirigent heißen mag…

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