Februar 26th, 2020

MICROCOSM PUBLISHING (#148, 2011)

Posted in interview by Thorsten

There really is a zine for everyone, regardless of their age or interests
Microcosm Publishing – Joe Biel

Keine Ahnung, wann ich das erste Mal auf ein Buch von Microcosm gestoßen bin. Vielleicht irgendetwas von Aaron Cometbus? Wiederentdeckt habe ich Microcosm allerdings im Frühjahr 2010, als ich in einem irischen Fanzine ein Interview mit Cristy C. Road las. Im Anschluss bestellte ich mir ihr Buch über Amazon, wartete geschlagene fünf Monate und verschlang „Indestructible“ innerhalb weniger freier Stunden. Fast gleichzeitig mit dem Lesen des Buches machte eine Freundin mich auf die Homepage von Microcosm aufmerksam und deren Pro-Biking-Propaganda-Ausrüstung. Genau das, wonach ich gesucht hatte und so kam spontan die Idee, ein Interview mit dem Verlag über Microcosm Publishing, aber auch über Biking zu machen.
Während meine Fragen immer Tage, wenn nicht Wochen brauchten, antwortete Joe Biel, der Begründer des Verlags, immer innerhalb von wenigen Stunden. Thanks a lot and here we go:

Hallo Joe! Danke, dass Du Zeit und Interesse hast. Stell dich doch bitte einleitend kurz vor.

Joe: Danke für das Interesse. Das Trust habe ich mal gelesen, naja, gesehen. Ich kann leider kein Deutsch lesen. Ich bin Joe Biel, der Gründer von Microcosm Publishing und Cantankerous Titles und Mitbegründer des People’s Department of Transportation und dem Portland Zine Symposium.
Microcosm veröffentlicht und vertreibt Literatur, die aus der Fanzine-Bewegung kommt und operiert mit einer kollektiven Entscheidungsstruktur sowie auf dem Finanzmodel eines Non-Profit Unternehmens, auch wenn wir keine offizielle 501c3 (Steuer-Befreite) Organisation sind.

Was ist denn das People’s Department of Transportation? Ihr habt doch nicht den ÖPNV in Portland re-organisiert?! Handelt es sich um eine D.I.Y.-Organisation, um den öffentlichen Transport zu verändern?

PDOT ist eine Aktivistinnen*-Gruppe, die die Arbeitsweise von Time’s Up und den Yes Men kombiniert. Wir organisieren satirische Kampagnen um „Hot Spots“ des Transports und bilden ein System durch Gleichheit, Sicherheit und Mobilität für alle Transportarten. In der Infrastrukturplanung haben wir im Moment einen sehr starken Einfluss durch motorbetriebene Fahrzeuge in, vor allem dann, wenn verschiedene Transportarten im Konflikt stehen.
Unsere Kampagnen sollen die Behörden erzürnen, die sich um das Straßenmanagement kümmern und die die Bedürfnisse von Fußgängerinnen, Fahrradfahrerinnen und Transit-Nutzerinnen ignorieren. Indem wir diese klassischen Diskriminierungen der Bevölkerungsgruppen aufzeigen, hoffen wir ein System der Gleichheit, Sicherheit und Mobilität für alle zu kreieren.

*: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde konsequent die weibliche Form verwendet. Andere Geschlechter sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, inkludiert.

Okay, zurück zu Microcosm. Worum geht es Euch? Wann seid ihr angefangen? Welche Idee steckt hinter dem Verlag?

Microcosm existiert, um den Teil der Literatur-Bewegung zu übernehmen, an dem nur wenige Interesse haben – das fertige Werk in die Hände der Leserin zu bekommen. 1996 bin ich damit gestartet, weil ich keine Literatur finden konnte, zu der ich eine engere Beziehung hatte und ich wusste, dass es da draußen Menschen, wie mich, geben musste.

Wie wählt ihr Eure Autorinnen aus? Was sind Kriterien für Zines?

Wir haben monatliche Treffen, in dem das Kollektiv alle Zines bespricht, die uns zugesendet worden sind. Wir kontaktieren dann die Zines, die von der Gruppe bestätigt worden sind. Wenn es Material gibt, an das wir absolut nicht herankommen oder die Autorin ist unglaublich talentiert, dann versuchen wir es zusammen mit ihnen zu veröffentlichen. Manchmal ist es auch umgekehrt und die Autorin kommt auf uns zu.

Die meisten Eurer Zines im Vertrieb kommen aus den USA. Wie sieht es mit anderen Kontakten in der Welt aus?

Wir verkaufen Fanzines von überall auf der Welt, aber 99 Prozent aller Hefte sind in Englisch und in den USA werden am meisten von diesen produziert. Wir sind offen für Fanzines aus allen Ländern, doch klar, die finanziellen Realitäten, vor allem die Verschickung von Fanzines, verhindert leider eine Menge, was wir gerne machen würden.

Vor allem das Artwork der Bücher haut mich immer wieder auf’s Neue um. Wie wichtig sind die Illustrationen? Ist es die Autorin, die sich darum kümmert?

Danke! Wir denken viel über die Ästhetik unserer Bücher nach und versuchen eine angemessene, hübsche und passende Ästhetik für die Zines zu finden. Wir veröffentlichen nur sehr selten Dinge, die nicht stark illustriert sind. Wenn die Autorin keine Illustrationen hat oder schon mit einer Illustratorin arbeitet, dann bringen wir sie mit unseren Partnerinnen zusammen.

Wie wichtig sind Zines für dich persönlich? Gibt es eine Änderung in dem Medium Fanzine und gibt es noch viele Zines in den USA?

Ja, es werden immer noch viele Zines in den USA veröffentlicht und es gibt noch viel mehr, die wir niemals sehen werden. Ich denke, ein Zeichen der Stärke der Bewegung ist, dass sie so dezentral ist und keine zwischengeschaltete Vermittlung benötigt.
Zines hatten früher eine sehr zentrale Rolle in meinem Leben und ich fühle mich noch heute gut, wenn ich in ihnen lese oder neue Zines von mir herausbringe. Aber sie sind heute nicht mehr so zentral, wie vor zehn Jahren. Dennoch, ich fühle, dass es meine Rolle ist, den Menschen zu sagen, dass für jeden ein Zine existiert, egal wie alt du bist oder welche Interessen du hast.

Den Gedanken, dass es ein Zine für jede gibt, gefällt mir sehr gut. Wie sieht denn das perfekte Zine für dich aus? Worum geht es? Was fehlt, was ist der Titel?

Ich habe viele Zines für mich gelesen, die genau das waren, was ich gebraucht habe, als ich sie gebraucht habe. Meistens zeigen sie versteckte Felder der Geschichte oder Themen, über die ich ansonsten nie gedacht hätte, dass sie spannend wären und über die ich ansonsten nie gestolpert wäre. Die Arbeiten von Eric Ruin, Icky Apparatus und Meredith Stern haben mich häufig gefesselt, da sie gut recherchiert und informiert waren. Sie haben mich auf neue Ideen und Konzepte aufmerksam gemacht.

Gibt es Zines über Biking?

Es gibt Duzende von Zines über Fahrradfahren in irgendeiner Art und Weise und es werden jedes Jahr mehr veröffentlicht, die mich herausfordern und unterhalten.

Microcosm verkauft viele T-Shirts, Buttons und Aufnäher „pro biking“. Sind eure Käuferinnen Mitglieder der Punk“szene“ oder habt ihr mehr „Kundinnen“ aus der Rad-„Szene“?

Als ich 1996 angefangen habe in Cleveland zu radeln, waren Punks resistent gegen diese Idee und warfen Eier nach mir. Die Menschen machten Streiche mit mir und warfen mein Rad in den Abwasserkanal.
Aber es fühlte sich dennoch wie ein wachrüttelnder Moment an. Im Jahr 1997 veröffentlichten wir eine Compilation mit dem Namen „Punks on bikes“ und ungefähr ein Jahr später erfanden wir das Wort „Bikepunk“. Schon witzig zu sehen, dass es immer noch so eine Aussagekraft hat. Zu der Zeit damals war das Konzept ein Witz und die Bewegung nicht existent, aber es hat sich intensiviert.
Natürlich gab es schon immer Punks, die Fahrrad fuhren, aber eher aus ethischen oder Armutsgründen. Als Bewegung, habe ich das Gefühl, hat es erst in den letzten zehn Jahren wirklich begonnen.
Und klar, wir verkaufen Aufkleber und T-Shirt zu Menschen in der ganzen Welt, die an Fahrrad fahren auch außerhalb der Punkszene ein Interesse haben.

Punks warfen Eier nach Dir? Das klingt lächerlich! Warum? War es Neid?

Ich kann nicht über die Motive meiner Peiniger sprechen. Aber ich vermute, es hat mit dem dominanten Paradigma unseres Landes zu tun, in dem das Auto König ist und alles was diese Stellung bedroht, gefährlich ist. Ein anderes Beispiel dafür; ich wurde von Skinheads zusammengeschlagen, da ich „Anti-Kapitalist“ war, als ich ihnen im selben Moment erklärt habe, inwiefern der Kapitalismus uns gleichermaßen verletzt.

Im Grunde macht ihr ja Werbung für Bikes, Punk und Bikepunks. Was sind denn Bikepunks? Welche Verbindungen zwischen beidem siehst Du?

Als Teenager war ich großmäulig, laut, moralisch-überheblich und schnell dabei, den Leuten zu erklären, was sie tun sollten. Und ich habe wirklich gefühlt, dass Bikes spaßiger, moralischer, sauberer und nachhaltiger waren, vor allem um in der Stadt unterwegs zu sein. Ich fühlte, dass Punks selbst an vorderster Front dieser Bewegung kämpften und es wirkte daher für mich, wie eine logische Verbindung. Gut, dass es so voran getrieben worden ist.
Heute denke ich, wir sollten die gleichen Punks nehmen und dazu bringen, für Rechte von weniger Privilegierten ein zu stehen, für die Menschen, die mehr Aufmerksamkeit, Dienstleistungen und Infrastruktur benötigen, als Punks. Das ist ein Teil meiner Arbeit für PDOT.org. Keiner der Gründer kommt vom Punk, aber ich fühle, dass es etwas ist, mit dem sich Punks vollständig identifizieren könnten.

In der Punkszene in aller Welt haben Autos eine besondere Bedeutung. Albencover haben Autos im Artwork, Songs handeln über lange, stumpfe Fahrten durch die Landschaften und auch der physikalische Aspekt des Fahrradfahrens ist vielleicht das Gegenteil von Saufen und Drogenkonsum. Ist Punk überhaupt bereit für Biking?

Das was Du da als Punk beschreibst hat sich in den späten 70ern und frühen 80ern entwickelt, aber wurde längst vom „DIY Punk“ in den USA abgelöst. „DIY Punk“ ist viel eher verwurzelt mit einen „Sich-Gut-Fühlen“-Benehmen und Geld für Benefits sammeln und sich bewusster Benehmen, anstatt des Nihilismus. Für mich stellt sich eher die Frage, sind Punks bereit, sich für das Recht anderer auf Biking einzusetzen?

Was meinst Du mit dem Recht anderer auf Biking? Meinst Du das Recht, sich von Ort zu Ort zu bewegen ohne die Umwelt zu zerstören und anderer Leute Freiheit einzuschränken?

Menschen haben ein Recht auf Transport und als Berufspendlerin zu biken, aber in vielen Orten lassen Gesetze und Erziehung das nicht zu. Gar nicht zu sprechen davon, dass viele Orte gefährlich sind, weil auch die Motorisierten keine passende Erziehung über Gesetze haben, die das Fahrradfahren betreffen, oder sie sind einfach nur alte Antagonisten.
Zum Beispiel erhielt die Stadt Portland 1990 Morddrohungen von Bürgern, als sie auf der Burnside Brücke ein „Bike Fest“ organisiert hat. Alles was das Paradigma des „Amerikanischen Traums“ gefährdet, wird sofort beantwortet. Aber, aus meiner Sicht sind viele DIY-Punks um ihre eigenen Rechte besorgt, wie Containern, günstig und vegan zu leben, Dinge des persönlichen Lifestyle-Aktivismus. Diese Dinge sorgen dafür, dass sich Personen gut fühlen, weil sie Auswahlmöglichkeiten haben. Es überwirft aber nicht das herrschende Paradigma. Daher muss Aktivismus längerfristig diese Dinge überwinden können. Punks müssen aufstehen und sich mit denen Kämpfenden solidarisieren, nicht nur ihre eigenen Rechte auf laute Shows in armen Nachbarschaften verteidigen.

Glaubst Du, dass Punk / Punk Attitude und Biken zusammenpasst?

Das ist eine zentrale Frage in dem Buch, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet habe: „Beyond Resistance and Community.“ Ich denke, die Einstellung, speziell im DIY-Punk, verändert sich vom „dieser Protest / Boykott lässt mich gut fühlen” zu „wie kann ich taktisch wirklich effektiv mit meinem Aktivismus sein?“. Ich denke, dass Fahrradfahren ein Teil dessen ist, aber ich denke auch, dass du dich organisieren und smart sein musst, bei der Überbringung der Nachricht und dem Labeling deiner Aktivität.

Speziell für Kids in den Vororten oder ländlichen Regionen ist das Auto ein Zeichen von Freiheit und eine Möglichkeit, häufig die einzige, zu Konzerten zu kommen. Das Auto wird zu einem Symbol des Austausches. Siehst Du das Fahrrad als „städtische Alternative“ oder als Chance unsere Lebensstile zu überdenken?

Die Zeiten, in denen ich den Menschen gesagt habe, was sie tun sollen, sind vorbei. Die Generation unserer Großeltern wird das Auto immer als eine Art Recht und Symbol der Freiheit sehen. Aber mehr und mehr verschwindet dieses Recht. Viel Tinte ist verschwendet worden, um die Gründe zu benennen, aber am Ende stellt sich doch die große Frage: Wie können wir den Übergang beschleunigen?
Im Idealfall ist das Problem, welches wir lösen müssen, die Frage, wie wir Menschen und auch Güter bewegen. Am Ende sind wir gezwungen diese Frage zu beantworten, ob wir wollen oder nicht. Ich denke, ein Teil der Lösung ist eine Neu-Organisierung deiner lokalen, eigenen Gemeinschaft. Dinge müssen wirklich lokal sein, sodass Du sie nicht erst gar nicht transportieren musst.
Ich selbst gehe später diesen Monat auf Tour, in einem Auto. In uns allen sind Widersprüche, aber ich denke, wir müssen unsere Entscheidungen vorsichtig überdenken.

Okay, zum Ende vielleicht noch ein paar kurze Fragen, mit Bitte um kurze Antworten: Was ist dein Lieblingsmixtape, wenn Du Fahrrad fährst?

Ich habe die letzten 5 Jahre sehr viel relaxt und keine Musik mehr gehört, wenn ich Fahrrad gefahren bin. Ich höre lieber in die Welt und auf die Straße um mich herum und denke über dies und das. Ich bin nicht mehr so wütend wie in meinen 30er Jahren und ich habe aufgehört, außerhalb meines Hauses Musik zu hören.

Was für Fahrräder fährst Du?

Ich habe ein Schwinn Straßenrad aus den 1970ern, ein Nishiki Rad mit Stahlrahmen aus den 1970ern, ein 1990er Raleigh Portage Touringrad, ein ungarisches Faltrad aus den 1950er Jahren, ein französisches “Arctic” Trackbike mit einer “coaster brake”, das wohl auch aus den 1970ern ist und ein Haley Cargo-Dreirad mit einem selbstgemachten Cargo-Trailer.

Was war deine schönste Tour mit dem Rad?

Am liebsten radele ich einfach durch die Gegend und genieße am meisten den Ritt von der Arbeit nach Hause.

Interview: Mika Reckinnen

www.microcosmpublishing.com

www.pdot.org

(ein paar der ursprünglich hier aufgeführten Links wurden gelöscht, weil sie nicht mehr funktionierten, bzw. zu Glückspielseiten umgeleitet wurden, der Uploader)

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