April 8th, 2020

KEVIN MARTIN AKA THE BUG (#103, 2003)

Posted in interview by Thorsten

Visionary Mutant Alien Dancehall

Kevin Martin beschäftigt sich seit den frühen 90ern mit der Erforschung surrealer und unberechenbarer Sounds im Niemandland zwischen Dancehall, Dub, Elektro, HipHop und Illbient. Er arbeitete als Techno Animal oder ICE mit Iggy Pop, DJ Vadim, William Borroughs, den Palace Brothers oder der John Spencer Blues Explosion zusammen. Der Mann ist ein Perfektionist. Halbe Sachen gibt es bei ihm nicht. Neben seiner Leidenschaft für Dub & allen Spielarten von Dancehall hat der Mann eben auch ein Faible für atonale Soundscapes und Illbient-Musiken. Dabei saß er bislang stets zwischen den Stühlen. Der Ragga-Gemeinde ist sein Sound zu starr, zu brutal. Für die Noise-Freaks hat er zuviel Groove.

Nach zwei Jahren harter, kontinuierlicher Arbeit hat er zu sich selbst gefunden und lässt uns auf seiner neuen Platte, die in England bei den durchgeknallten Aphex Twin-Jungs von „Rephlex“ erschienen ist, Beats, roh wie Asphalt, fressen. The Bug lädt mit wutgebremster, bösartig grinsender Partymucke zum Tanz auf dem Vulkan und füllt die Druckkammern mit einem dreckigen Sound-Mash-Up bis die Ventile platzen. Nebenbei hat er die Speerspitze der englischen Ragga/Danchall/DubPoetry-Vokalisten-Avantgarde zum eindrucksvoll schnatternden Protestchor versammelt. Kevin’s Anspruch ist es, die Nerds mit den Party-Animals zu versöhnen.

Den Großteil dieses Interviews führte ich mit Kevin im Sommer dieses Jahres. Ende Oktober haben wir nochmal miteinander gesprochen.

Du hast sehr viele verschiedene musikalische Projekte gemacht. Dennoch fällt auf, daß du immer wieder beim Reggae landest. Kannst Du erklären, warum Dancehall/Ragga für dich so ein wichtiger Einfluß ist?

Kevin: Meine gegenwärtige Faszination für Dancehall & Ragga resultiert aus einer langjährigen intensiven Beschäftigung mit Dub/Roots. Prince Far I, Lee Perry, Scientist, On U Sound, King Tubby’s waren Helden für mich, als ich nach London zog und dort Soundsystems wie The Disciples, Aba-shanti-i, Jah Shaka oder Iration Steppers erlebte. Ihre beeindruckende Intensität war für mich eine Offenbarung. Ich lebte auch schon in Brixton, Willesden und anderen multikulturellen Gegenden, wo es einfach ein Ding der Unmöglichkeit war nicht mit den dröhnenden Ragga Mash Up Tapes, die aus allen möglichen Autostereoanlagen hämmern, in Berührung zu kommen oder dem Bombardement der Piraten-Radios aus dem Weg zu gehen. Ragga klang schon immer abgefahren, aber als ich zum ersten mal diesen „Streetsweeper“ Rhythmus hörte, war ich wie besessen. Ich wurde regelrecht süchtig danach.

Du lebst jetzt in Alperton, einem Londoner Bezirk mit einer großen pakistanischen Gemeinde. Was ist dein persönlicher kultureller Background?

Ja, das stimmt. Hier gibt es eine sehr sehr große indisch/pakistanische Community, aber dennoch ist es – ähnlich wie Brixton – eine sehr multikulturelle Gegend. Mein Background? – Mein Vater ist Ire, meine Mutter Schottin. Ich wurde in Wales geboren und habe die meiste Zeit meines Lebens in England gelebt. Ich fühle mich aber keiner der erwähnten Nationen, ihren Millieus oder kulturellen Codes zugehörig. In dieser Beziehung bin ich ohne Wurzeln…

…so viel zu Kevin Martin. Wie sieht’s mit The Bug aus?

Na ja, der kulturelle Background von The Bug sollte sich einem schon durch die Labels erschließen auf denen er veröffentlicht hat. Wordsound, Fat Cat und jetzt: Rephlex, Klein, Tigerbeat6 und natürlich das 7″ Label Razor X, daß ich mit Rootsman zusammen betreibe.

…alles Labels, die dafür bekannt sind, Sounds zu verbreiten, die aus bereits Bestehendem mit innovativen Mitteln neues ausformen. Und Labels, deren stilistische Bandbreiten mit herkömmlichen Schubladisierungen kaum beschreibbar sind…

…ha,ha,ha! Was für sich spricht und keiner weiteren Kommentierungen bedarf. Ich will die Tür aufstoßen zu einem Raum jenseits festgefahrener Definitionen & Traditionen. Das bereits Wirkliche ist von einem Meer von Möglichkeit umgeben, aus dem immer wieder ein neues Stück Wirklichkeit auftaucht.

Du bist schon so eine Art Einzelkämpfer. Du hast einen sehr großen musikalischen und künstlerischen Horizont. Aber du fühlst dich nirgendwo zuhause.

Weißt Du, mir geht die Engstirnigkeit in den meisten Submillieus der Popkultur auf den Sack. Alle reklamieren für sich, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben. Dieser ganze Punk/Hc Scheiß zum Beispiel. Die sind so borniert gegenüber elektronischer Musik. Die schnallen gar nicht, daß eine Menge Leute, die in den 80ern Punkrocker waren, ihre ästhetischen Vorstellungen beibehalten haben, nur eben jetzt andere Instrumente bzw. Geräte benutzen, um sie umzusetzen. Oder Ragga/Dancehall. Ich liebe diese Musik. Aber auf den Partys sind soviele Flachwichser, die keine Ahnung haben. Alles was nicht in ihr (begrenztes) Schema paßt, wird gedisst. So gesehen habe ich mich wirklich nie einer Szene zugehörig gefühlt. Ich mag Menschen, die ihren Verstand zum Denken benutzen. Und ich mag Menschen, die erst einmal sehen, was sie mit Anderen/Fremden gemeinsam haben, bevor sie sich darauf stürzen, was sie an ihrem Gegenüber stören könnte. Toleranz ist etwas sehr Wichtiges. Wenngleich sie auch nicht in Beliebigkeit ausarten darf.

Mit der Intoleranz hast du ja deine Erfahrungen. Kurz vor dem Tourstart hast du bei einem Live-Gig mächtig die Fresse vollbekommen?

Da will ich nicht groß darüber reden. Aber mich macht die dumme Ignoranz vieler Leute einfach wütend. Da gebe ich nicht klein bei. The Bug spielt bis zum Ende. Ich laß mich nicht von der Bühne schicken.

Du schlägst aber auch zurück, wenn dir einer dumm kommt?!

Nur, wenn mich jemand physisch angreift.

Stimmt es, daß The Bug entstanden ist, weil du Francis Ford Coppolas „The Conversation“ (dt. Titel „Der Dialog“, 1973) nachvertont hast? Warum hast du für “Pressure” auf genau dieses Alias zurückgegriffen und nicht auf eine deiner anderen Künstler-Identitäten?

Ja, das stimmt. Zuvor hatte ich meist in Kollaboration mit anderen Küstlern, also im Team, gearbeitet. Ich war auf der Suche nach einer bestimmten originalen Sound-Ästhetik für meine ersten Solo-Projekte. Skiz, der Labelboss von Wordsound, fragte mich, ob ich nicht ein von der Norm abweichendes Dub-Album machen wollte. Mit dieser Maßgabe und der Tatsache, daß es meine erste wirklich alleine produzierte Platte werden sollte, entstand die Idee mit dem Film-Konzept-Album. Es begann 1996 (die Platte wurde 1997 releast, Anm. d. Verf.). Das waren die ersten Schritte einer langen Suche nach meinem Sound. Die Entwicklung meines persönlichen Sounds hat eigentlich bis „Pressure“ – oder um es präziser zu sagen – zu den beiden Singles „Killer“ und „Seismic“ gedauert. Was mich persönlich betrifft, kann ich nur sagen, daß „Pressure“ das perfekte Fundament ist, auf dem meine persönliche musikalische Identität fußt. Techno Animal oder Ice waren bzw. sind Gruppen-Arbeiten, The Bug, das bin ich – ganz alleine ich!

Mit deinem Stuff begibst du dich immer auf eine Gratwanderung zwischen Musik als Kunstform und Spaß. Auch „Pressure“ eint zornige Tiraden gegen die ökonomische und soziale Ausbeutung, wütende Abrechnungen mit einem korrupten System und einfühlsame Reflexionen über das Leben mit hochenergetischer Tanz-auf-dem-Vulkan Partymucke.
Fühlst du dich wohl, so zwischen allen Stühlen zu sitzen? Was willst du mit deiner Musik erreichen?

Mit The Bug will ich gleichzeitig Körper und Geist stimulieren. Ich will Musik produzieren, die beide Ebenen maximal elektrisiert. Ich will die Hörer überschütten, überwältigen, überrennen! Ich sehe The Bug nicht als hohe Kunst oder so, aber ich habe auch keine Lust, das geistige Niveau soweit herunterzuschrauben, daß ich die breite Masse erreiche. Heutzutage als Produzent Musik ohne kommerzielle und künstlerische Kompromiße zu machen, ist in sich politisch.
In einem Zeitalter, in dem Popmusik zunehmend zum Lifestyle-Accessoire degradiert wird und zum billigen Fashion Toy verkommt, finde ich es wichtig, daß sie Reibung, Aufregung und Diskussionen auslöst. Daß sie die Menschen in Kommunikation bringt und gleichzeitig die körpereigene Chemie stimuliert. Reggae hat eine Menge großartiger Protestsongs hervorgebracht, ich sehe mich dieser Tradition verpflichtet: auf eine zeitgemäße Art und ohne moralisierendes Phrasengedresche! Schweiß und Leidenschaft gehört dazu. Musik wird niemals die Gesellschaft verändern, aber sie kann eine nützliche Waffe sein, den Verblödungsstrategien der Corporate World eigene geistige Beweglichkeit entgegenzusetzen! Das ist übrigens alles andere als uncool, sondern sehr funky und sexy… – Frage Public Enemy…

…aber „Pressure“ ist vielschichtiger. Es umfasst beinahe das komplette Spektrum menschlicher Emotionen. War das beabsichtigt oder hat es dich selbst überrascht?
Hast du den Vokalisten die Dats in die Hand gedrückt und gesagt mach mal oder selbst eingegriffen?

Ich wollte schon von Anfang an ein breites Spektrum an Gefühlen und Launen transportieren. Und es war mir wichtig, daß die Vokalisten die gebotene Plattform nutzen, um ihrer Frustration über das korrupte soziale Gefüge in England Ausdruck zu verleihen. Dabei war es wichtig, daß die harten Tracks mit Daddy Freddy, He-Man oder Toastie Taylor nicht die persönlichere und abstraktere Dub-Poetry von Tikiman, St. Paul Hillfire oder Roger Robinson negieren. Die Balance zwischen all diesen emotionalen Impulsen zu bewahren, war ein hartes Stück Arbeit. Ich habe einige der Vocal Performances dirigiert beziehunsgweise beratend eingegriffen.

Rootsman ist ein Freund von mir. Ihr macht ja zusammen das Razor X Seven Inch Label. Er hat mir erzählt, daß die DATs mit deinem Riddims, als sie erst mal in der englischen Szene kursierten, von den meisten Vokal-Künstlern gebliebt wurden. Erzähl mal genauer…

Na ja, ich habe die Bänder halt ein paar Leuten in die Hand gedrückt, die ich für Multiplikatoren halte. Adrian Sherwood von On-U usw. Es war tatsächlich so, daß viele von denen darauf abgefahren sind.
Die haben sich teilweise mit fertigen Lyrics bei mir gemeldet, teilweise kamen die Sachen aber auch spontan, wenn wir im Studio waren. Spontanität ist – bei aller technischen Perfektion – immer wichtig.

Du betrachtest dich aber trotzdem nicht als Bestandteil der Ragga-Scene? Ich glaube, um dich zu verstehen ist es wichtig, deine musikalische Sozialisation zu kennen. Kannst du die mal umreißen?

Als ich Kind war, lief bei meiner Mutter Led Zeppelin, Deep Purple, Santana usw. Die antisoziale, anarchische Attitude von Punk und sein musikalischer Minimalismus waren das perfekte Gegenmittel zur Prog-Rock/Metal-Hölle mit ihren stundenlangen Gitarrensolos. Hahaha! Mein erstes Album war The Damned. Aber richtig umgehauen haben mich die ersten beiden Singles von Discharge auf ihrem Clay Label. Das war die Initialzündung.
Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, in der die verschiedenen subkulturellen Fraktionen friedlich miteinander kooperierten, so daß ich verschiedenste Musik absorbierte. Ich habe zwar den Weckruf des Punk vernommen, aber die Einflüsse, die mich bis heute prägen, kamen aus der Post-Punk-Ärea der frühen 80er Jahre: Public Image Limited, The Birthday Party, Cabaret Voltaire, The Pop Group, Mark Stewart And The Mafia und natürlich auch Reggae, Dub und Adrian Sherwood und sein On-U-Label. Diese erstaunlichen, spannenden und unberechenbaren Fusions-Sounds! Das sind Einflüsse, die mich bis heute prägen. Ich habe aber auch schon als Teenager Saxophon gespielt und bin dadurch tief in die Arbeit von John Coltrane, Miles Davis, Pharao Sanders, Albert Ayler, Peter Brötzmann oder Evan Parker eingetaucht. Nicht zu vergessen meine Leidenschaft für Film-Soundtracks, zeitgenössische klassische Musik und – sehr wichtig – Hip Hop.

Das klingt für Nichtwissende sehr kompliziert. Was mir auffällt, ist, daß bei all deinen Projekten immer das satte Moment von Musik im Vordergrund steht.

Ich werde magnetisch angezogen von den Hardcore-Elementen in all diesen Musiken. 99 % aller Musik ist scheiße, es ist das 1 % Hardcore daß mich anzieht. Diese kompromißlose Intensität. Ich verfolge all diese Mutationen, vor allen Dingen an den Stellen, wo sie ineinanderfließen.
Ragga ist dabei besonders wichtig, wegen dieser surrealen klanglichen Ingredenzien und den abgefahrenen, leidenschaftlichen Vocals die oft bis an die Grenze des Abstrakten gehen. Die einzige Regel, die es für guten Ragga/Dancehall zu geben scheint ist die kontinuierliche Vorwärtsbewegung ohne einen Blick nach hinten. Ich bin fasziniert von diesem musikalischen Irrsinn, von diesen Verrückten. Diese bizarre Evolution zu beobachten fasziniert mich außerordentlich. Aber auch, wenn ich aufs Heftigste von Dancehall beinflußt bin, weiß ich, daß der durchschnittliche Elephant Man Fan meine Music als zu unorthodox empfinden würde.

Wie würdest du deine Musik einem Gehörlosem beschreiben?

Hähähä, aggressiv, sexy, sensibel, gewalttätig, friedlich, spirituell und anarchistisch. Aber an einem Gehörlosen könnte man gut durchexerzieren was ich meine: ich würde ihn zu einer Live-Show mitnehmen, damit er das intensive Pulsieren schwerster Bass-Vibrationen am ganzen Körper spüren kann.

Wie war die (gerade zu Ende gegangene) Tour?

Ich konnte leider (noch) nicht das ganze Soundsystem mitbringen. Dazu brauche ich einen größeren finanziellen Rahmen, um zusätzliche Leute auch bezahlen zu können. Ich habe dazwischen auch aufgelegt, mit dem Hintergedanken einen The Bug DJ-Set um das Album herum zu spielen. Mit Ras Bogle als MC hat es echt Spaß gemacht. Er arbeitet viel mit Adrian Sherwood und hat ein unglaubliches Stimmvolumen. In Ljubiljana haben wir echt das Haus gerockt. Ich habe einen sehr detaillierten Technical Rider gehabt. Nur die Geräte, mit denen ich auch im Studio gearbeitet habe. In den Locations, in denen die Veranstalter diesem Rider gefolgt sind, hat es die Leute echt weggebeamt.

Meine Freunde in Zürich haben erzählt, daß die Bässe so fett waren, daß in der Roten Fabrik der Putz von der Decke gebröckelt ist.

(Kevin zufrieden grinsend) Ja, Zürich war cool. Geiles Publikum. Viele Leute aus der Punk-Szene, aber auch die komplette Breakbeat- und HipHop-Fraktion war da. Die Leute waren sehr offen da. Das hat echt Spaß gemacht.

Viele der Lyrics auf der Platte handeln von der Korruptheit des Systems. Willst du da was bestimmtes aussagen. Oder sind die Texte nur der individuelle Ausdruck der jeweiligen Meinung der einzelnen Vocalisten?

Die Lyrics kommen jeweils von den Vokalisten. Allerdings hätte ich sie nicht genommen, wenn ich mit deren Aussagen nicht konform gehen würde. Sie mußten zur Stimmung der Tracks passen. Aber über Politik redet man nicht, man macht sie. Jeden Tag im ganz persönlichen Umfeld. Die Welt ist viel zu komplex geworden, als daß man mit einfachen Phrasen drauf reagieren könnte.

Links zum Thema: (einige wurden entfernt, der Uploader)

www.thirdeyemusic.co.uk
www.rephlex.com

Text: Alexander Köpf

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