Mai 27th, 2020

GENJING RECORDS (#195, 2019)

Posted in interview by Thorsten

Brücken bauen! Bauabschnitt: Beijing Berlin / Bremen!

Interview mit Nevin Domer von Genjing Records und Fanzui Xiangfa

Wenn wir von alten Hochkulturen reden, sprechen wir in der Regel von antiken Griechenland oder dem römischen Reich. In Zentraleuropa vergessen wir meistens, dass als unsere Vorfahren sich noch mit Holzkeulen vor der Höhle auf die Omme gekloppt haben, in China schon 2.600 Jahre vor unserer Zeitrechnung Akupunktur Teil der chinesischen Medizin war. 1.000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung wurde der Kompass in China erfunden, die Chinesen selbst erkundeten in der Zeit schon die Meere. Noch wichtiger: um das Jahr 700 wurde die erste Zeitung in Beijing gedruckt. Ob sie die Fanzine-Qualität vom Trust hatte, ist leider nicht überliefert, zeigt aber, wer eigentlich den Buchdruck erfunden hat. Hätten die Anführer der Ming-Dynastie nicht um das Jahr 1500 entschieden, die Schifffahrt nahezu komplett einzustellen, wer weiß, wie sich die Geschichte entwickelt hätte.

In Beijing ist diese Hochkultur noch an vielen Stellen zu erleben. Die verbotene Stadt ist nur eines von vielen Sinnbildern dafür. Auch die Große Mauer zeugt noch heute davon. Im Jahr 2008 durfte ich für knapp zwei Wochen Beijing und Umgebung besuchen. Ich war Teilnehmer einer zivilgesellschaftlichen Konferenz, arbeitete an einer Veröffentlichung zur europäischen Freihandelspolitik gegenüber China und traf in diesem Kontext einige Wissenschaftler. Nebenbei erkundete ich die Stadt, machte Photos und genoss die fremde Welt. Beijing war damals, kurz nach den Olympischen Spielen, ein interessanter Ort und man spürte, dass die Stadt mitten in einem Umbruch steckte. Große Kaufhäuser, bunte Werbung auf der einen Seite, Bedrohung für die historischen Wohngebiete (Hutongs) und kulturelle Einrichtungen auf der anderen Seite. Wirtschaftliche „Entwicklung“ und einige persönliche Freiheiten schienen im Einklang zu stehen. Doch von der Kultur, die mich interessierte, konnte ich nicht viel finden. Punkkonzerte fanden leider während meines Besuchs nicht statt (oder ich konnte sie nicht finden) und die Kontaktaufnahme über das Internet scheiterte häufig an meinen nur sehr rudimentären Chinesisch Kenntnissen. Ich besucht das damals schon hippe Künstlerviertel Dashanzi (798). Heute stellt hier unter anderem Ai Wei Wei aus. Schon damals zeichnete sich dort eine Gentrifizierung und Kommerzialisierung ab, die mich irritierte und mir die Faszination nahm. Zudem erinnere ich mich daran, wie ich in einem Musikladen einige CDs kaufte, darunter CDs von SMZB, The PK 14 und Ouch, weil deren CDs irgendwie nach Punk aussahen bzw. ich SMZB von ihrem Release auf Nasty Vinyl kannte. Abends ging ich noch auf ein Konzert einer experimentellen Band, die zu schwarz-weiß Stummfilmen irgendeinen Noize-Teppich wob. Die einzige Erinnerung an den Abend ist, dass auf beiden Kabinentüren der Herrentoilette EA80 gepinselt war und ich aufgrund des obskuren Ambientes nach zwei Bier den Laden wieder verließ. In den kommenden Jahren ist mein musikalisches Interesse eher südlich gewandert und Punk in China habe ich nur sehr punktuell in arte-Dokus oder wenigen Artikeln verfolgt.

Auf Genjing Records bin ich daher vor einiger Zeit durch Zufall gestoßen. Ich besaß ein paar der Singles des Labels, vor allem von Fanzui Xiangfa (Auf Deutsch: Kriminelle Idee). Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich deren erste Single im Rumah Api, einem besetzten Laden in Kuala Lumpur (Malaysia) gekauft, da sie sich eine Split-Single mit der malaysischen Emoviolence Band Daighila teilen. In der Vorbereitung auf das Tiny Ghosts Interview (Trust #187) habe ich mich mit deren Labels beschäftigt und bin erneut auf Genjing Records gestoßen. Die Single „Alien in a box“ von Tiny Ghosts kam unter anderem in China auf dem Label aus Beijing heraus. Nevin von Genjing-Records ist ein alter Freund des Schlagzeugers. Ein wenig weitere Recherche und meine eklatanten Wissenslücken darüber, was ich China gerade passiert, waren dann Ansporn genug, ein Interview mit Nevin zu führen. Here you go:

Hallo Nevin, ich kann es nicht glauben, aber seit der ersten Anfrage ist mehr als ein Jahr vergangen. Entschuldige mich bitte dafür. Danke auf jeden Fall, dass Du Dir die Zeit nimmst. Lass uns beginnen. Ich habe eine kurze Recherche im Netz gemacht und raus gefunden, dass Du ein US-Amerikaner in Beijing bist. Was hat Dich dorthin gebracht? Seit wann bist Du in China?

Hi, schön mit Dir zu sprechen. Ich bin aus Baltimore, Maryland, in den Vereinigten Staaten. Aber ich lebe in Beijing und bin seit 2005 dort in der lokalen Szene aktiv. Das erste Mal nach China kam ich für einen Auslandaufenthalt im Jahr 1999. Das war im Rahmen meines Studiums für ein Jahr. Ich lebte damals in Dalian und hörte Gerüchte von einer Punkszene in der Stadt. Doch bei meinen Trips nach Beijing war ich nicht in der Lage eine der extrem schwierig zu findenden Underground-Shows ausfindig zu machen. Ich konnte dafür allerdings einige Tapes und CDs erwerben und hatte somit weitere Indizien, dass etwas Spannendes hier passierte.
Nach meinem Abschluss zog ich für einige Jahre nach Korea. Dort studierte ich die koreanische Sprache und die Kultur, bevor ich im Jahr 2005 nach China zurückkehrte, dieses Mal direkt nach Beijing. Zu der Zeit war es mein Ziel, eine Band zu gründen und live zu spielen. Eine Sache führte jedoch zur Anderen und ich fing an, einen Veranstaltungsort und dann ein Plattenlabel zu verwalten. Seitdem bin ich in der chinesischen Szene aktiv.

Du selbst wirst in diesem Jahr das zehnjährige Jubiläum von Deinem Label Genjing Records feiern. Wie hat alles angefangen?

Genjing begann, als meine Band, Fanzui Xiangfa, in Europa tourte. Wir wollten eine Vinyl 7inch speziell für diese Tour veröffentlichen. Ich verabredete mit mehreren Labels in Europa, den USA und Japan eine gemeinsame Veröffentlichung und beschloss dann selbst, ein Label zu gründen. Wir wussten, dass viele Plattensammler*innen und Fans im Westen immer noch Vinyl bevorzugen. Daher dachten wir, eine Veröffentlichung als 7inch würde uns helfen ein Publikum zu erreichen, das uns möglicherweise nicht ernst nimmt, wenn wir nur auf CDs veröffentlichen würden. Nachdem wir das Projekt begonnen hatten, wurde mir klar, dass ich auch anderen chinesischen Bands helfen kann, die bereits im Ausland touren und auf Vinyl veröffentlichen wollen.

Gibt es einen Musikstil, den Du auf Deinem Label bevorzugst? Mehr Hardcore oder Grindcore? Klassischer Punk oder Post-Punk?

Genjing ist stilistisch querbeet. Ich veröffentliche Sachen, die ich persönlich interessant finde und von denen ich denke, dass sie für die lokale Szene relevant sind. Ich glaube, ich neige zu Punk und Post-Punk, aber ihr könnt auch experimentelle Musik, Folk- und Post-Rock sowie elektronische Musik im Programm finden. Jede Veröffentlichung hat ihre ganz eigene Geschichte. Jedes Release hat sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort richtig und wichtig angefühlt. Alles in allem hoffe ich, dass Genjing in der gesamten chinesischen Underground-Szene unterschiedliche Trends und Blüten der Kreativität repräsentieren kann.

Du hast mit Deinem Label einen klaren Fokus auf DIY Underground-Punk und Hardcore Bands aus China. Gibt es überhaupt einen Mainstream und populären Punk in China?

Ja, seit 2008 gibt es eine Art mittlere Schichte von Bands, die nicht ganz Underground sind, aber auch keinen Mainstream-Pop spielen. Dies sind die Künstler*innen, die die großen Rockfestivals im ganzen Land spielen und eine größere Aufmerksamkeit in den Medien erhalten können. Die meisten dieser Bands sind nicht wirkliche Punkbands. Alle greifen mehr oder weniger Elemente des chinesischen Pop auf. Allerdings haben einige der älteren Punk-Bands, wie Brain Failure und Reflector, diesen Sprung gemacht. Sie haben ihre Musik geglättet und man kann sie mit einigen der populäreren Pop-Punk-Bands in den USA vergleichen. Obwohl diese Bands authentische Underground-Wurzeln haben, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihren aktuellen Musikstil noch Punk nennen würde.

Zurück zu Deinem Label und die etwas gemeine Frage: Was ist Deine Lieblingsveröffentlichung auf Deinem eigenen Label?

Das ist wirklich eine schwere Frage und für mich nahezu unmöglich zu beantworten. Ich habe eine persönliche Verbindung zu allen Bands auf Genjing. Jede Veröffentlichung ist aus einer bestimmten Idee entstanden, die meine Begeisterung entfacht hat. Genjing hat keinen konsistenten Stil. Ich versuche vielmehr eine interessante Zusammenarbeit zwischen Bands, bildenden Künstler*innen und zwischen verschiedenen Szenen zu initiieren und zu dokumentieren. Dies macht jede Veröffentlichung für mich besonders und repräsentiert oft einen bestimmten Moment in meinem Leben. Wenn es jedoch einen Song gibt, der mich immer noch kickt, wenn ich ihn höre, dann ist es „History“ von Duck Fight Goose von ihrer „History“ 7inch.

7inch ist ein gutes Stichwort. Du veröffentlichst ja eine große Anzahl an Split 7inches. Was ist der Grund dafür? Die Kosten zu teilen oder tatsächlich die Songs an neue Leute zu bringen?

Es geht mir eigentlich nur darum, die Bands einem neuen Publikum vorzustellen. Mein Hauptziel mit Genjing ist es, Brücken zu bauen. Ich arbeite gerne mit ausländischen Bands zusammen, die daran interessiert sind, durch China zu touren. Genauso gerne arbeite ich mit chinesischen Bands, die sich bemühen, ins Ausland zu gehen. Indem ich die richtigen Bands zusammenbringe, kann ich ihnen helfen sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei entstehen im besten Falle stärkere Verbindungen zwischen der chinesischen Szene und der jeweiligen Szene im Ausland. Für mich besteht die Kunst des Plattenlabels darin, eine Community zu schaffen. Die Community, die ich pflegen möchte, überschreitet die internationalen Grenzen.

Wie verkaufst Du Vinyl in China? Wie wichtig sind Konzerte und live Spielen dafür? Wie viele Platten werden über die Ladentheken verkauft? Gibt es irgendwelche guten Plattenläden in Beijing?

Als ich mit Genjing anfing, konnte man in China gar kein Vinyl verkaufen. Dafür gab es einfach kein Publikum. In den letzten Jahren wurde das Sammeln von Vinyl jedoch immer mehr zu einem Trend. Es gibt sehr wenige Plattenläden im ganzen Land, die auch Platten von lokalen Indie-Bands in ihr Sortiment aufnehmen. Die wenigen, die es tun, verfügen meistens über einen großen Internet-Mailorder. Die meisten Sammler*innen und Fans sind es gewohnt, Platten online zu bestellen statt einen physischen Laden zu besuchen. Platten bei Liveshows zu verkaufen ist immer noch das Beste. Aber ich arbeite auch eng mit Indie Music zusammen, einem Plattenladen in der Gulou East Street in Beijing, um Fans und Sammler*innen im ganzen Land zu erreichen.

Wo last Du die Platten produzieren? Wird alles in China gepresst? Oder doch Übersee? Ist der Import nach China einfach?

Ich presse den größten Teil meines Vinyls im Ausland. Am Anfang war dies eine reine Notwendigkeit, da es in China keine Vinyl-Produktion gab. In den letzten Jahren wurden jedoch mehrere Presswerke eröffnet und die meisten Vinyl-Schallplatten chinesischer Bands werden im Inland produziert. Es gibt jedoch einen Zensurprozess, den ausländische Bands unmöglich passieren können. Deshalb lasse ich immer noch das gesamte Vinyl im Ausland pressen. Da es verboten ist, „kulturelles Material“ zu importieren, muss ich es dann einschmuggeln. Der Import ist also nicht so einfach, aber ich habe Wege gefunden, dass es funktioniert.

Es wäre ja jetzt interessant, mehr Informationen zu erhalten, wie Du Dein Material genau importierst. Aber ich befürchte, dass dies auch die chinesische Regierung interessieren könnte, haha.

Ich schmuggle meine Schallplatten in kleinen Mengen aus dem Ausland rein. Ich kann die Platten nicht wirklich in großen Mengen verschicken, also muss ich sie tatsächlich physisch über die Grenze tragen. Wenn ich zu viele Kopien bei mir habe, wird ein Alarm ausgelöst. Das Ganze kostet viel Zeit und Geld, aber es ist zunehmend der einzige Weg.

Du hast die Bedeutung des Artworks schon angedeutet. Wie wichtig ist Dir, Künstler*innen und Bands zusammenzubringen? Wie wählst Du die Künstler*innen aus? Welche findest Du besonders gut und haben diese einen Punk-Background?

Die Wahl der Künstlerin oder des Künstlers hängt von der Veröffentlichung ab. Manchmal ist sie / er ein*e Freund*in der Band. In der Regel ziehe ich es aber vor, jemanden zu engagieren, die / der völlig unabhängig ist und in keiner Verbindung zur Band steht, mir deren / dessen Arbeit aber passend zur Musik erscheint. Wenn zum Beispiel ein Split-Release zwei Bands zusammenbringt, die aus unterschiedlichen, geographischen Szenen kommen, sagen wir eine Band aus Deutschland und eine Band aus China, dann versuche ich für das Artwork dieses Release eine*n talentierte*n Künstler*in aus der bildenden Kunstszene zu finden, die / der zuvor nicht mit den Bands in Verbindung gebracht wurde. Ich bin der Meinung, dass diese „Fremdbestäubung“ (im Original: cross-pollination) es den Fans ermöglicht, neue, gleichgesinnte, kreative Communities zu entdecken, auf die sie sonst vielleicht nicht gestoßen wären.
Einige Beispiele für Künstler*innen: Das Cover der Deadly Cradle Death / The Telescopes-Split (Bild und Musik: https://genjingrecords.bandcamp.com/album/split-7-7) wurde vom sehr produktiven Graffiti-Künstler EXAS aus Beijing erstellt wurde (Mehr Infos: http://genjingrecords.com/archives/7154). Das Cover für die Carsick Cars / Flavour Crystals wurde von Tony Cheong von Guangzhou’s Sensitive Word (Infos: http://genjingrecords.com/archives/6394) angefertigt.

Du spielst bzw. warst in mindestens zwei Bands in China, Struggle Session – eine Band mit anderen Expats, die in China leben – und Fanzui Xiangfa. Kannst Du die Bands beschreiben? Ist es einfach Konzerte zu spielen? Wie ist es zu touren?

Ich habe hier in mehreren Bands gespielt, aber die beiden aktivsten waren Fanzui Xiangfa und Struggle Session. Fanzui Xiangfa wurde 2006 gegründet und bestand aus Expats und Einheimischen. Wir haben mehrfach in China sowie in Europa und Südostasien getourt. Unser Sound war Hardcore-Punk a la DS-13. Der DS-13-Gitarrist Jonas Lyxzén war bei uns auch Schlagzeuger. Die Touren waren zu dieser Zeit ziemlich gut und viele Zuschauer*innen kamen für etwas Schweres und Schnelles heraus, obwohl ich nicht glaube, dass viele von ihnen unsere Musik wirklich verstanden haben. Die 2016 gegründeten Struggle Session bestehen aus Expats aus den USA, Kanada und Australien. Wir spielen eine Mischung aus Hardcore, Grindcore und Powerviolence. Wir waren international in Südamerika, Spanien, Marokko, Korea und Australien auf Tour und spielen regelmäßig in China. Die Besucher*innenzahlen in Peking sind recht gut, aber es ist viel schwieriger, Fans aus den anderen Städten zu mobilisieren als noch vor zehn Jahren. Während das Publikum kleiner geworden ist, sind sie gleichzeitig heute anspruchsvoller. Aber die, die zu Shows herauskommen, verstehen normalerweise die Art von Musik, die wir spielen, und sind Fans der Band.
Insgesamt ist das chinesische Publikum mittlerweile viel besser mit Musik vertraut und bietet sowohl für lokale Bands als auch für Touren von nicht-chinesischen Bands viel mehr Möglichkeiten. Es gibt viel mehr Konzertbesucher*innen als zuvor, aber diese sind in der Regel viel wählerischer und fokussieren sich auf bestimmte Musikstile bzw. bevorzugen einfach gewisse Musikstile.

Fanzui Xiangfa singen über politische Themen, wie die Beschissenheit von Flaggen oder Umweltverschmutzung. Welche Bedeutung haben die Texte für die Band? Habt ihr wegen Eurer Texte schon Probleme bekommen? Wie ist das Feedback des Publikums?

Für Fanzui Xiangfa waren die Texte immer extrem wichtig. Die Band bestand aus lokalen, chinesischen Mitgliedern und Ausländern. Jedoch waren es immer die chinesischen Bandmitglieder, die die Texte verfassten. Als Expats gaben wir weder Ratschläge noch Richtungen vor, waren aber mit dem, was die Texte ausdrückten, völlig einverstanden. Wir waren alle auf derselben Seite und waren damals einige der wenigen politischen Punks in der chinesischen Szene. Wir hatten zu dieser Zeit nie Probleme, aber wir wussten immer, dass bestimmte Wege für uns versperrt waren. Wir hätten nie große Festivals oder Shows spielen können. Wir hätten niemals auf einem offiziellen, chinesischen Label veröffentlichen oder mit ihnen arbeiten können. So mussten wir im Underground bleiben. All das war für uns vollkommen in Ordnung. Was in China in den letzten Jahren passierte, hat diese Dinge jedoch verändert. Wir würden es heute definitiv schwerer haben zu spielen.

Wie haben sich denn die Dinge in den letzten knapp 15 Jahren verändert? Was sind die Hotspots der Szene in China, Bejing, Shanghai, oder Städte, von denen wir in Deutschland wahrscheinlich noch nie gehört haben?

Die chinesische Szene hat sich in den letzten fünfzehn Jahren ebenso wie China insgesamt drastisch verändert. Im Jahr 2005 gab es schon ein gutes Netzwerk für Punk im ganzen Land und jede Stadt hatte ihre eigene, größere Punkband. Ich erinnere mich, wie ich herumgereist bin und SMZB in Wuhan, The Last Choice in Changsha, Banana Peel in Guilin, No Name in Xi’an, Angry Jerks in Nanjing, Mortal Fools in Shanghai usw. gesehen habe. Beijing hatte allerdings eine größere Szene mit zehn bis zwanzig aktiven Punkbands zur damaligen Zeit, sodass aus diesem Grund viele Musiker*innen nach Beijing zogen. Die Situation hat sich dahingehend seitdem nicht so stark geändert, aber neue Städte sind in der Punk-Szene wichtig geworden, da sich dort neue Bands bildeten. Einige der älteren Städte sind heute weniger wichtig, da sich die wichtigen Bands dort aufgelöst haben. Es gab auch eine Verschiebung von Punk zu Post-Punk und Indie, was die Anzahl der Bands verringerte, aber Punk beginnt sich in den letzten Jahren wieder zu erholen.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine in einem Interview gelesen zu haben, dass es sehr schwer sei für Punk-Bands Orte zum Spielen zu finden. Viele der Shows finden ja in kommerziellen Diskotheken oder Bars statt. Gibt es eine eigene Infrastruktur von Punks? Gibt es unabhängige Künstler*innen, besetzte Häuser und Bars die Punk und Hardcore Bands unterstützen?

Aktuell ist es eigentlich ziemlich einfach, Orte zum Spielen in China zu finden. Diese Veranstaltungsorte sind Geschäftsräume, Bars und Wohnhäuser, aber sie sind offen für Punk und Hardcore. Städte wie Beijing bieten jede Nacht Underground-Shows, darunter sind zwei bis vier Punk-Shows pro Woche. Squats und DIY-Veranstaltungsorte sind überhaupt nicht üblich und es gibt sehr wenige wirklich selbstverwaltete Orte im Land. Um es zusammenzufassen, es gibt keinen Mangel an Plätzen für Underground-Punk-Acts.

Es wirkt auf mich, als hätte es vor gut zehn Jahren in Europa ein großes Interesse an chinesischer Musik gegeben. Bands waren auf Tour, Beijing Bubbles als Film wurde veröffentlicht, es gab auch einige Bücher (u.a. im Jahr 2009 von Tanja Trash: Maisbier und Buttertee), SMZB und einige andere veröffentlichten Platten auch in Deutschland. Hast Du das Gefühl, dass die internationalen Verbindungen besser werden (immer mehr der großen Bands spielen heute in China) und gleichzeitig nimmt das Interesse der Punk / Hardcore-Szene in Europa an chinesischer Musik ab? Vielleicht weil sie heute weniger „exotisch“ wirkt?

Es gibt definitiv mehr ausländische Bands, die heutzutage durch China touren. Es scheint, als hätten wir jede Woche mindestens zwei bis vier Shows von ausländischen Bands und viele von ihnen sind Punk- und Hardcore-Bands. Die meisten Bands, die hier touren, kommen aus dem Underground. Es wirkt allerdings so als neigten wir dazu, nicht allzu viele der ganz großen Namen zu bekommen. Aber Bands wie DOA, MDC, Descendents, Mike Watt, Fucked Up und The Boys haben alle in letzter Zeit in China gespielt. Es gibt auch mehr chinesische Bands, die in den USA und Europa im Ausland touren, insbesondere Demerit und Gum Bleed, aber auch Rolling Bowling und Hell City. Ich denke, die Medien sind heute weniger an chinesischem Punk interessiert, da es nicht mehr so schockierend ist, wie früher. Dafür fangen aber immer mehr Leute an, die Musik ernst zu nehmen. Ich hoffe, dass wir weiterhin echte Brücken auf gegenseitigem Verständnis aufbauen werden.

Welche Bands aus China sollten wir uns unbedingt mal anhören?

Einige der international aktiveren Bands beinhalten Demerit, Gum Bleed und Rolling Bowling. SMZB sind die älteste Punkband im Land und alle Fans von chinesischem Punk sollten sie kennen. Neue Bands wie Disanxian, D-Crash, Hang Nail, Hell City und Xiao Wang sollte man sich auch mal ansehen. Und natürlich möchte ich gerne jede*n auffordern, auch meine Bands Fanzui Xiangfa und Struggle Session aus zu checken. Am einfachsten geht das auf dem von mir betriebenen YouTube-Kanal, der „Chinese Punk and Hardcore“ heißt und wo ich regelmäßig klassische Alben hochlade, die ansonsten nur sehr schwer aufzufinden sind (s. Links am Ende des Interviews).

Würdest Du sagen, es gibt etwas Einzigartiges im chinesischen Punk / Hardcore und wenn ja, was ist das?

Ja, das gibt es schon in China. Auf der einen Seite gibt es diese Bands, die die gleichen Einflüsse und Sounds haben, wie Punk- und Hardcore-Musiker*innen auf der ganzen Welt. Sie alle kennen die großen Bands wie die Ramones, The Clash und Sex Pistols. In zunehmendem Maße haben die Leute auch Kenntnis von all den kleinen DIY-Acts aus der ganzen Welt. Diese Bands spielen die gleichen Instrumente und sind vom selben Sinn für Mode beeinflusst. Sie leben jedoch in einer bestimmten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation. Das spiegelt sich wiederum in der Musik wider. Vielleicht sind es ihre Texte, die für China besonders sind, vielleicht die Verwendung von bestimmten Sounds oder traditionellen Instrumenten, oder vielleicht spiegeln sie nur wider, wie es ist, wenn ein*e junge*r Beijinger*in im Hier und Heute lebt. Wie überall auf der Welt gibt es hier gute Musik und sie wird mit einer eigenen lokalen Prägung produziert.

China als Land hat ja sehr viele Minderheiten. Sind diese Minderheiten in der Punkszene repräsentiert?

In China gibt es 55 offiziell anerkannte Minderheiten. In der Punkszene gibt es Musiker*innen, die aus diesen Minderheiten kommen. Normalerweise weißt Du nicht, ob die Musiker*innen aus einer dieser Minderheiten stammen, es sei denn, Du fragst. Die meisten von ihnen sind einfach nicht sofort als Mitglieder einer Minderheit erkennbar. Die beiden Minderheiten, die heute Repressionen ausgesetzt sind, sind Tibeter und Uiguren. Während ich mehrere Uiguren getroffen habe, die in der Underground-Szene in Beijing gespielt haben, habe ich bisher nur eine Tibeterin getroffen. Sie spielte in einer Band, die ethnische tibetische Melodien mit Rock vermischt.

Bist Du im Kontakt mit im Ausland lebenden Chines*innen über Dein Label?

Bin ich, aber tatsächlich eher über die Touren im Ausland, die ich für chinesische Bands organisiere. Die meisten Chines*innen, die ich im Ausland kenne, sind ausländische Studierende vom chinesischen Festland, die bereits in der Szene aktiv waren, bevor sie ins Ausland gingen. Ich hoffe, dass mehr Menschen außerhalb Chinas, sowohl ethnische Chines*innen als auch andere, etwas über die Bands und die Szene erfahren werden. Dies ist eine meiner nächsten großen Aufgaben: die Bekanntheit dieser Bands außerhalb Chinas zu verbessern.

Wir haben viel über Bands und die chinesische Musikszene gesprochen. Gibt es in China Fanzines? Wird Print als Medium noch verwendet? Oder sind alle Punks nur noch im Internet? Wie ist die Debattenkultur in den chinesischen sozialen Medien?

Leider gibt es keine oder nur sehr wenige Zines. Im Süden gibt es eher eine Zine-Szene mit Verbindungen nach Hongkong und Taiwan. Diese Szene wird jedoch angetrieben von der dortigen Kunstszene. Zeitschriften und Zines waren in China Ende der 1990er Jahre bis etwa zum Jahr 2004 sehr wichtig. Seitdem passiert der Großteil des DIY-Schreibens online. In den letzten Jahren ist die Anzahl der öffentlichen Accounts bei WeChat stark angestiegen. WeChat funktioniert ähnlich wie Facebook-Seiten, aber die Postings sind in der Regel längere Artikel. Dies hat zu einem Anstieg neuer Texte in der Underground-Szene geführt. Diese Texte sind über Dein Smartphone abrufbar und somit ist das eine sehr effektive Methode Texte zu verbreiten, besonders in einem Land, in dem praktisch jede*r ein Smartphone besitzt. Natürlich kann alles was online ist schnell verschwinden, wenn es anstößig ist. Täglich werden jedoch so viele Artikel veröffentlicht, dass nur die krassesten Texte gegen die Regierung ins Visier genommen werden.

Es gab zuletzt in deutschen Medien einige Artikel über die neuen sozialen Kontrollmechanismen im Land, wie zum Beispiel dem China Social Credit System. Wie viele Punkte bekommst du, wenn Du Punk bist? Zählt ein Mohawk oder ein Tattoo extra? Und ohne Spaß: Wird in einer Szene darüber diskutiert und gibt es Ängste?

Chinas neues soziales Kreditsystem ist noch nicht voll zum Tragen gekommen. Und wie bei so vielen Dingen ist das westliche Verständnis von China schwierig. China ist bei Weitem nicht so monolithisch, wie wir es uns wünschen würden. China verändert sich und die Regierung erweitert ihre Macht, hin zu einer direkteren Kontrolle. Der größte Druck besteht jedoch weiterhin in Form der Bürokratie. Anstelle eines allgegenwärtigen autoritären Systems begegnest Du einem Heruntersickern von Macht und Kontrolle hin zu Personen, die nur denjenigen gegenüber verantwortlich sind, die sich direkt über ihnen befinden. Dies ermöglicht Variationen der Macht, die sich der lokalen Situation und den agierenden Personen anpassen. Dieses System basiert darauf, sich gegenseitig zu kennen. Das schafft kleine Freiheiten im System. Es schafft aber auch ein konservatives Umfeld der Selbstzensur, in dem niemand etwas riskieren möchte. Zumindest nichts, was jemanden, der höher im System steht, missfallen könnte. Während der Westen also versucht, China zu verstehen, bleiben die tatsächlichen Kontrollmechanismen viel stärker in dem sozialen und gesellschaftlichen System verborgen. Wenn Du dazu weitere Informationen suchst, lies mal den Artikel von Radii China (https://radiichina.com/into-the-black-mirror-the-truth-behind-chinas-social-credit-system/).

Es gab unter westlichen Beobachter*innen sehr große Hoffnung, dass sich China nach den Olympischen Spielen 2008 in Beijing öffnen würde. Es scheint, dass das Gegenteil passiert ist. Einschränkungen für NGOs und Aktivist*innen sind wesentlich stärker geworden. Ist die Punkszene davon betroffen?

Die Kultur ist davon definitiv betroffen, wenn auch nicht auf die eher einfache Art und Weise, wie wir uns das im Westen vorstellen. Es ist unmöglich zu sagen, wie die Dinge anders aussehen würden unter anderen Rahmenbedingungen, denn die einheimischen Künstler*innen spiegeln ihre Erfahrungen in Chinas sozialem und politischem Umfeld auf jede erdenkliche Weise wider. Underground-Punkbands dürfen existieren, aber es gibt sehr unscharfe und undeutliche Linien und Grenzen. Je mehr und je deutlicher Du diese überschreitest, desto mehr Einschränkungen wirst Du erfahren. Die Menschen lernen auch, wo sich Grenzen befinden und vermeiden die Überschreitung auf kreative Art und Weise. Oder sie zensieren sich selbst. Das bedeutet nicht, dass es keine Musiker*innen und Bands gibt, die sich äußern würden. Es gibt diejenigen, die Metaphern oder Allegorien verwenden, und diejenigen, die Situationen vermeiden, die sie selbst gefährden könnten. Ich würde gerne mehr persönliche Freiheiten in China sehen, aber ich würde auch gerne mehr gemeinschaftliche Freiheiten im Westen sehen, wie das Recht auf angemessene Unterkunft, Bildung, Gesundheitsfürsorge und angemessene Ernährung. Dies gilt vor allem für die Zentren des neoliberalen Kapitalismus. Als Punk muss ich sagen, lasst uns alle zusammen kämpfen, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Sehr schöne Schlussworte, die ich nur unterstützen kann. Vielen Dank für das Interview!

Mika

Homepage:
https://fanzuixiangfa.bandcamp.com/

(die Seite von Genjing Records ist aktuell nicht mehr aufrufbar, Facebook geht aber, der Uploader)

Fanzui Xiangfa are:
Kuang Ma – Drums / Vocals
Ni Fan – Guitar / Vocals
Mao Bing – Bass / Vocals
Chong Zhuang – Guitar
Liu Liu – Vocals

Fanzui Xiangfa Discography:
– 2006 Criminal Minds (Eigenvertrieb)
– 2009 Split 7inch mit Daighila ( Genjing, tenzenmen, Revulsion, Eastcore)
– 2010 Split 7inch mit SS20 (Genjing, W.I.F.A.G.E.N.A., Crapoulet)
– 2011 7inch (Genjing, Depraved & Devilish, Crapoulet, tenzenmen, Kawaii, Up The Punx)
– 2014 Split 7inch mit Bad Nerve (Genjing)
– 2014 Discography 2006 – 2014 (Genjing)

China Punk and Hardcore (YouTube-Channel):
https://bit.ly/2TN7YgE

Gesamte Discography von Fanzui Xiangfa (YouTube):

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