April 14th, 2020

Gastbeitrag zum Thema „Die Krise“ Kollektiv Wildcat aus #143, 2010

Posted in artikel by Jan

Runde zwei der Gastbeiträge zum Thema „Krise“

In den letzten zwei Trustausgaben erschien der erste Beitrag (Runde eins), verfasst von Rainer Roth, Autor des Buches „Nebensache Mensch. Arbeitslosigkeit in Deutschland“. Jetzt gehen wir in die zweite Runde mit dem Text des Kollektives Wildcat. Am Ende des Jahres lest ihr dann den letzten Beitrag für diese Rubrik (von Sylvia Bayram, Autorin des Buches „Globalisierung Macht Krise“).

Autor dieses Beitrags: Das Kollektiv Wildcat. Die Wildcat ist eine linksradikale Polit-Zeitschrift, die seit den 80er Jahren erscheint und uns im Trust durch ihre gut geschriebenen (internationalen) Analysen begeistert. Dieser Text hat folgenden Aufbau: Krise, selber gemacht, Hass aufs Fließband, Globalisierung, Angriff auf alles Kollektive, Die Krise vereinigt uns nicht automatisch…, aber sie entlegitimiert den Kapitalismus und macht den Blick frei, Banken raushauen Immobilienkrise … und Bankenkrise… hängen zusammen, Zombiebanken und Staatspleiten, Die Brandherde sind nicht gelöscht, »Eurokrise«. Die Einschläge kommen näher, Don’t Trust your enemies – Selber machen!, Do it Yourself!

Krise, selber gemacht Wir berichten in der Wildcat seit über zwei Jahren kontinuierlich über die Krise – Analysen, bestimmte Aspekte wie die Krise des Autos, das Zerbrechen »Chimericas« usw. Vieles davon ist online (http://www.wildcat-www.de/dossiers/krise/dossiers_krise.html). Deshalb gehen wir hier nicht noch mal auf die ganzen Einzelheiten ein. Stattdessen wollen wir uns angucken, was die Krise mit uns zu tun hat, und was in nächster Zeit auf uns zukommt. Kein Bock, als Opfer zu enden! Fachbegriffe ließen sich nicht immer vermeiden. Aber wir haben strikt drauf geachtet, dass Ihr alles im wikipedia findet, wenn Ihr was nachschlagen wollt.

Hass aufs Fließband
Die aktuelle Krise ähnelt in ihrem Verlauf und in ihrer Reichweite der Großen Depression von 1873 bis 1896. Erst in dieser long depression ist das entstanden, was wir als »Kapitalismus« kennen: Konzerne; Chemie-Industrie (Dünger für die Landwirtschaft; Plastic People; Bhopal; …); Sozialdemokratie und Gewerkschaften; die Dritte Welt; die Beleuchtung von Städten; Erdöl als Energiebasis; die industrielle Massenproduktion von dauerhaften Konsumgütern (Kühlschränke, Autos…). Im Zentrum dieser Konstellation stand das Fließband. Mit ihm wurde es möglich, frisch vom Land rekrutierte Arbeitskraft auszubeuten.

Die Ingenieure, die damals die ersten Fließbänder entwickelten, nannten das Fließband hinter vorgehaltener Hand »Bauerngeschirr«, denn hier schuftete nun eine andere Arbeiterklasse als die der traditionellen Arbeiterbewegung: multinational zusammengesetzte Migranten, in großen Teilen weiblich, vielsprachig und fast immer frisch »vom Acker weg« rekrutiert. Das Fließband geriet in den 60er Jahren in die Klemme: auf der einen Seite entstand eine weltweite (Jugend-)Bewegung, die Beruf, lebenslange Maloche und Karriere ablehnte, auf der anderen Seite drückten die FließbandarbeiterInnen von Detroit bis Turin, von Köln bis Togliattigrad, von Argentinien bis Südafrika mit militanten Streiks und Fabrikbesetzungen ihren Hass auf die Arbeit aus. Somit schlitterte die gesamte Konstellation weltweit in die Krise, was sich in der »Ölkrise« 1973 und der weltweiten Rezession 1979 ff. spektakulär ausdrückte.

Die Kapitalisten antworteten im wesentlichen mit zwei Strategien: Zum einen verlagerten sie Fabriken und ganze Branchen in andere Teile der Welt. Zum anderen entdeckten sie »Finanzanlagen« wie Währungsspekulation, Aktien, Immobilien, Schuldverschreibungen als sicherere Formen der Geldvermehrung als die riskant gewordene Ausbeutung von FabrikarbeiterInnen; seither haben sich die Finanzströme mit (wesentlich) größerer Geschwindigkeit als die »reale Ökonomie« entwickelt. Kein Wunder, dass fast alle Krisen seither in diesen Finanzblasen entstanden sind: die Verschuldungskrise der Dritten Welt in den 80er Jahren, die Sparkassenkrise in den USA Ende der 80er Jahre, die Rubelkrise in den 90er … und schließlich die aktuelle Krise, die als Finanz- und Bankenkrise ausgebrochen ist.

Die ganze Zeit über hat aber die erste Strategie zu einer weltweiten Proletarisierung geführt, wobei schließlich auch die letzten beiden großen Reservoirs globaler Arbeitskraft (Indien und China) angestochen wurden. Das hat eine ungeheure Bedeutung, denn zum ersten Mal ist wirklich die ganze Menschheit von einer Weltwirtschaftskrise betroffen. Der Kapitalismus war 200 Jahre lang in der Lage, Verteilungskämpfe durch Wachstum zu »unterlaufen«; das ist ans Ende gekommen. Besonders in China, wo die Herrschenden seit dem Tian’anmen-Massaker am 4. Juni 1989 die Flucht nach vorn angetreten haben und davon ausgehen, dass mindestens 8 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr nötig sind, um soziale Unruhen zu verhindern, steht die Situation auf Messers Schneide.

Dort kämpfen die Kapitalisten bereits mit einer Arbeitskraftverknappung – die neue Generation der WanderarbeiterInnen will nicht mehr am Fließband arbeiten. In den letzten Wochen mussten sie in vielen Fabriken großen, zweistelligen Lohnerhöhungen zustimmen, und trotzdem ist noch nicht klar, ob sie damit die dortige Streikwelle brechen können. Nach allen Kriterien, die man gewöhnlich so anlegt (Entwicklung der Profitrate, der Akkumulationsrate, der Reallöhne, Wachstum des Bruttosozialprodukts…), ist der Kapitalismus seit Beginn der 70er Jahre in einer Stagnationsphase. Gerade auch die Linke ist immer wieder drauf reingefallen und hat die jeweiligen Krisenmanöver als neues kapitalistisches Modell propagiert: Postfordismus, Toyotismus usw.

In der aktuellen Weltwirtschaftskrise sagt aber sogar der Urvater des deutschen »Postfordismus«-Gelabers, Joachim Hirsch, das sei wohl ein Missverständnis gewesen… Nach nun 37 Jahren (seit der »Ölkrise«) lässt sich feststellen: Ein Akkumulationsregime ist erschöpft, und kein neues ist in Sicht – die aktuelle Krise geht sogar tiefer als die long depression, damals waren nach zwei Jahrzehnten die Umrisse eines neues Akkumulationsregimes klar.

Globalisierung
Beverly Silver (»Forces of Labor«) hat das 20. Jahrhundert auf den Zusammenhang zwischen Arbeiterkämpfen und kapitalistischer Entwicklung untersucht. Besonders genau hat sie dabei den »räumlichen fix« unter die Lupe genommen: Das Kapital weicht an einen anderen Ort aus, wenn es zu Kämpfen kommt. Sie konnte aber z.B. anhand der Autoindustrie zeigen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis am neuen Ort wieder die selben Kämpfe entstehen. Besonders spektakulär war das z.B. im Fall Südkoreas, wo sich die ArbeiterInnen in zwei Jahrzehnten soviel erkämpften wie die englische Arbeiterklasse zuvor in einem ganzen Jahrhundert. In China passiert das gerade in diesen Wochen mit noch größerer Geschwindigkeit! Nach einem Vierteljahrhundert der »Globalisierung« lässt sich sagen, dass auch kulturell heute »ein Jugendlicher aus Singapur, Mailand oder Taiwan einem aus Tokio, New York oder Paris näher steht, als vor fünfzig Jahren ein Einwohner Schwabings einem Gleichaltrigen aus Mecklenburg.« (Wildcat 86: Can anyone say…?)

Angriff auf alles Kollektive
Beverly Silver konnte auch zeigen, dass die Abwesenheit von Kämpfen fast immer was mit der Abwesenheit von kapitalistischer Entwicklung zu tun hat. Dazu kommt aber ein zweiter Punkt: Die kapitalistischen und staatlichen Maßnahmen seit den 70er Jahren waren immer darauf gerichtet, jedes kollektive Subjekt zu zerstören. In den Betrieben wurden die Leute in Stamm- und Randbelegschaften, Festangestellte und Befristete, Stammwerker und Leiharbeiter usw. aufgespaltet. Und vom Staat wurden die Leute mit allen Mitteln gedrängt, sich selbständig zu machen. Kollektive Sicherungssysteme wie die Renten wurden ausgehöhlt und die Leute gezwungen, sich privat zu versichern.

Dies hat deshalb so gut funktioniert, weil die breiten Bewegungen (»68«, Heißer Herbst usw.) entgegen der damaligen Erwartungen nicht zur Revolution führten. Der Hass aufs Fließband setzte sich deshalb in individuelle Fluchten um: mehrere Ausbildungen machen, dazwischen Arbeitslosengeld ziehen, »jobben«. (Die Wildcat ist entstanden aus einer »Jobbergruppe« Anfang der 80er Jahre in Karlsruhe). Auch kulturell lief dieselbe Schiene: aus der breiten Hippie/Rock/Jazz/DIY-Bewegung der 60er und 70er wurde das individualistische »no future«-Punk-Statement der späten 70er. Ein breiter, stilübergreifender underground splittete sich auf in tausend Musikstile, die »Identität« und »Abgrenzung« versprachen (»mainstream der Minderheiten«).

Trotzdem sollten wir nicht den Kopf verlieren, und uns das nicht als »Fortschritt« andrehen lassen; eine Gesellschaft voller Ich AGs und Kleinstselbstständigen ist immer eine rückständige Gesellschaft – Entwicklung der Produktivität im Kapitalismus setzt nach wie vor die massenhafte Konzentration von Menschen voraus. Vielen dürfte erst durch die Selbstmordserie bei Foxconn klargeworden sein, dass in dieser chinesischen Fabrik 300 000 Menschen arbeiten! Die Frage, die wir genauso an soziale Konflikte wie an Arbeiterkämpfe wie an kulturelle Entwicklungen stellen ist: entsteht darin ein neues kollektives – öffentliches – Subjekt, das den Kapitalismus herausfordert? (oder kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Arsch?)

Die Krise vereinigt uns nicht automatisch…
In der BRD herrscht seit dem Sommer 2007, als mit dem Bankrott der IKB die Krise auch hier ankam, eine seltsame Stimmung: Man weiß, es wird böse enden – gesamtgesellschaftlich ist aber wenig zu spüren. Die Arbeitslosigkeit ist seit dem Sommer 2007 nur um 0,5 Prozent gestiegen (in Spanien hat sie sich in dieser Zeit verdoppelt und zwar auf 20 Prozent!) und im Juni 2010 sogar leicht gesunken. Die Maßnahmen der Regierung tragen dazu bei, die Leute in Krisengewinnler und Krisenverlierer zu spalten. Die Abwrackprämie galt z.B. nicht für HartzIV-Bezieher, und auch beim im Juni 2010 verkündeten 80-Mrd.Sparpaket ist die einzige konkrete Maßnahme, Müttern mit HartzIV das Elterngeld wegzunehmen. Während die Industrie überall die Kurzarbeit zu einer massiven Intensivierung der Arbeit und weiterer Flexibilisierung benutzte, wurde in der Öffentlichkeit verbreitet, die Leute in Kurzarbeit seien die »Glücklichen«, weil sie vor Arbeitsplatzverlust »gerettet« wurden.

Und im Vergleich zu den paar hunderttausend LeiharbeiterInnen, die kurz und schmerzlos rausgeschmissen wurden, mag das sogar stimmen. Die Regierung tut alles, um die Banken zu retten. Zunächst im Herbst 2008 mit der Erklärung Merkel/Steinbrücks, die Sparanlagen seien sicher und mit über 100 Mrd. Euro allein für die bankrotte Hypo Real Estate. Im April und Mai wurde ein »Euro-Rettungspaket« von insgesamt 860 Mrd. geschnürt – das in Wahrheit wiederum ein Paket zur Rettung der Banken war. Aber wenn wir an diesen Maßnahmen nur moralisch kritisieren, dass die Banker zu viel verdienen, verpassen wir den sozialen Inhalt des ganzen: Es spaltet uns in diejenigen, die was »gespart« haben und diejenigen, die HartzIV kriegen und gar nichts mehr sparen dürfen! Wir müssen radikaler an die Sache gehen.

… aber sie entlegitimiert den Kapitalismus und macht den Blick frei.
Bezeichnenderweise konnte Attac die Krise gar nicht nutzen. Die reale Entwicklung überholt ihre Forderungen. Leider ist in der BRD die sogenannte radikale Linke nicht von Attac oder Ver.di zu unterscheiden; nicht nur die Parolen sind dieselben (»Wir zahlen nicht für Eure Krise«), auch die Aktionsformen (Latschdemos mit vorgefertigten Fähnchen) und die Forderungen (der starke Staat soll uns vorm »Casinokapitalismus« retten).

Rainer Roth hat im letzten Trust ganz gut erklärt, dass diese Krise politisch nicht zu regulieren ist, und das ganze Gemache von PDS bis Attac illusorisch (»Sie kriegen den Karren nicht flott«). Die Krise ist eine Systemkrise, sie erfordert und ermöglicht fundamentale Klärungen, es gibt keinen Spielraum mehr für reformistische Projekte. In Umfragen sagen so viele Menschen wie noch nie, der Kapitalismus sei schlecht – und zwar weltweit! Aber nur die wenigsten haben eine Vorstellung davon, wie wir ihn loswerden können. Deshalb ist »Griechenland« im Moment so wichtig, als erste offene Konfrontation um die Krisenpolitik der Herrschenden; und noch dazu vor dem Hintergrund des dortigen Aufstands im Dezember 2008! Trotz der ganzen Hetze der Bildzeitung und der meisten Politiker hat sich die Meinung vieler Leute in Bezug auf »die Griechen« positiv gedreht, als sie im Fernsehen Bilder von Demos und Straßenkämpfen sahen. Die Krise ist auch eine historische Chance, mit dem Kapitalismus Schluss zu machen. Aber die Krisenpolitik der Herrschenden drückt uns bisher völlig in die Defensive. Deshalb gucken wir uns diese im nächsten Punkt mal genauer an.

Banken raushauen

Immobilienkrise…
Aus dem »Dot-Com-Crash« 2001 kamen die USA nur heraus durch aggressive Zinssenkungen, die zu einer gewaltigen Immobilienspekulation führten, die Hauspreise stiegen bis 2007 jährlich zwischen 10 und 15 Prozent. Als dieser Boom 2003 an Schwung verlor, wurde der Immobilienmarkt dereguliert, Leuten wurde ein Haus auf Pump verkauft, die sich das gar nicht leisten konnten (subprime-Markt). Es war nur eine Frage der Zeit, bis das crashen würde. Die Krise wurde am Anfang subprime- oder Immobilienkrise genannt, weil das Kartenhaus von diesem Ende her einzustürzen begann: viele Leute mit niedrigem Einkommen konnten ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen, und die Banken konnten zwar die Häuser pfänden, wurden sie aber bei fallenden Immobilienpreisen nicht mehr los.

… und Bankenkrise…
Deshalb wurde aus der Immobilienkrise sofort eine Bankenkrise – noch potenziert durch die »strukturierten Finanzprodukte« und das Schattenbankensystem, das eben diese Banken aufgezogen hatten. »Strukturierte Finanzprodukte« sind im wesentlichen Verbriefungen von Schulden, die zu einem Paket zusammengeschnürt und dann weiter verkauft werden. Die Banken hatten Zweckgesellschaften gegründet, deren einziger Zweck die Emission solcher Wertpapiere war, damit diese Geschäfte nicht in ihren eigenen Bilanzen auftauchten. Die Käufer der Papiere schnürten die darin enthaltenen »Kreditbündel« häufig auf, verknüpften sie mit anderen Paketen und verkauften sie weiter. Am Ende wusste niemand mehr, wer die riskanten Kredite eigentlich besaß – aber alle wussten, was für ein großes und gefährliches Rad sie da drehten. Deshalb kam es sofort zur Panik an den Finanzmärkten, als im Juli 2007 die kleine Düsseldorfer IKB vor dem Kollaps stand, weil ihre Zweckgesellschaft Rhineland Funding sich auf dem US-Hypothekenmark verspekuliert hatte. Die Bankenkrise war in Europa angekommen; trotzdem wurde bei uns noch bis zur Lehman-Pleite im Herbst 2008 von Regierungsseite verkündet, es handele sich um eine »amerikanische Krise«.

… hängen zusammen.
Die Immobilienkrise ist bis heute nicht gelöst – weder in den USA noch in Spanien. Den Startschuss zur jetzigen Staatsschuldenkrise gab im November 2009 Dubai – auch dort handelte es sich um einen geplatzten Immobilienboom. Es ist eine Pattsituation entstanden: der Immobiliensektor (in den USA) muss weiterhin mit Niedrigstzinsen und vielen hundert Milliarden Dollar gestützt werden, dadurch läuft aber die Geldpolitik aus dem Ruder und werden »Zombiebanken« künstlich am Leben gehalten.

Zombiebanken und Staatspleiten
Seit Herbst 2008 haben die Staaten mit bis dato unvorstellbaren Summen die Kernschmelze des globalen Finanzsystems verhindert. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft beziffert die globalen staatlichen Konjunkturhilfen auf rund drei Billionen US-Dollar, ca. 4,7% des weltweiten Bruttosozialprodukts. Dazu kommen laut IWF die Kosten der Banken-Bailouts in Höhe von 13,2 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Insgesamt wurden also 12 Billionen Dollar an zusätzlichen Staatsschulden aufgenommen – ein Vielfaches der Konjunkturprogramme der New Deal-Ära, während gleichzeitig die Steuereinnahmen drastisch zurückgingen. In der Folge sind die Staatsschulden hochgeschossen – und kommen jetzt als Bumerang zurück.

Nach einer Finanzkrise kommen Staatspleiten, das war in der Geschichte immer so, und es wird diesmal angesichts der Rekordverschuldung erst recht so sein. Der Harvard-Professor und ehemalige Chefökonom des IWF, Kenneth Rogoff, hat zusammen mit seiner Kollegin Carmen Reinhart die Staatspleiten der vergangenen 800 Jahre untersucht und dabei eine kritische Schwelle festgestellt: Staatsschulden von mehr als 90 Prozent des BIP. Dann fließt nämlich soviel Geld in den Zinsdienst und die Haushaltssanierung, dass das Land in eine Dauerflaute gerät. Die Bankenrettungsprogrammen haben Banken am Leben gehalten, die insolvent sind. Man spricht dann von Zombiebanken. Sie kriegen von der Notenbank Geld praktisch zu Null Prozent Zinsen und können damit ihre laufenden Kredite refinanzieren, können aber keine Tilgungszahlungen leisten.

Da aber die langfristigen Zinsen deutlich höher sind als die kurzfristigen und die Nachfrage nach Krediten aus der »Realwirtschaft« in der Krise stark zurückgegangen ist, kaufen sie riskante Anleihen (deren Zinsen noch höher sind). Die geretteten Banken haben somit noch stärker spekuliert als vor der Krise – im kapitalistischen Sinn blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Aufgrund dieser Risiken wären einige Banken zusammengebrochen, wenn Griechenland im Frühjahr 2010 »umgeschuldet« hätte (Argentinien hat z.B. 2002 rund 70 Prozent seiner Schulden gestrichen).

Griechenland wäre mit einer Insolvenz und Umschuldung wesentlich besser gefahren. Aber beim Zustand der europäischen Banken Anfang 2010 hatten die Politiker keine Wahl: Sie mussten wiederum erstmal das Bankensystem retten. Denn die europäischen Banken sind unterkapitalisiert und sitzen noch immer auf einer riesigen Müllhalde fauler Kredite. Ende der ersten Maiwoche war der Interbankenhandel praktisch zum Erliegen gekommen. Wie beim Ausbruch der Finanzkrise 2007 fehlte es wieder an »Vertrauen«, weil die Banken nicht wussten, welche Papiere der andere auf den Büchern hat. Und wie im Herbst 2008 wurden wieder viele hundert Milliarden Euro reingepumpt – von denen niemand weiß, wer sie bezahlen soll.

Die Brandherde sind nicht gelöscht
In den zehn Jahren vor Ausbruch der Krise waren Welthandel und Weltwährungssystem nur einigermaßen intakt durch ein symbiotisches Verhältnis zwischen den USA und China, für das sich im Englischen der Begriff »Chimerica« gebildet hat (aus China/Amerika und Chimäre). Der Mechanismus lässt sich so zusammenfassen: In China hergestellte Waren werden gegen Dollar verkauft; mit diesen Dollars kauft China dann Anleihen der US-Regierung; das ermöglichte den US-Immobilienboom; dadurch konnten sich die »amerikanischen Konsumenten« noch mehr Geld leihen (Hypotheken auf die Häuser), um damit noch mehr chinesische Waren zu kaufen. Überkapazitäten in China wurden ausgeglichen durch »Überkonsum« in den USA. Länder hingen am selben Wachstumsmodell: der immer weiteren Vervielfachung des US-Konsums durch Kredite. Finanztechnisch standen die amerikanischen Banken, Hypothekenbanken und Versicherungen im Zentrum dieser Konstellation.

Sie waren von der Krise am meisten bedroht, und sie mussten rausgehauen werden, koste es was es wolle. Aber wenn man bedenkt, wie viel Geld diese Rettung gekostet hat und wie sehr China, die USA und die europäischen Staaten (von Japan ganz zu schweigen!) sich dafür verschuldet haben, ist das Ergebnis äußerst bescheiden; die Verfassung der Weltwirtschaft im Sommer 2010 ist desaströs. Die globale Krise spult sich seit 2007 wie in Zeitlupe ab, wie ein in hohem Maß vorhersehbares Bühnenstück. In der aktuellen Szene merken die Regierungen, dass der Aufschwung durch die Staatsschuldenkrise stark verlangsamt wird, und dass sie in die Klemme geraten zwischen sozialstaatlichen Ansprüchen (Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, vor allem aber Renten) und der Panik der Kapitalanleger, sie müssten vielleicht doch noch die Rechnung bezahlen (wenn z.B. Griechenland »umschuldet«).

Die Regierungen stehen vor der Wahl zwischen sozialen Unruhen und Bankrott; sie haben die Brandherde (Immobilien und Banken) nicht gelöscht, sind aber so verschuldet, dass eine weitere Rettungsaktion im Ausmaß der bisherigen unmöglich ist. Ende Juni wies die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die Bank der Notenbanken, darauf hin, dass eine neue Finanzkrise droht, die Staaten aber wegen ihrer immens hohen Verschuldung »kaum noch Spielraum für neue Hilfsprogramme« haben. Alle sind hyper-nervös.

»Eurokrise«. Die Einschläge kommen näher
Das »Hilfsprogramm« Ende April verlangte von Griechenland, dreizehn Prozent des BIP einzusparen. Auf die BRD umgerechnet wären das jährlich 62,4 Mrd. Euro. Das würde z.B. bedeuten, in den kommenden fünf Jahren die Ausgaben für Hartz IV zu halbieren, den Autobahnbau und -unterhalt komplett einzustellen, die Bundeswehr, das Bundesverteidigungsministerium und die Entwicklungshilfe abzuschaffen. Das Hilfspaket verschlimmert die Situation Griechenlands und verschiebt lediglich die Umschuldung. Durch die nochmals verschärften Sparprogramme wird die Arbeitslosigkeit steigen, die Wirtschaft stagnieren, die Löhne und Sozialleistungen werden noch weiter gesenkt. Voraussichtlich wird das griechische BIP in diesem Jahr um 2,5 Prozent schrumpfen.

Aber selbst wenn es – wie von EU und IWF »vorausgesehen« – in den Jahren darauf dann vier Prozent wachsen sollte, kann das Land daraus keine fünf bis sechs Prozent Zinszahlungen erzeugen, und wird durch den Zinseszinseffekt in absehbarer Zeit in noch größere Bedrängnis kommen. Mal davon abgesehen, ob sie es überhaupt politisch gegen die Leute durchsetzen können, schon rein ökonomisch gesehen kann Griechenland das verordnete Sparpaket gar nicht stemmen! Allein durch massiv sinkende Löhne und Sparen an allen Ecken kann Griechenland weder zum Exportland von Industrieprodukten werden, noch wird z.B. die griechische Landwirtschaft konkurrenzfähig. Lediglich der Tourismus kann durch billigere Preise in Konkurrenz zu Slowenien, Kroatien, Montenegro und der Türkei wachsen. Offenkundig will die EU Griechenland in eine Art kontrollierte Depression drücken, an deren Endpunkt die griechischen Löhne konkurrenzfähig sind zu denen in Ex-Jugoslawien, Bulgarien und Albanien.

Konsequenterweise haben die Ratingagenturen griechische Banken herabgestuft, als die Sparprogramme verabschiedet wurden, denn deren Probleme werden mit zunehmenden Insolvenzen der Privathaushalte und der Unternehmen in Griechenland deutlich größer werden. Das Problem ist nicht auf Griechenland begrenzt. Spanien, Portugal, Großbritannien werden als die möglichen nächsten Pleitekandidaten gehandelt. Aber explosiv ist das ganze, weil der Dominostein USA bedroht ist. Die »Eurokrise« war nur der Anfang, die Peripherie Europas war nur das offensichtliche schwache Glied in der Kette, der wirkliche Dominostein, der zu fallen droht, sind die USA.

Sie stehen nach wie vor im Zentrum der globalen Schuldenkrise. Die US-Gesamtverschuldung lag schon Anfang 2008 beim Dreieinhalbfachen des BIP und nähert sich inzwischen der 400%-Marke – in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre war sie nie über 260% gestiegen! Das Verhältnis der Verschuldung des US-Privatsektors zum Bruttoinlandsprodukt ist von 50 Prozent in den 50er-Jahren auf nun 300 Prozent gestiegen. Ende Mai 2010 stieg die Staatsverschuldung der USA erstmals über 13 Billionen US-Dollar, damit sind die berüchtigten 90 Prozent des BIP erreicht. Deshalb sagte Nouriel Roubini ganz richtig Griechenland sei nur »der Kanarienvogel im Kohlenbergwerk«, »in den nächsten zwei oder drei Jahren werden die fiskalischen Probleme der USA in den Vordergrund rücken«, »das Risiko, dass den USA etwas Ernstes passiert, ist erheblich.« (FTD 29.4.2010) Die »Euro-Krise« kam in einer für die USA sehr ungünstigen Situation.

Der von der US-Notenbank bewusst ausgelöste Aktienboom hatte zwar statistisch gesehen die Rezession beendet, es kam zu einem zaghaften Aufschwung mit höherer Produktion – aber nicht zu steigender Beschäftigung. Deshalb gelingt es dem Staat nicht – trotz eines Haushaltsdefizits von knapp 11 Prozent! – den zurückgehenden Privatkonsum auszugleichen. Bezeichnenderweise traut sich die Fed seit 14 Monaten nicht, die Zinsen von ihrem historischen Tiefstand zu erhöhen. Während wir diesen Artikel schreiben (Ende Juni) jagen die »US-Verbraucher« neue Schockwellen durch die Fianzmärkte. »Absturz bei der Laune der US-Konsumenten«, »Investoren reagieren verschreckt. Der Dow Jones fiel um 2,5 Prozent, der Nasdaq um drei Prozent« usw. Das liegt daran, dass weltweit niemand den (schuldenfinanzierten) Konsum der USA ersetzen kann. Und dass wenn alle sparen und sich über den Export sanieren wollen, globale Handelskriege drohen.

Don’t Trust your enemies – Selber machen!
Die Einschläge kommen näher – aber die Kämpfe auch. Und das ist – Griechenland – nicht nur nach Kilometern gerechnet. Die Streiks in China haben heute unmittelbarer mit uns zu tun als z.B. die riots in Nordafrika in den 80er Jahren. Es ist vielleicht schon wieder vergessen, aber 2008 gab es auf der ganzen Welt spontane Revolten gegen die Verteuerung der Lebensmittel (Mexiko, Marokko, Indien, Mauretanien, Tunesien, Kamerun, Senegal, Jemen, Elfenbeinküste, Haiti, Ägypten, Burkina Faso, Bangladesh, Somalia und Kenia) und bereits im Herbst 2008 sehr massive Reaktionen der chinesischen Arbeiterklasse gegen die Entlassungswelle (FabrikarbeiterInnen, TaxifahrerInnen, LehrerInnen). In den drei Jahren vor dem Kriseneinbruch hatten sogar in der BRD die Streiks Jahr für Jahr zugenommen, es gab Mobilisierungen an den Unis und an den Schulen…

Aber seit der Lehman-Pleite und den Bankenrettungsprogrammen im Herbst 2008 war großteils Ruhe im Karton. In der größten Umverteilung in der Geschichte von ganz vielen zu ganz wenigen Menschen wurde zwar viel Kritik am Kapitalismus laut – aber die Hoffnung in seine Reformierbarkeit herrscht noch immer vor. Insgesamt kam der globale Kapitalismus relativ unangefochten durch die bisherige Talsohle der Krise von Herbst 2008 bis Frühjahr 2009. Erstmal kein Grund zur Verzweiflung, denn in der Geschichte sehen wir dasselbe Muster: die Kämpfe liefen meist nicht in der Kernphase der Krise, sondern in der Stagnationsphase danach. In dieser Phase sind wir jetzt. Was geht?

Seit etwa einem Jahr nehmen die Kämpfe gegen die Krise weltweit wieder zu, konnten aber zunächst in den Medien relativ leicht totgeschwiegen werden. Mit »Griechenland« änderte sich das. Anfang Mai stellte der Economist auf seinem Titel neben einem Bild von Straßenkrawallen in Athen die Frage: »Bald auch in Ihrer Nachbarschaft?« Das ist die eigentliche Dominotheorie: Werden sich die Kämpfe angesichts der krassen Sparprogramme ausweiten? Wenn es z.B. in Griechenland zu breiten sozialen Unruhen jenseits der gewerkschaftlich kontrollierten Demos kommt, hätte das international sofort Auswirkungen. Denn inzwischen tobt die Krise nicht nur in den USA, Irland und Spanien, im Herbst werden ihre sozialen Auswirkungen auch hier deutlich zu spüren sein. Und wenn Leute nicht nur mit irgendwelchen »armen Betroffenen« ihr Mitgefühl bekunden, sondern in das »Solidarisieren« die Wut über ihre eigene Situation einbringen, gibt das ganz andere Dynamiken, sind ganz andere Entwicklungen möglich. Wenn wir was reißen wollen, müssen wir das schon selber tun!

Die SPD hat HartzIV eingeführt, ohne die DGB-Gewerkschaften wäre es nicht durchzusetzen gewesen, wer heute noch auf solche Kräfte hofft, hat das Wesentliche nicht kapiert: nämlich dass sie auf der anderen Seite stehen. »Von unten« tut sich bisher nicht allzu viel, aber das kann sich schnell ändern! Die Mehrheit der Leute hat sich nicht gefreut, als der Kapitalismus im Herbst 2008 vorm Abgrund stand, offensichtlich sind ihre Lebensentwürfe noch zu eng mit dem System verwoben. Aber auch in der BRD sind in vielen Situationen (in Betrieben, Schulen, Unis…) »radikale Minderheiten« aufgetreten, die sich nicht mehr alles gefallen lassen (nur ein Beispiel: 2009 und 2010 innerhalb von sechs Monaten zwei wilde Streiks bei Daimler Sindelfingen – wann hat es das zum letzten Mal gegeben?).

Ein widersprüchliches Bild: die Mehrheit klammert sich in ihrer Angst vor dem Absturz noch stärker an institutionelle Vertretungen, die radikalen Minderheiten wissen noch nicht, wie sie ausbrechen, zur Mehrheit werden können. Eins ist jedenfalls sicher: solange »Kämpfe« darauf beschränkt bleiben, die eigene »Position« auszunutzen (den Betriebsrat vorschieben, damit er ne höhere Abfindung raushandelt; während des angeblichen »Streiks« an der Uni vor allem das eigene Studium schnell abschließen wollen; usw.), werden wir nicht zusammenkommen. Solange Leute die Ansicht vertreten »warum soll es anderen besser gehen als mir?«, werden sie uns weiter spalten und in immer elendere Bedingungen reintreiben. Wir müssen dafür kämpfen, dass es uns genauso gut oder besser geht! Erst bei Kämpfen, in denen die Leute ihre eigene Rolle (sei es als Arbeiter oder als zukünftige Elite) in Frage stellen und mit eigenem Einsatz kämpfen, wird das Feuer überspringen, und »Solidarität« keine leere Platzpatrone bleiben.

Do it Yourself!
Kollektiv Wildcat / 29. Juni 2010

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