Mai 4th, 2020

FREEGANISMUS aus # 168, 2014

Posted in artikel by Jan

How to try to suck less? – Von Nazi-Veganer_innen, Antifa-Sexist_innen, Gemüse aus dem Müll und den Herrschaftsverhältnissen dahinter

Am Anfang steht immer eine kognitive Dissonanz. Das ist der Moment, in dem das Gehirn dem gerade Erlebten nicht mehr folgen kann und sich ein großes Fragezeichen begleitet von einem inneren „HÄHH?!?“ im Kopf ausbreitet. Solche Momente kennt wohl jede_r. Bildungsforscher_innen behaupten gar, dass nur diese Momente der kurzfristigen Verwirrung nachhaltige Lernprozesse auslösen.

Musiker_innen besingen sie manchmal als Stein, der plötzlich im Weg liegt, eine_ n zum Stolpern bringt und alles, was man zu Wissen glaubt, in Frage stellen lässt. Momente, wenn man z.B. auf Demos zum ersten Mal feststellt, dass Polizist_innen eine_n nicht unbedingt beschützen. Oder wenn Dokus über die „moderne Tierhaltung“ die idyllischen Bauernhof-Bilderbücher aus Kindertagen als lügenbehaftete Propaganda entlarven. Oder wenn man feststellt, dass Menschen, die man lange geschätzt hat, plötzlich BWL studieren und finden, dass sie ja keine Rassist_innen sind, aber…oder wenn die Bildungsministerin des Landes, in dem man lebt, beim Spicken im Rahmen ihrer Doktorarbeit erwischt wird und nicht nur den Doktortitel, sondern den gesamten Hochschulabschluss aberkannt bekommt und somit (immerhin) eine Person mit Schulabschluss, aber sonst keiner weiteren offiziell abgeschlossenen Ausbildung ist. Ich persönlich finde das ja innovativ. Mehr davon, liebe Bundesregierung-ach ja, gibt es ja schon. Es waren ja noch einige andere Betrüger_innen unter den Doktortiteltragenden Regierungsbeamt_innen. Aber das hat ja wohl bei niemanden mehr kognitive Dissonanzen ausgelöst.

Nicht jede_r braucht stetig Momente kognitiver Dissonanz, um zu Lernen. Bei manchen reicht eine einzige Erschütterung aus, um immer weiter voran schreitende Lern- und Entwicklungsprozesse auszulösen. Eine kleine Anzahl solcher Personen kann das dann wiederum in Handlungen und Aktivitäten umsetzten. Andere können nur einen kleinen Bereich aufnehmen und diesen Verfolgen. Das kann ein Schritt in die richtige Richtung sein, kann aber auch ein typischer Fall von „gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht“ werden. Insbesondere die Themen Konsum, Ernährung, sowie einige soziale/gesellschaftliche Zusammenhänge hiermit und Möglichkeiten zur Verweigerung der Unterstützung eines besonders perfiden Systems, stellen gute Beispiele für beide Möglichkeiten, aber auch Potenzial für kognitive Dissonanzen dar.

Laubesser_innen, Pflanzenhasser_innen und Traditionsverweigerer_innen
Dass es viele Gründe dafür gibt, Fleisch vom Speiseplan zu streichen, ist ja inzwischen bei einigen Menschen angekommen. Gründe hierfür können 1. Ethische Gründe, die mit dem Leid der Tiere und der mit Fleischkonsum verbundenen Mitweltschäden, sowie auf dem Zusammenhang von Fleischkonsum und Welthunger beruhen. 2. De-konstruktivistische bzw. antispeziesistische Gründe, welche die Kategorien Tier vs. Mensch ablehnen und genauso wie bei Rasse oder Geschlecht davon ausgehen, dass diese Kategorien nur gesellschaftlich konstruiert und somit nicht unbedingt wahr sein müssen (wo genau soll denn nun der gravierende Unterschied zwischen Mensch und Tier sein, der eine Grundlage dafür liefert, dass die Einen Menschenwürde- und Rechte erhalten und die Anderen ungehinderten Zugriff und Objektivierung ertragen müssen?). 3. Gesundheitliche Gründe (Fleisch enthält Antibiotika, ungesunde Fette und ist nachweislich Auslöser vieler unserer sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, etc.)

Der letztgenannte Grund hebt sich von den beiden anderen Gründen ab: Hier geht es nämlich darum, dass ICH krank davon werde, also esse ICH kein Fleisch mehr. Obwohl der Fleischverzicht als Lösungsansatz ja schon einen Weiterentwicklung gegenüber der Idee ist, einfach nur Medikamente zu nehmen und sonst nix zu ändern. Bedauerlicherweise fehlt beim zuletzt genannten Grund nur die Empathie für die andere Seite der Geschichte. Obwohl es ja auch Menschen gibt, die dadurch mit den Gründen 1 und 2 in Kontakt kommen. 4. Gibt es dann noch die, denen Fleisch einfach nicht schmeckt, die haben für die ganze Theorie dahinter aber keine weitere Relevanz.

Die ethischen und dekonstruktivistischen/antispeziesistischen Gründe vereinen sich (zumindest in der Theorie) im Veganismus: Hier wird (theoretisch) das Leid der Tiere (auch der kleineren Tiere, wie Bienen oder Läuse) bei allen Tierprodukten (Leder, Farbstoffe, Reinigungsmittel) bedacht, die Kategorie (überlegener) Mensch vs. (unterlegenes) Tier in Frage gestellt und Zusammenhänge wie Nachhaltigkeit (wo Menschen ausgebeutet werden, spielt auch die Mitwelt eine untergeordnete Rolle, es gibt immer einen Zusammenhang zwischen Mitweltzerstörung und Armut der Bevölkerung) oder die Benutzung von Produkten, die nur indirekt mit Tierleid zusammenhängen (Palmöl, Plastikverpackungen die die Weltmeere verschmutzen) ebenfalls mitbedacht. So könnte man meinen. Leider finden sich auch hier einige Merkwürdigkeiten wieder, die nicht unerwähnt bleiben sollen: Zum einen gibt es Menschen, die nur gerne einer Szene angehören und Schwanzvergleiche, wie „ich bin ja der bessere Veganer, weil…“ betreiben, aber die gibt es ja überall (Hände hoch, Gesicht zur Wand, hier kommt die Szenepolizei).
Eine andere Gruppe die sich eher nachgeordnet mit sozialkritischen Themen, der Theorie hinter dem Veganismus und Konsumkritik auseinandersetzt, sind die, nennen wir sie mal: Attila Hildmann Veganer_innen.

Angepasst sein und Aussehen statt anders sein
Atilla Hildmann, für die, die ihn nicht kennen, ist eine wahre Gallionsfigur oder sogar DAS Gesicht für den modernen Veganismus. Sowas wie Sid Vicious für Punk Rock. Atilla Hildmann war einst ein kleiner dicker Junge, der gemerkt hat, dass die pflanzliche Ernährung eine gute Art der Diät sein kann. Ob er dann auch Gedanken zum Thema Tierleid- und rechte entwickeln konnte oder nicht, kann ich nicht beurteilen, er spricht sie in seinen berühmten Kochbüchern aber an. Dass man mit einer bestimmten Ernährungsweise abnehmen und dabei auch noch Tierleid reduzieren kann, ist für sich genommen kein Problem. Aber: Viele Menschen, z.B. auch Hollywood Stars und andere fragwürdige Personen, schwören auf vegane Diäten. Zuerst kann man ja meinen, super, die vegane Idee findet so Anklang, jeder hört davon und ich kann irgendwann sogar im Aldi nach Tofu fragen ohne dass die Verkäuferin zurückfragt: „Watt iss denn bitte dieser Toffu?!?“.

Leider bleiben die Diät-Veganer_innen aber nicht bei ihrer veganen Lebensweise (bis auf eine kleine Zahl, die hierüber auch die ethischen Gründe kennen lernt) und diese Lebensweise verkommt zu einer Art stylischen Trend-Diät und genussvolle Art des Verzichts. So entwickeln sich daraus unter Umständen Abscheulichkeiten wie schicki-micki-schweine-teure Restaurants für unsympathische Hippster_innen mit hässlichen Stoffbeuteln und dämlichen Brillen. Außerdem kann so auch schnell der nächste Trend um die Ecke kommen und die vegane Diät gelangt in die Schublade der ausgedienten war-da-mal-irgendwas? Ex-Trends und wird als altmodisch denunziert. Außerdem werden bei diesem Trend wichtige Aspekte, wie zum Beispiel kein Leder, Wolle oder Seide zu tragen (eben weil es ja um mehr geht als nur um das Essen), vergessen. Alles, was aus rein selbstbezogenen Gründen praktiziert wird, kann keine Verbesserung der Gesamtsituation zur Folge haben und im Fall der Trend-

Veganer_Innen soll es das ja auch gar nicht. Es geht ja nur um eine_n selber.
Zurück zu Atilla. Klar, Hauptsache ist, dass die Idee erstmal viele Menschen erreicht und ich verurteile den Atilla ja gar nicht (glaubt mir das überhaupt noch jemand?), er hat mit Sicherheit einigen Leuten die Impulse geliefert, damit sie nach der Diät auch weiter über das Essen auf ihrem Teller nachdachten. Ihm ist also auch ein Teil der inzwischen großen Popularität des Veganismus zu verdanken. Aber hier ist noch ein weiteres schwieriges Macht- und Herrschaftsverhältnis als das zwischen Menschen und Tieren zu erkennen: Der Atilla ist nämlich nicht nur Veganer, sondern auch athletisch, jung und gutaussehend. Und genau dieses Aussehen will er mit seinen Büchern verkaufen.

Beim Atilla-Hildmann-Veganismus geht es nämlich auch darum, gesund und fit zu sein, also einem bestimmten gesellschaftlich geforderten Ideal zu entsprechen. Wer hierzulande diesen Idealen widerspricht, wird als behindert, fett oder undiszipliniert diskreditiert. Dieser Körperkult und das Streben nach dem perfekten Körper bei gleichzeitiger Abwertung der Abweichler_innen ist der Inhalt des sogenannten Bodyismus. Personen, die vom Ideal des schönen, athletischen und schlanken Körpers abweichen, bekommen darüber hinaus auch noch selbst die Schuld an ihrem „scheitern“ und der „fehlenden Selbstdisziplinierung“ was als Charakterschwäche gedeutet wird.

Wer aber hat etwas davon, wenn wir uns selbst perfektionieren, dressieren, fit und gesund halten? Einige würden jetzt sagen, na wir selber, weil wir so lange und gut Leben. Ich würde das bezweifeln und kühn behaupten, dass auch das dem System in dem wir Leben zuarbeitet, wenn wir selbst dafür Sorgen möglichst lange arbeits- und leistungsfähig zu sein. Denn das betrifft einen der wichtigsten Pfeiler des Kapitalismus: Die menschliche Leistungsfähigkeit, also die Arbeits- und Reproduktionskraft. Wer hier nicht alles geben kann oder abweicht, der ist heutzutage selbst schuld. Viele andere schaffen es ja schließlich dem Ideal zu entsprechen. Und so hecheln wir fröhlich einer Idee hinterher ohne zu merken, ab wann wir das nicht mehr nur für uns selber tun.

Konsum bleibt Konsum
Auch nur vegan leben ändert also erstmal nichts an allen Ungleichheitslagen, sondern hat auch so seine Tücken: Will man Menschen die vegane Idee näher bringen, steht für viele erst einmal im Vordergrund, dass Veganismus nicht gleich Verzicht bedeutet. So werden die schönsten Torten gebacken, das ganze Kontingent an veganem Essen aufgefahren, was es so gibt, auch Fertig- und andere Ersatzprodukte, damit man so uneingeschränkt Leben kann, wie man es gewohnt ist.

Leider impliziert das auch, das Konsum okay ist, solange es veganer Konsum ist. Auch wenn das schon mal ein Schritt in die richtige Richtung ist, so bleibt Konsum das Problem. Nehmen wir mal das Beispiel Palmöl. Es ist aufgrund seiner guten Streicheigenschaften und weil es so billig ist, eines der beliebtesten Fette, die in der Industrie benutzt werden (es ist in vielen Süßigkeiten, aber auch Fertigprodukten oder Kosmetika enthalten). Um die großen Flächen für die Palmen zu bekommen, werden in Malaysia und Indonesien allerdings die Regenwälder abgeholzt.

Das bedeutet einen schwerwiegenden Eingriff in das Klima (auch durch die Kohlendioxidabgabe bei der Verarbeitung des Öls), die Lebensbedrohung vieler Tierarten, die Vertreibung indigener Völker, unwürdige Arbeitsbedingungen für die Angestellten vor Ort, Kinderarbeit etc. Der nach etlichen Protesten gegründete „runde Tisch“ an dem Funktionäre der Palmöl-industrie (z.B. Unilever) und ein oder zwei Menschen aus Umweltschutzorganisationen zusammen kommen, um u.a. ein Zertifikationssiegel für „nachhaltiges“ Palmöl zu entwickeln, hat leider keine Veränderungen gebracht. Wie verwunderlich…Bio-Produzent_innen schreiben übrigens zumindest drauf, wenn Palmöl in den Produkten enthalten ist, andere Firmen geben nur „pflanzliches Fett“ an. Das ist neben anderen Problemen wie z. B dem mit Plastikmüll ein Grund, warum (auch veganer Konsum) eben auch eine Schwierigkeit darstellen kann. Die andere Seite ist natürlich wieder, dass auch hier ein System unterstützt wird, dessen Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht gerade gerecht ist, wenn wir sehen, was der An-und Abbau von Palmöl für die Menschen und Tiere vor Ort bedeutet.

Beet the System: Bio Gemüse, Konventionelles Obst-Selbst angebaute Nutzpflanzen
Aber auch wenn nun kein Palmöl in den Sachen ist, so kann Konsumkritik (im Sinne einer Macht- und Herrschaftskritik) sich auch auf einfache Sachen wie Obst- oder Gemüse beziehen. Fangen wir mal bei den Tomaten an. Die können wir ja immer haben, egal zu welcher Jahreszeit. Meist kommen die aus Spanien. Da wachsen die ja das ganze Jahr über. Ähm-nein, das tun sie nicht. Sie wachsen dort in riesigen Gewächshäusern und benötigen so viel Wasser, dass inzwischen in den Anbaugebieten das Grundwasser knapp wird. Die oftmals illegalen und damit rechtlosen Billg-Lohnarbeiter_innen, welche die Tomaten mit Pestiziden einsprühen, sie düngen und ernten dürfen, stört das natürlich nicht – dürfen sie mit etwas Glück sogar in den Gewächshäusern wohnen und bekommen sogar manchmal ein paar Cent für ihre Arbeit.

Auch der Saatgut- und Herbizid Hersteller-Konzern und konkurrenzloser Marktführer Monsanto verdirbt hier den Appetit: Monsanto verändert die Gene von Pflanzen dahingehend, dass sie resistent gegen Krankheiten werden, meldet ein Patent auf diese Pflanzen (inzwischen sind es 90% aller Patente, die es weltweit auf Pflanzen gibt) an und verkauft sie (gerne auch an Bauern aus armen Regionen der Welt). Diese Pflanzen werden dann (oh Wunder) von einer anderen Krankheit befallen und nur Monsanto hat das geeignete Spritzmittel. Vernünftige Landwirtschaft würde den weltweit steigenden und Mitwelt belastenden Verbrauch an Pestiziden übrigens unnötig machen.

Das umstrittene Freihandelsabkommen (TTIP) würde Monsanto dazu befähigen, bislang verbotene Produkte auch in der EU zu vertreiben und seine monopolisierte Großmachtstellung auszubauen. Monsanto war im Übrigen auch an der Herstellung von „Agent Orange“ beteiligt (ein hochgiftiges Entlaubungsmittel, welches die USA im Vietnamkrieg einsetzten um der Guerillabewegung das Verstecken im dichten Wald und die Verwendung von Nutzpflanzen zur Ernährung zu erschweren. Das Gift verbleibt aber lange Zeit in der Mitwelt und bis heute werden eine erhöhte Anzahl an schwerwiegenden Behinderungen bei Neugeborenen, Krebserkrankungen und andere Spätfolgen bei der Bevölkerung nachgewiesen. Geschädigte US-Soldat_innen erhielten übrigens Entschädigungen der Herstellerkonzerne, betroffene Vietnames_innen nicht, da es sich nicht um eine im internationalen Recht verbotene chemische Kriegsführung gehandelt habe.

Ich muss hier keine Ergänzungen bezüglich Macht-und Herrschaftsverhältnisse um Groß-Konzerne, Weltwirtschaft und internationale Politik aufzeichnen, oder? Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Freeganismus, Food Not Bombs und die Revolution aus der Tonne
Essen muss man, also ist eine gewisse Art an Konsum nötig um zu überleben. Eine Alternative ist natürlich Obst und Gemüse selbst anzupflanzen. Leider hat nicht jede_r Ahnung, was, wie gepflegt werden muss oder auch nur den Platz zum Anbau. Obwohl? Manche Leute bepflanzen in Nacht- und Nebelaktionen ihre Stadt, um so etwas Farbe und Leben in die grauen Betonwüsten zu bringen, gegen die Tristesse in den Innenstädten und um den öffentlichen Raum für sinnvolle Sachen nutzbar zu machen. Guerilla Gardening nennt man das. Mir fallen direkt etliche Orte ein, an die ich auch etwas Kohl oder rote Bete anpflanzen könnte.

Guerilla Gardening ist natürlich, Überraschung: Nicht erlaubt in Deutschland, das ist nämlich Sachbeschädigung. Allerdings ist das eher ein Zeichen, als eine echte Alternative zum Einkauf im Supermarkt. Wie kann es also möglich sein, sich selber zu versorgen oder eben diesen ganzen Konsum nicht mehr zu unterstützen ohne zu verhungern oder zu stehlen…stehlen? Es gibt Menschen, die einfach nach Ladenschluss die Mülltonnen der Supermärkte durchsuchen und hierbei auf wahre Schätze stoßen: Obst, Gemüse, sogar Brot oder Sushi und andere noch essbare Dinge können so geborgen und noch verspeist werden. Einige Sachen sind optisch nicht mehr die Allerschönsten, manchmal ist das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen, aber deswegen sind die Sachen ja nicht gleich schlecht. Nur kaufen will sie eben niemand mehr.

Diese Art der Nahrungsbeschaffung nennt sich „Containern“, „Dumpstern“ oder „Mülltauchen“. Das ist in Deutschland, Überraschung: Nicht erlaubt, sondern Diebstahl. Wenn man dann noch über einen Zaun steigt, um an die Lebensmittel zu kommen, dann handelt es sich dabei sogar um schweren Diebstahl und Hausfriedensbruch. Bislang endete der schlimmste zur Anzeige gebrachte Fall zwar nur mit 60 Sozialstunden – aber immerhin.

Jeder Mensch in Deutschland wirft im Durchschnitt jährlich über 81Kg Essen in den Müll. Der Einzelhandel wirft ebenfalls viele nicht gekaufte Lebensmittel weg, denn es wird fleißig überproduziert, damit wir immer alles zur Verfügung haben und hierzulande nicht frustriert aus dem Supermarkt gehen müssen, weil wir Heiligabend keine frischen Erdbeeren bekommen. Abhilfe sollen hierbei z.B. „Die Tafeln“ schaffen: Supermärkte können überschüssige Lebensmittel an die Tafeln weitergeben, welche diese dann an nachweislich (!) bedürftige Menschen gegen etwas Geld (jede_r gibt was er/sie kann) abgeben. Aber: Wenn die „Bedürftigen“ mit den Resten der Wohlhabenden legal versorgt werden, dann belässt es sie erstmal in ihrer Position als Bittsteller_innen und der Staat ist aus seiner Verantwortung hierfür entlassen.

Dann sind die abgefüttert und beschweren sich nicht oder zetteln einen Aufstand an, weil die Kohle trotz Job nicht reicht, um satt zu werden und die Supermarktketten können sich als Wohltäter_innen mit Robin-Hood Mentalität aufspielen. Die Entsorgung des überschüssigen Essens hätte sie allerdings eine nicht unerhebliche Menge Kohle gekostet. Auch Die Tafeln können die riesigen Mengen an Lebensmitteln, die sie angeliefert bekommen, im Übrigen nicht vollständig verwenden.

Freeganismus (das Wort setzt sich zusammen aus „Free“, im Sinne von Frei vom Konsum leben und Veganismus, viele Freeganer_inner leben vegan, da ihnen meist das anarchistische Ideal, der Vermeidung von Ausbeutung anderer in einer herrschaftsfreien Gesellschaftsstruktur voraus geht, was selbstverständlich Tiere einschließt) ist eine anarchistisch geprägte Lebensform, die sich gegen die kapitalistisch geprägten Strukturen unserer „Wegwerfgesellschaft“ stellt und bei der das oben beschriebene Containern gern praktiziert wird. Freeganismus ist aber weit mehr als eine Form der Ernährung. Freeganer_innen möchten damit provokativ zeigen, dass es möglich ist, sich nur vom „Abfall“ der Wohlstandsgesellschaft zu ernähren.

Es geht aber auch um die Befreiung vom Zwang zur aktiven Unterstützung des kapitalistischen Systems. Die Bewegung gegen den Konsumwahn hat ihre Ursprünge in den USA—dort ist Containern im Übrigen erlaubt. Die vielleicht bekannteste Bewegung Food not Bombs gibt es bereits seit den 1980er Jahren und dort wird unter anderem ebenfalls, ähnlich wie bei den Tafeln, aus den Essenspenden von Supermärkten etwas für Touristen oder Obdachlose gekocht. Der Unterscheid zu den Tafeln ist aber der reflektierte Gedanke dahinter und die non-profit Strategie, die zeigen soll, dass im kapitalistischen System Menschen hungern, obwohl viel zu viele Nahrungsmittel da sind.

Nicht jede_r Mülltaucher_in ist zugleich Freeganer_in oder Anarchist_in, es gibt auch Menschen, die aufgrund von Armut Essen aus den Mülltonnen holen, oder Menschen, für die es einfach eine logische Konsequenz ist, noch verwendbares Essen aus dem Müll zu „retten“. Beim Freeganismus geht es darum möglichst frei von kapitalistischen Artikulationen zu leben (also eben nicht darum, dann eben seine Fertigprodukte halt aus dem Müll satt aus dem Regal zu holen). Also auch darum, von Geschenken, vom Tauschen und vom Überschuss der Lebensmittelindustrie und Wohlstandsgesellschaft zu leben, statt die Dinge zu kaufen. Weitere freegane Ideen und Projekte sind Umsonst- oder Tauschläden und -regale oder wie im Fall der Organisation Food not Bombs Volxküchen (der Begriff „Volx“ ist angelehnt an den konstruierten Begriff des „Volkes“, welcher die Zusammengehörigkeit einer Gruppe Menschen impliziert, die auf einem umzäunten Flecken Erde leben).

Diese sind meist in autonomen Zentren beheimatet und hier wird, oftmals aus containerten Waren, zusammen etwas gekocht und an andere weiter verschenkt. Es geht darum, neue Wege und Alternativen aufzuzeigen, Solidarität unter Menschen zu stärken, Gemeinschaft entstehen zu lassen und unabhängig von Konsum, staatlicher Repression, Zwängen und vorgefertigten Werten, Normen und Regeln zu Leben. Teilen und Tauschen statt Kaufen könnte ein Motto sein. Nur durch das Containern allein verändert sich aber natürlich erstmal nichts am System. Wenn sich Menschen nur durch den Müll einer Gesellschaft ernähren können, zeigt das zwar auf, wie hier mit Gütern und Ressourcen umgegangen wird, solche Aktionen und kritischen Gedanken müssen aber dann auch weiter entwickelt werden.

Das übergeordnete Ziel
Es geht also um weit mehr als Ernährung. Es geht darum, die gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überdenken und daran etwas zu verändern. Wir konsumieren tierische Produkte in fast allen Belangen, weil wir meinen, wir können das dem Menschen unterlegene Tier dafür benutzen. Als sei es „natürlich“, dass der Mensch das darf, als handele sich also um eine natürliche Ordnung. Dabei ist die Objektivierung der Wesen, die wir von uns Menschen abgrenzen, genauso konstruiert wie die Idee, dass Menschen mit dunkler Hautfarben anders sind, als Menschen mit heller Hautfarbe. Genau nach demselben Schema funktionieren auch Sexismus oder Rassismus, Behindertenfeindlichkeit oder Homonegativität.

Hierbei wird dann eine Gruppe als anormal und unnatürlich abgewertet und eine als normal und natürlich höher bewertet. Der Rückgriff auf eine angebliche „natürliche Ordnung“ verschleiert, worum es eigentlich geht: Um Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die ganz genau vorgeben, was gewünscht ist und was nicht. Um Höher- und Minderbewertung verschiedener Gruppen, je nachdem wie angepasst, verfügbar und verwertbar sie für ein System sind. Der Rückgriff auf naturalisierte Argumente (Das haben die Höhlenmenschen ja auch schon so gemacht, dann muss das ja die menschliche Natur sein…) verdeckt dabei, dass es nur gesellschaftlich geformte Konstruktionen sind.

Aber, um den Kreis mal zu schließen, braucht es ja eine kognitive Dissonanz, um erstmal Lernprozesse auszulösen – vielleicht ist es ja eine, wenn man bemerkt, dass Bodyismus, Rassismus und Konsum zusammenhängen, oder dass es möglich ist, sich nur mit den Abfällen der Gesellschaft zu ernähren. Der Zusammenhang zwischen allem ist ein System, das auf eine ganz bestimmte Art und Weise funktioniert, zu sozialen Ungerechtigkeiten und Leid führt. Und deswegen genügt es halt z.B. einfach nicht, nur gegen Nazis zu sein. Oder nur Feministin zu sein oder nur Veganer_in zu sein. Obwohl alles Schritte in die richtige Richtung sind. Leider gibt es dann aber so Kombis, die einen einfach nur die Hände über dem Kopf zusammen schlagen lassen, wie z.B. Nazi-Veganer_innen, die uns allerdings absurder vorkommen, als der Wurst-Verspeisende Anti-Faschist oder Leute die ganz klar gegen Rassismus sind, aber Frauen dann auch gerne mal als Nutten bezeichnen.

Das Problem hat seine Wurzeln also viel tiefer als gedacht und auch hier wurden nur ein paar wenige Themen und Zusammenhänge aufgegriffen. Wirklich etwas ändern kann sich nur, wenn wir die gesamte Tragweite erkennen und nicht nach dem ersten Schritt aufhören weiter zu denken. So meine These. Also statt „No Future“ das Motto „trying to suck less“ konsequent(er) zu leben.

Sabrina Schramme

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