November 14th, 2019

BOYSETSFIRE (#103, 2003)

Posted in interview by Thorsten

„Wir werden oft als Sellouts dargestellt, doch was tut das zur Sache, auf welchen Label wir sind, wenn es wirkliche Probleme auf der Welt gibt?“

An Stagnation sind Boysetsfire wirklich nicht interessiert: Nachdem ihr Album „After The Eulogy“ szeneintern überaus erfolgreich war, erschien in diesem Jahr mit „Tomorrow Comes Today“ ein Album, welches einigen Fans vor den Kopf stieß: Der Hardcore-Vibe früherer Tage ist größtenteils einem melodiösen Rocktouch gewichen und auch inhaltlich widmeten sie sich verstärkt persönlichen Inhalten, anstatt den konkret politischen Weg weiterzustampfen. Eine zusätzliche Veränderung innerhalb der Band stellte der Wechsel am Bass dar, der zuletzt in Berlin lebende Deutsche Robert Ehrenbrandt ersetzte Rob Avery. Vor ihrem Gig in der Berliner Columbiahalle befragten wir den neuen Bassisten Robert sowie den Gitarristen Chad Istvan.

Das aktuelle Album klingt im Vergleich zum Vorgänger sehr glatt. Wolltet ihr eure Hörerschaft um einige Mainstream-Fans erweitern?

Robert: Irgendjemand muss ja die ganzen Drogen und Diamanten bezahlen.
Chad: Es war keine bewusste Entscheidung. Ich glaube nicht, dass unsere alten Produzenten Verantwortung für den Scheiß-Sound getragen haben. Unserer neues Album wurde von einem Radio-Typ gemixt. Wir haben so unsere Probleme damit gehabt, es hat uns nicht gefallen, es hat Scheiße geklungen, aber was soll man machen. Nein nein. Wir wollten nicht einen sauberen Sound, nur damit wir im Radio gespielt werden. Auf der kreativen Ebene hat sich nichts verändert, wir schreiben immer noch die Lieder und Texte, die wir schreiben wollen.

Werden eure Songs denn im Radio gespielt?

Robert: Ja, klar. Weißt du, in Amerika ist die Radiolandschaft etwas anders als hier. Es gibt Rock-Radiosender und richtige Heavy-Rock-Radiosender. Diese Radiosender sind sehr wichtig. Es gibt Gegenden, wo wir viel gespielt werden und Gegenden, wo wir nicht laufen. Wenn man uns im Radio spielt, werden wir niemals nein sagen, aber wir würden dafür keinen Namen ändern. „Barthory’s Sainthood“ wollten sie in einigen Gegenden nicht spielen, wegen der Zeile: „Bastard Messiah“, die sehr wichtig ist, aber wir genießen halt künstlerische Freiheit.
Chad: Das heißt nicht, dass wenn jemand eine geile Idee hat, wir sie nicht umsetzen würden. Aber wir werden nichts tun, wozu wir keine Lust haben.

Verkauft sich „Tomorrow Comes Today“ denn besser als „After The Eulogy“?

Chad: Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung Wir sind die ganze Zeit auf Tour. Ich sehe mein Gesicht auch nicht in irgendwelchen Zeitschriften.

Aber es gab doch viel mehr Promotion.

Chad: Ja hier, aber nicht in den Staaten.
Robert: Im Moment sieht es für Boysetsfire in Europa ein bisschen besser aus, aber wir hoffen, mit der nächsten Platte das ausgleichen zu können.

Ihr seid eine sehr politische Band. Werdet ihr aufgrund eurer Einstellung oft kritisiert?

Chad: Das ist ein sehr interessanter Punkt in einer linksdenkenden Band. Wenn du ein Linker bist, kritisieren dich andere Linke oft mehr als diejenigen, die sie wirklich zu kritisieren hätten. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund dafür, dass die linke Szene nicht so gut organisiert ist. Wir werden oft als Sellouts dargestellt, doch was tut das zur Sache, auf welchen Label wir sind, wenn es wirkliche Probleme auf der Welt gibt? Man sollte seine Kraft in etwas Konstruktiveres stecken.
Robert: Es gibt zwar eine ganze Menge anderer Bands mit lustigen Haarschnitten, die ihren Zorn auf der Bühne zeigen. Aber die Leute wollen doch auch erfahren, woher dieser Zorn kommt. Was ist dein Problem mit der Welt, mit dem Kapitalismus, mit dem System im Allgemeinen? Wir erklären das. Nicht nur während der Show, man kann immer zu uns kommen und fragen, worum es in unseren Songs geht. Ich mag Kritik, wenn sie nicht lautet „ihr seid Sellouts, warum?“. Wir möchten unsere Aussage an so viele Leute wie möglich bringen, ohne uns zu prostituieren. Vielleicht machen wir auch manchmal Fehler, aber wer verdammt macht das nicht? Wir machen die Musik nicht wegen dem Geld, aber von irgendetwas müssen wir auch leben.

System Of A Down und NOFX haben sehr kritische Videoclips abgeliefert. Werden sie von MTV gespielt?

Robert: Nein, MTV sticht den Underground sozusagen von hinten in den Rücken. Ich glaube, dass „Boom“-Video wurde kaum gespielt und lief dann nur noch in Kanada. Unser Song wurde auch aus dem Programm genommen, obwohl er inhaltlich fast gar nichts mit dem Krieg zu tun hat.

Seid ihr neben der Musik politisch aktiviert?

Robert: Nathan war in der Kommunistischen Partei, hatte dort aber eine sehr schwere Zeit, weil die Dinge nicht so gelaufen sind, wie er sich das vorgestellt hatte.
Chad: Die haben immer davon geredet, alles niederbrennen zu müssen, aber das entspricht nicht unseren Vorstellungen. Wir müssen eher mit einem guten Beispiel vorangehen, mit den Leuten sprechen und realistisch sein. Ein einfaches Beispiel ist die Ernährung: Ich und Robert sind Vegetarier und seit ich es bin, isst meine Familie auch kein Fleisch mehr – 20 bis 40 Leute, die ihre Ernährung geändert haben! Wenn man nicht ein militantes Arschloch ist, kann man vielleicht mehr verändern.
Robert: In Berlin gab es ja auch große Demos während des Irakkrieges und da bin ich natürlich hingegangen, aber zu diesem Zeitpunkt hätte ich mich nicht in einer Partei wohl gefühlt. Ich finde es wichtig, meine Meinung zu äußern, aber ich würde sie nicht ändern, wenn sie nicht der Parteirichtlinie entspreche.
Chad: Man findet nie jemanden, mit dem man hundertprozentig einverstanden ist, aber man kann natürlich Organisationen unterstützen.

Text: Paul Schlagk & Johannes Schleusener
Fotos: Andrea Brau

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