März 13th, 2020

ASTRONAUTALIS (#161, 2013)

Posted in interview by Thorsten

Wer sich in den letzten Jahren ohne Scheuklappen im Bereich des d.i.y. Punk bewegt hat, wird wahrscheinlich auch über Andy Bothwell aka Astronautalis und seine eindrucksvolle Bühnenpräsenz gestolpert sein. In den letzten zehn Jahren hat er vier Alben mit im weitesten Sinne Hip Hop veröffentlicht und ist mindestens genauso oft durch europäische Punkclubs getourt. Andys Interpretation des Hip Hops ist völlig unprollig und zeigt deutliche Indieeinflüsse. Manche nennen das „Alternative Hip Hop“, aber vielleicht braucht es derlei Labels gar nicht. Fest steht, dass Astronautalis live weit mitreißender ist als das Gros aller HC/Punk-Bands und auch mehr Fuck Off-Attitude hat als die meisten von ihnen. Insofern sollte das Trust eigentlich ein angebrachter Ort für ein Interview mit ihm sein. Also treffen wir uns mit ihm vor seiner Show im Cassiopeia in Berlin-Friedrichshain in einem leerstehenden Nebenraum, während draußen das Publikum eintrudelt und noch weiter draußen die unausweichlichen Vatertagstouren ihre Runden ziehen.

Andy, ist dieses Interview Arbeit für dich?

Ja, Astronautalis ist seit fast drei Jahren mein Vollzeitjob und meine Haupteinnahmequelle. Ich toure seit 10 Jahren, hatte aber bis dahin nebenbei immer irgendwelche Scheißjobs. Ich habe als Bauarbeiter und in Büros gearbeitet, war Lehrer und Tellerwäscher. Ich habe jeden Job gemacht, aber das hier ist der schwerste von allen, denn es ist ein Job, der mir etwas bedeutet. Wenn diese Sache schief läuft, dann tut es echt weh. Wenn man beim Abwaschen die Pizzateller nicht sauber bekommt, ist es scheißegal, wenn Dein Chef sauer ist. Aber wenn hier etwas schief läuft, dann ist es meins. Sicher ist es Kunst, aber es ist auch Arbeit. Ihr seid also gerade in meinem Büro.

Du bist also dein eigener Chef. Bist Du ein guter oder ein schlechter Chef?

Ich gebe mir niemals freie Tage und das ist durchaus ein Problem. Ich muss daran etwas ändern, weil wir seit zehn Jahren acht bis zehn Monate pro Jahr auf Tour sind und dabei jeweils 150 bis 200 Konzerte spielen. Ich war an einem Punkt, an dem ich quasi immer unterwegs war. Alle Musik, die ich gehört habe, war Recherche für meine Platte. Jedes Buch, was ich gelesen habe, war Recherche für meine Platte. Ich habe immer nur über die Arbeit nachgedacht. Ich war am Computer, um meine Webseite upzudaten oder etwas für meine Platte zu designen. Ich habe Dinge niemals einfach zum Spaß gemacht. Im Dezember war ich mit Busdriver und Jel auf Tour, und es war einfach scheiße. Also es war eine großartige Tour und die Konzerte waren super. Das Wetter war aber wirklich schlecht und an dem Punkt war ich seit zweieinhalb Jahren fast ununterbrochen auf Tour. Mir wurde klar, dass ich von der Straße runter musste, um nicht verrückt zu werden. An dem Punkt dachte ich, dass ich das in Ordnung bringen muss. Ich muss ein besserer Chef werden, sonst fange ich an, meinen Job zu hassen und muss kündigen. Deshalb ist das hier gerade auch die letzte Tour, die ich mit dieser Platte mache. Ich werde für den Rest des Jahres eine Auszeit nehmen und nur vereinzelt Konzerte spielen, um meine Rechnungen zahlen zu können. In der restlichen Zeit werde ich an der Musik arbeiten, entspannen und radfahren. Ich werde ein normaler Mensch sein, ins Kino gehen, Zeit mit meinen Freunden verbringen und meine Familie sehen. Ich muss ein besserer Chef werden, denn ich war ein beschissener Chef.

Adam Smith, der Vater des Liberalismus, hat gesagt, dass es im Kapitalismus eine kontrollierende Instanz braucht, die sicherstellt, wie die Arbeitenden behandelt werden. Wenn niemand die Arbeitgeber zwingen würde, sie wie Menschen zu behandeln, würden sie ihre Arbeiter bis in den Tod arbeiten lassen…

Ich brauche dringend jemanden, der mir sagt: „Stopp Andy, komm von der Straße, setz dich still hin und lies ein Buch! Trink ein Bier im Schatten, du brauchst eine Pause, sonst bringst du dich um!“ Ich fange wirklich an, mir um meine Gesundheit Sorgen zu machen. Ich bin kein übermäßiger Trinker, ich rauche nicht und nehme keine Drogen, aber das Touren wird mich umbringen.

Kannst du rückblickend den Zeitpunkt festlegen, an dem Astronautalis zu deinem Job wurde?

Es gibt diesen Moment, an dem du deinen letzten Job hinter dir lässt und dir keinen neuen mehr suchst, sondern nur noch Musik machst. Das wäre wohl so ein konkreter Zeitpunkt, aber ich denke, der wirkliche Zeitpunkt ist eher der, an dem man anfängt, die Sache wirklich ernst zu nehmen. Als ich angefangen habe zu touren, war es großartig. Ich habe Konzerte gespielt, ich habe Bier getrunken und mit Frauen rumgemacht. Ich habe Rap-Musik gemacht und alles war super. Aber es gibt diesen Punkt, an dem sich deine Prioritäten verschieben. Wenn du aufhörst über Dinge nachzudenken, die dir bisher wichtig waren. Wenn man aufhört, sich Schuhe zu kaufen und wenn es nicht mehr darum geht, Geld zu machen, sondern Musik zu machen. Es mag jetzt gefühlslos klingen, aber deine Familie und Freunde werden zweitrangig gegenüber der Musik. Bei mir war das, als ich dabei war, meine dritte Platte fertigzustellen und nach Seattle zu ziehen. Ich habe bei meinen Eltern meinen Kram in Kisten gepackt und dann war ich für immer weg. Ich bin erwachsen geworden. Plötzlich war ich ein professioneller Rapper und hatte mich dazu entschieden, auch weiterhin einer zu sein. Ich denke, das war der Punkt für mich. Das war ein wirklich großer Moment.

Du warst schon mehrfach allein auf Europatour, während du in den USA immer deine Band dabei hattest. Jetzt hast du sie zum ersten Mal hier mit dabei. War das eine ökonomische Entscheidung?

Das stimmt, normalerweise bin ich nur mit meinem Laptop und meinem Manager, der gleichzeitig mein bester Freund ist, rübergekommen. Wir mussten nur zwei Flugtickets kaufen und es reichte, einen Skoda Fabia oder Opel Corsa zu mieten. Das kostet fast nichts und wir mussten keinerlei Ausrüstung mieten. Ich habe meinen Laptop und ein paar Kabel mitgebracht und das war es dann. Jetzt habe ich meine Backup-Band dabei. Die muss ich bezahlen. Ich kann sie nicht bitten, Geld für eine Band auszugeben, die nicht ihre eigene ist. Ich bin ihr Chef und sie sind meine Angestellten. Sie sind meine Freunde und wie Brüder für mich, aber genau genommen haben wir ein Arbeitsverhältnis. Als wir ohne Band getourt sind, mussten wir 3.000 Dollar Kosten vorstrecken. Das ist ein ordentlicher Betrag, aber zwei Leute können die in relativ kurzer Zeit aufbringen. Aber wenn man dann einen Van und Ausrüstung mieten muss, wenn vier Flugtickets bezahlt werden müssen, dann werden aus den 3.000 Dollar schnell 12.000 Dollar, und das ist eine große Sache. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie 12.000 Dollar auf einmal besessen. Ich habe momentan gerade mal 150 Dollar auf meinem Konto. (lacht) Das Geld zusammenzubekommen war eine große Aufgabe. Wir wussten ja auch nicht, ob wir auf dieser Tour Geld verdienen würden, aber es lief dann wirklich gut. Die Konzerte waren großartig, wir verkaufen Merch und die Zuschauerzahlen waren noch höher als letztes Mal. Es sieht so aus, als wenn ich auch in Zukunft mit Band in Europa werde touren können. In den ersten zwei Wochen der Tour aber waren wir noch sehr angespannt und fragten uns, wie es wohl laufen würde. Der große Test war, als wir in Prag in diesem riesigen Raum gespielt haben. Unsere vorherigen Shows dort waren im Klub 007, der 200 Leute fasst. Letztes Mal haben wir den Laden ausverkauft und wir waren so in etwa die erste Band, die das in den letzten zehn Jahren geschafft hat. Wir mussten an einen größeren Ort wechseln, aber es gab keinen mit einer Kapazität für 500 Leute. Also mussten wir in einem Raum mit einer Kapazität von 1.000 spielen und alles lief glatt. Das ist so ein Punkt, an dem du weißt, dass es dein Job ist. Ich bin wegen solcher Sachen immer nervös und merke, ich bin halt nicht mehr mit meinem Buddy unterwegs. Ich muss sicherstellen, dass die Leute bezahlt werden, bevor wir selbst bezahlt werden.

Das klingt nach sehr viel Verantwortung.

Auf jeden Fall, aber es sollte auch so sein. So viel Spaß der Job auch macht, es ist ein Job. Je größer es wird, desto mehr Menschen werden von dir abhängig sein. Insbesondere weil wir alle älter werden, reicht es nicht aus, dass nur ich genügend Geld verdiene, um mein Leben zu finanzieren. Mittlerweile sind da noch mehr Menschen involviert, die ihr Leben davon finanzieren müssen. Und ich kann sie nicht scheiße bezahlen, weil ich nicht der Typ bin, der das große Geld macht und seine Leute scheiße bezahlt. Es ist komisch, denn Leute reden nicht gerne über die Geschäftsaspekte der Musik. Sie tun so, als hätte das keinen Einfluss auf ihre Kunst, aber das ist Bullshit. Ich gehe durch den gleichen Existenzkampf wie jemand, der ein kleines Restaurant eröffnet. Man verdient in den ersten beiden Jahren kein Geld. Man bezahlt alle Angestellten, schläft aber selbst im eigenen Restaurant auf dem Fußboden. Die Angestellten stehen an erster Stelle, und natürlich hat man da eine Menge Verantwortung.

Zumindest hier in Europa bewegst du dich als Rapper vor allen in HC/Punk-Kreisen, obwohl du selber keinen Punk-Background hast. Warum?

Es ist nicht nur in Europa so, in Amerika ist es ähnlich. Als wir angefangen haben, waren Punkkonzerte die einzigen Konzerte, die wir bekommen konnten. Unsere Musik ist keine wirkliche Rap-Musik, also hat man mich auf Rap-Konzerten nicht spielen lassen. Rapper wollen mich nicht sehen und ich wollte keine Konzerte vor Rappern spielen. Dann habe ich gesagt: „Cool, we’re done. You guys are great but I’ll see you later“. Dann haben wir halt Punkkonzerte gespielt, denn Punks sind offener für Dinge, die ein wenig anders sind. Bei Rap-Shows gibt es nur Rap, aber wenn man auf Punk-Shows geht, dann kann es passieren, dass mittendrin jemand auf einer akustischen Gitarre spielt oder du siehst eine Band, die Synthesizer und Gitarren nutzt. Wenn wir in Rock, Punk oder Hardcore-Clubs gehen, dann sind die Veranstalter und Besucher offener gegenüber der Uneindeutigkeit meiner Musik. Denn ich mache eben nicht einfach Rap, Punk oder Indie – ich mache halt Musik. Hinzu kommt, dass uns hier Leute aus der Punkbereich buchen.
Wir wollen auch so touren wie eine Punkband, sowohl in Amerika als auch in Europa. Wir nehmen uns keine freien Tage, wir spielen überall, wo wir Konzerte bekommen können. Wir spielen auch in kleinen Käffern in Slowenien, wenn die Leute wollen, dass wir dort spielen. Wir müssen nicht nur in Paris, Berlin und Rom spielen. So war es immer. Letzten Sommer waren wir bei einem Altpunk in Tschechien, für den Joe Strummer Gott ist und der Millions Of Dead Cops liebt. Der meinte: „You keep calling yourselves rappers. You are no rappers, you’re fuckin‘ punks.“ Ich bin ihm dankbar für dieses großartige Kompliment. So hatte ich es noch nicht betrachtet.

Es ist wohl kein Zufall, dass du letztes Jahr auf dem Fusion Festival ausgerechnet in der Tubebox gespielt hast, die eher für Punk und Gitarrenmusik steht. Ich war auch dort und hatte das Gefühl, dass du etwas überrascht von der Publikumsreaktion warst, als sich der Vorhang öffnete und du angefangen hast, zu spielen.

Es hat mich total umgehauen. Das ist ein großer Club, da gehen 1.000 Leute rein und es war randvoll. Als ich hineingegangen bin, war noch niemand da, weil die Leute auf der Fusion ständig von einer Bühne zur nächsten ziehen. Dann stand ich auf der Bühne, der Vorhang ging auf und ich dachte nur: „Waaaaaaaas? Wer seid ihr alle und woher kommt ihr denn plötzlich?“ Wir sind nicht auf Universal und wir spielen nicht jeden Abend vor 2.000 Leuten. Und wir haben nicht mal überall 500 Leute. Wir haben zum Beispiel auf dieser Tour in Slowenien vor 50 Leuten gespielt und sechs Tage später haben wir dann vor 600 Leuten in Prag gespielt. Es gibt ganz verschiedene Abende. Unsere Konzerte in Berlin waren bis jetzt auch immer gut, aber ich weiß absolut nicht, wie viele Leute heute Abend kommen werden. Es könnten 300 werden, aber vielleicht sind es auch nur 30. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass Leute zu meinen Konzerten kommen, sich meine Musik anhören oder meine Platten kaufen. Als mein letztes Album so gut lief, war die Überraschung bei mir selbst wohl am allergrößten.

Du selbst hast eigentlich keinen Punk-Background. Gibt es jetzt etwas, was du von der HC/Punk-Community gelernt hast? Oder kann Hip Hop etwas von HC/Punk lernen?

Lustigerweise nehme ich beide als die gleiche Community mit unterschiedlichen Dresscodes wahr, wobei sich die in den USA gerade quasi vertauschen. Die Rapper fangen an hautenge Jeans und abgeschnittene Jeansjacken zu tragen, während die Hardcore-Kids Flex Fit Caps, weite Shorts und Nike Schuhe tragen. Es hat mich sehr verwirrt, als das anfing. Plötzlich kleideten sich all die Schwarzen, mit denen ich beim Rappen aufgewachsen bin, so wie die Punks, mit denen ich heute abhänge, und die Punks ziehen sich an wie Rapper. Das ist zwar eigentlich ein reines Mode-Ding, aber es gibt da auch echte Gemeinsamkeiten. Die Geschichte beider Szenen begann jeweils mit einem Aufbegehren gegen schlechte Lebensumstände. Die Leute waren verärgert, haben ihre Wut ausgedrückt oder dagegen rebelliert. Das ist der Grund, weshalb sich Hardcore-Kids von HipHop-Kids angezogen fühlen und umgekehrt. Beides ist aggressiv und direkt. Was Rap fehlt und HC/Punk hat, ist, dass Punks sich den Arsch aufreißen, um alles am Laufen zu halten. Sie arbeiten ohne Ende, um ständig Konzerte zu veranstalten. Beim Rap ist das definitiv nicht mehr der Fall. Es gab aber diese Zeit am Anfang der Geschichte des Rap, als ich noch nicht einmal geboren war, als die Leute in den Bronx getan haben, was die Hausbesetzer in Europa gemacht haben. Sie haben das Stromnetz angezapft, haben dicke Soundsysteme aufgestellt und in den Parks unter den Straßenlaternen Partys gefeiert, bis die Polizei kam und die Veranstaltung auflöste. Anstatt ganzer Bands hatte man nur Plattenspieler, weil sie einfacher abzubauen waren, wenn die Polizei kam. Das ist Punk. Auch The Clash oder Blondie haben mit Rappern rumgehangen, weil sie im Grunde gleich waren.

Blondie haben auch gerappt…

Sie haben schrecklich gerappt, aber sie haben gerappt. Es ist komisch, denn es hat alles an der gleichen Stelle angefangen. Dann wurde es voneinander getrennt, wieder vereint, wieder getrennt und so weiter. Momentan ist Punk gerade keine Popmusik mehr und gilt nicht mehr als cool. Rapmusik dagegen ist gerade Popmusik. Rap hat sich selbst von seinen Punkwurzeln losgelöst und wenn Punk wiederauflebt und zu Popmusik wird, dann wird es sich von seinen Punkwurzeln lösen. Jetzt müssen Rapper jedenfalls erst einmal wieder härter arbeiten, weil sie scheißfaul sind.

Kannst du dich mit diesem „Alternative HipHop“-Label identifizieren, das du oft aufgepappt bekommst?

(überlegt) Ich sehe mich als Rapper. Sogar wenn ich einen Country-Song schreiben würde, man ihn beschleunigen, die Musik wegnehmen und einen 808-Beat darunter legen würde, würde es stark nach einem Rap-Song klingen – sogar die langsamsten und schönsten Songs, weil sie alle diese Art Endreime und diesen speziellen Rhythmus haben, nach dem ich in gewisser Weise süchtig bin. Ich bin ein Rapper. Auch wenn ich keinen Rap machen würde, würde ich denken wie ein Rapper. Ich verstehe den Wunsch der Menschen, Dinge zu klassifizieren, um sie zu beschreiben. Sie brauchen Dinge in kleinen Schubladen. Ich hasse es aber, wenn die Leute sagen, ihre Musik ist kein Rap sondern Hip Hop. Das ist die arroganteste Scheiße überhaupt. Das ist so, als wenn man sagen würde: „Ich höre keinen Rap, ich höre Hip Hop. Ich höre nicht die Musik von dummen Leuten, ich höre nur die Musik von schlauen Leuten, weil ich einer von diesen schlauen Leuten bin.“ Das sagen sie nur, um sich selbst zu erhöhen und über andere zu stellen. Ob sie nun über Waffen und Autos oder über die Kunsthochschule rappen, es ist beides Rapmusik. Das Gleiche gilt für Street Art. Ich hasse den Ausdruck Street Art. Verdammt noch mal, es ist Graffiti. Leute bezeichnen es als Street Art, damit es sich weniger illegal anfühlt und wichtiger klingt. Darüber rege ich mich wahnsinnig auf.

Es ist interessant, dass du Street Art nennst. Berlin ist eine der absoluten Street Art-Hochburgen und viele wichtige Künstler haben ihre Spuren in der Stadt hinterlassen. Neuerdings sieht man aber immer mehr von diesen Kunstwerken, die mit simplen Tags übermalt wurden. Kids fragen sich, was das für ein Arty Farty-Scheiß ist und halten es nicht für ihr Graffiti.

Ich habe Freunde, die sagen: „Ich mache jetzt Street Art.“ Dabei sind sie mit Graffiti aufgewachsen und bekannt für ihre Graffitis, weil ihre Graffitis cool waren. Street Art bedeutet, dass das Risiko verloren gegangen ist. In Los Angeles zum Beispiel sieht man überall diese Heavens – das sind Graffitis an den Schildern, die über den Highways sind. Man nennt sie Heavens, weil sie über allem anderen stehen. Sie sind supergefährlich, weil man über dem Highway sein muss, um sie zu malen. Die Schilder sind von Stacheldraht umgeben und wenn man herunterfällt, ist man tot. Da dort jeder vorbeifährt, ist es außerdem ziemlich einfach, festgenommen zu werden. Der Wille, seine Zeichen an immer krassere Orte zu malen, der zum Graffiti einfach dazugehört, ist den Street Art-Künstlern verloren gegangen. Jemand, der seine Paste Ups nur auf legale Wände setzt, ist kein Street Artist. Das ist nur jemand, der auf der Straße Poster aufhängt. Worin unterscheidest du dich von den Menschen, die Plakate für meine Konzerte kleben?

Graffiti ist Punk, Street Art ist es nicht.

Richtig und ich verstehe die Idee von Kunst für die Massen und von Kunst im öffentlichen Raum. Aber ich denke auch, dass es etwas anderes ist, was nicht mit Graffiti assoziiert werden sollte. Es sollte auch nicht mit dem Konzept der Rebellion assoziiert werden. Wenn man etwas für die Öffentlichkeit macht, ist man kein Rebell, kein James Dean.

Eher ein Sozialarbeiter…

Richtig und das ist absolut in Ordnung und eine gute Sache. Aber bitte gib nicht vor, ein Gangster zu sein. Tu nicht so, als wärest du ein Verbrecher, weil du ein Poster von einem Vogel auf einen Stromkasten gekleistert hast.

Unabhängig davon, wie du deine Musik nennst, haben wir uns doch gewundert, dass keine deiner Platten auf Anticon erschienen ist. Deine Musik klingt eigentlich wie gemacht für das Label.

Sie haben mich nie gefragt. (lacht) Als ich aufgewachsen bin, habe ich diese Leute so sehr geschätzt. Heute sind sie Freunde von mir geworden und ich hatte das Privileg mit vielen von ihnen zu arbeiten. Sie waren ein großer Katalysator für das, was ich gemacht habe. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich ihre Musik damals 1999 zum ersten Mal gehört habe und total verwirrt war. Es war das erste Mal, dass ich plötzlich Rap-Musik gehört habe, die von Leuten wie mir und für mich gemacht wurde. Das waren Leute, die mit Punk und Indie aufgewachsen sind. Bis dahin hatte ich Rap gehört, weil es aufregend war, weil es von diesen Gangstern aus New York gemacht wurde. Ihre Musik zu hören, war eine Revolution für mich. Ich hätte vor Jahren wahnsinnig gerne eine Platte auf Anticon veröffentlicht, aber sie haben mich niemals gefragt. Das ist in Ordnung. Sie waren schon immer ein Kollektiv. Ich aber hatte noch nie wirklich eine Crew, ein Kollektiv, eine Organisation, mit der ich assoziiert wurde. Ich war nur immer mit jedem befreundet.

Erinnerst du dich auch, was generell die erste Rap-Musik war, die dich umgehauen hat?

Ja, es war ein Rapper namens Lord Finesse aus der Bronx in New York. Ich war damals zwölf. Kurz zuvor hatte ich noch The Clash, Morrissey und Nirvana gehört und ein Jahr bevor ich beschlossen habe, ein Rapper zu werden, hatte ich noch „Rap sucks“ auf meiner Mappe in der Schule stehen. Die Rap-Musik, die damals gespielt wurde, war einfach große Scheiße wie MC Hammer. Plötzlich habe ich dann Lord Finesse gehört und der war clever, witzig und ein wirklich großer Geschichtenerzähler mit unglaublichen Wortspielen. Das hatte nichts mit dem gemeinsam, was im Radio lief. Sein damaliges Album kam 1991 oder so raus und ich habe es ’93 oder ’94 zum ersten Mal gehört. Das war der Anfang der goldenen Ära des New York Underground Hip Hops. A Tribe Called Quest, De La Soul, Wu-Tang Clan, D.I.T.C. und all das. Das war diese großartige Ära der Rapmusik und ich hatte sowas vorher niemals gehört. Ich habe in einer kleinen Stadt am Strand in Florida gelebt, ich kam aus der Mittelklasse und ich war weiß. Es war, als hörte ich Musik von einem anderen Planeten. So aufregend, so gefährlich, so angsteinflößend und ich konnte es meine Eltern nicht hören lassen, weil es so viele Schimpfwörter enthielt. Ich erinnere mich, dass ich Lord Finesses „Return of the Funky Man“ gehört habe und wusste, das es das jetzt ist. Es hat alles für mich verändert. Innerhalb weniger Monate habe ich dann mit dem Freestylen angefangen.

Deine aktuelle Platte heißt „This is our Science“. In deinem ganzen Werk gibt es Hinweise auf höhere Bildung, du hast studiert. Viel davon passt nicht wirklich zu dem Bild des Whiskey-trinkenden Partytieres, das Du auf der Bühne abgibst. Ist unter der Oberfläche von Astronautalis ein Nerd versteckt?

Oh Mann, ich bin ein riesiger Nerd! Ich spiele immer noch viel Dungeons & Dragons und ich liebe Schule. Trotzdem halte ich meine Alben und Konzerte für zwei verschiedene Dinge. Ich möchte, dass das Album etwas ist, was man sich über Kopfhörer anhört, die Texte liest und seziert. Man soll etwas in ihnen finden und dann danach googlen. Wenn man es zerlegt, offenbart es sich dir immer mehr. Das erfährt man natürlich nicht auf einem Konzert, es sei denn ich hätte eine Power Point-Präsentation dazu. Konzerte sollen vor allem Spaß machen und eine große Party sein. Ich bin ein riesiger Nerd und ich liebe es, Dinge zu lernen. Genauso trinke ich aber auch gerne Whiskey, tanze, habe Spaß, schwitze und mache mit Frauen rum. Ich mag es einfach, ein Mensch zu sein. Es sind nicht zwei verschiedene Personen, es sind nur zwei verschiedene Seiten der gleichen Person, und die Konzerte und die Alben sind zwei Seiten meiner Persönlichkeit.

Die Leute sollen auf deinen Konzerten da nicht mit ihren iPhones rumstehen und googlen, wer zur Hölle Dmitri Mendelejew war…

(lacht) Oh nein, auf keinen Fall. Ich werde heute Abend zwei neue Songs spielen. Für mich ist es das Schlimmste, was Künstler machen können, wenn sie sich selbst zu ernst nehmen. Das soll jetzt nicht heißen, dass man seine Arbeit nicht ernst nehmen sollte, aber es ist genauso wichtig, dass man auch mal sagt: „Cool, das habe ich geschafft, es ist großartig und jetzt wird gefeiert!“ Die Leute nehmen ihren Scheiß zu ernst. Es gibt Momente, in denen man ernst und politisch sein sollte und es gibt Momente, in denen man sein Bier trinken und ein normaler Mensch sein sollte.

Es wirkt dennoch so, als würdest du darüber nachdenken, was du auf der Bühne machst.

Absolut…

Liegt es daran, dass du Theater studiert hast?

Sicherlich, es liegt aber auch in meiner Persönlichkeit. Meine Erfahrungen aus dem Theater sind immer in meinem Hinterkopf. Ich bin in keiner Garagenband aufgewachsen und auf keiner Musikschule gewesen. Ich habe das, was ich über Kunst weiß, zu einem großen Teil über das Theater gelernt. Das wird immer da sein. Außerdem habe ich Regie studiert und nicht Schauspielerei, und die Arbeitsweise eines Regisseurs ist sehr akademisch, es ist Bibliotheksarbeit. Es hat viel mit Recherche über das Leben der Figuren und des Autors des jeweiligen Stückes zu tun.
Ich denke aber auch an sich von mir selbst aus viel nach. Egal wie wild ich auf der Bühne oder in meinem Leben bin, ich denke ständig über Dinge nach. Das ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Es fällt mir manchmal schwer, einfach mal abzuschalten. Alles was ich auf der Bühne mache, ist kalkuliert. Aber es ist nicht so, dass ich in meinem Zimmer sitze und es genau durchplane, dann auf Tour gehe und es ausprobiere. Man sieht einfach, was funktioniert und was nicht funktioniert und findet so über die Jahre sein eigenes Ding. Die Person, die ich auf der Bühne bin, bin ich, weil ich 1.500 Konzerte gespielt habe. Wenn ich zurückblicke und meine ersten Shows ansehe, dann ist es sehr anders. Ich habe viel an mir gearbeitet und habe ein Verständnis dafür entwickelt, was das Publikum will. Wenn ich ein Konzert spiele, dann tue ich das für das Publikum, dann bin ich ein Entertainer. Es geht nicht darum, mir zuzusehen, wie ich mein Album spiele.

Ist dein erstes Konzert einfach nur anders oder wäre es dir heute auch ein wenig peinlich, es wieder zu sehen?

Ich wäre sicher von manchen Sachen beschämt. Ich müsste Drogen nehmen, um es auszuhalten, mich hinzusetzen und mir das anzusehen. Ich kann mir nicht einmal mehr meine erste Platte anhören. Das würde mich verrückt machen. Wir waren vorhin bei der Veranstalterin dieses Konzerts zu Hause, wo für uns etwas zu Essen gekocht wurde. Sie haben dort mein erstes Album aufgelegt, und das ist ganz genau der einzige Künstler, den ich nicht hören will, während ich esse. Ihr könnt auflegen was ihr wollt, aber bitte nicht das. Ich würde sicherlich ordentlich rot anlaufen, wenn ich mir meine ersten Konzerte ansehen müsste. Es wäre sicherlich schrecklich, aber das ist eben auch Teil der Entwicklung. Niemand fängt gut an. Als ich angefangen habe zu rappen, klang ich genauso schlecht wie jeder andere weiße Mensch, der jemals versucht hat, zu rappen. Im Laufe der Zeit wurde ich besser und mittlerweile rappe ich seit 18 Jahren. Wenn ich bis jetzt nicht gut geworden wäre, sollte lieber ich aufhören und einen Job in einer Bank annehmen.

Wechseln wir das Thema noch mal. Wir sind im Netz auf dieses Videointerview mit dem Vinyl Mag gestoßen. Du sitzt entspannt im Pool und erzählst, dass du stolz bist, ein Amerikaner zu sein. Für Menschen in Deutschland klingt so etwas komisch. Kannst du uns das vielleicht genauer erklären?

Deutsche und vor allem alternative Jugendliche in Deutschland haben ein sehr einzigartiges Verhältnis zu Staat und Nation – aus guten Gründen, die in der Geschichte des Landes liegen. Amerika dagegen ist verdammt kompliziert. Es ist mir peinlich, was mein Land tut, es ist mir peinlich, was mein Präsident oder meine Regierung macht, aber ich schäme mich nicht dafür, woher ich komme, denn da komme ich halt her. Ich bin ja nicht nur Amerikaner, ich bin auch noch Amerikaner aus dem Süden und für den Rest von Amerika ist das in etwa das Gleiche wie Geächtet Sein. Ich schäme mich auch nicht dafür, aus dem Süden zu kommen, obwohl der Süden seine eigene schreckliche Geschichte hat. Es ist genauso eine Sache des Stolzes, wie es eine Sache des Sich-Schämens ist. Man sollte sich immer der guten und der schlechten Seiten einer Geschichte bewusst sein. Man sollte keines davon stärker als das andere an sich heranlassen. Man sollte nicht zu stolz sein und behaupten, dass Amerika noch nie etwas Falsches getan hat oder perfekt wäre. Das ist totaler Quatsch und dumm. Ich bin stolz darauf, woher ich komme, aber ich trage auch das Kreuz auf meinem Rücken dafür, dass wir so schreckliche Dinge tun. Ich bin erschüttert, beschämt und angewidert davon… Mein größtes Problem mit Amerika ist, dass wir vergessen haben, dass wir Amerika sind. Immerhin hat das Ganze mit einer großartigen Revolution angefangen. Es war eine der besten Militäroperationen der Geschichte, mit der wir die Briten aus unserem Land hinausgeworfen haben. Das war großartig, aber dann haben wir es sofort vergessen.
Für Außenstehende sehr einfach zu sagen, dass Amerika die schlimmste Sache aller Zeiten ist. Genauso ist es für die Amerikaner in Seattle sehr einfach zu sagen, dass der Süden das Schlimmste ist. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie oft Leute das zu mir gesagt haben, als ich nach Seattle gezogen bin. Ich habe sie gefragt, wann sie mal im Süden waren und die meisten waren noch nie dort gewesen. Das ist das gleiche, als wenn ich nach China gehe und sage China sei das Schlimmste überhaupt. China ist nicht schlecht, die chinesische Regierung ist schlecht. Genauso sind nicht die Amerikaner schlecht, sondern die amerikanische Regierung, und ich bin nicht stolz auf die amerikanische Regierung, ich bin stolz auf Amerika.

Vielleicht ist das amerikanischste an Amerika einfach, dass es der größte Gegensatz auf dieser Welt ist…

Ja, es ist komplex. Ihr könnt das so wenig verstehen, wie ich es nicht für andere Orte verstehen kann. Durch die vielen Reisen, die gemacht habe, hat sich mein Verhältnis zu meinem eigenen Land verändert. Die Tatsache, dass ich in Rumänien, China, Russland, in all diesen Ländern auf vier Kontinenten war, hat mein Verhältnis zu meinem Land verändert – meine Gefühle, meine politischen Ansichten, einfach alles. Ich denke, ich bin ein besserer Amerikaner geworden, weil ich in der Slowakei, Litauen oder Deutschland war. Ich habe viel gelernt und sehe jetzt die Komplexität meines eigenen Landes. Amerika ist riesig groß, musst du wissen. Viele Amerikaner sehen aber nur sehr wenig davon. Ich dagegen habe tatsächlich die meisten Ecken von Amerika gesehen. Es ist sehr einfach für jemanden in Seattle, die Rednecks im Süden zu sehen und zu sagen, dass sie alle Idioten sind. Genauso ist es sehr einfach für jemandem im Süden zu sagen, in Seattle seien alle liberale und schwule Verrückte. Das sind beides dumme Vereinfachungen. Es ist eine komplexe Welt, in der wir leben. Amerika als einfach nur böse darzustellen ist zu billig und eine krasse Vereinfachung.

Und genauso ist es sehr einfach Amerika aus den falschen Gründen zu mögen…

Absolut. Einhundert Prozent. Wir sind nicht Bruce Willis, der Gebäude und Helikopter in die Luft sprengt. Levi’s und Coca Cola – fuck off!

Kommen wir mal zum letzten Thema. In deinem Tour Rider wird betont, dass du kein Vegetarier oder Veganer sondern Fleischesser bist. Musstest du so stark unter dem ganzen Tofu und Gemüse leiden, welches dir über Jahre serviert wurde?

Es ist uns schon oft passiert, dass ein Veranstalter zu uns kam und sagte, dass er gehört hat, dass wir Veganer seien und er uns deshalb ein veganes Abendessen gemacht habe. Als er dann hörte, dass wir auch Fleisch essen, meinte er: „Hätte ich das gewusst, hätte ich euch diese geile Wurst gemacht, die meine Großmutter immer gemacht hat!“ oder so etwas in der Art. Da haben wir uns gedacht, wir müssen da mal was klarstellen… Das Gerücht kam wohl daher, dass wir immer nach Früchten und Gemüse für den Backstagebereich gefragt haben. Daraus haben alle geschlossen, dass wir Vegetarier oder Veganer seien. Wir haben kein Problem mit vegetarischem oder veganem Essen. Gestern zum Beispiel hatten wir in Karlsruhe ein großartiges veganes Barbecue. Hin und wieder möchte ich aber auch mal ein geiles Steak essen.

Du hättest nicht so oft mit Tegan & Sara touren dürfen, sie haben genau das gleiche Problem.

(lacht) Ja, das ist richtig. Weil es zwei süße, kleine, lesbische Mädchen mit Indie-Haarschnitten sind, geht jeder davon aus, dass sie Vegetarierinnen sind… Verdammt, ich komme aus dem Süden. Machmal brauche ich ein Steak und ein Glass Whiskey. (lacht)

Interview: Benjamin Schlüter und Jan Tölva

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