Juli 1st, 2020

ARTERIALS (#192, 2018)

Posted in interview by Thorsten

Die übriggebliebene Band – TEIL II

In der April/Mai Ausgabe des TRUST schrieb ich über die Band STUN, die sich als eine übrig gebliebene Band bezeichnete und sich dabei auf eine in den 90er existierende Szene und Musik bezogen. Im Gespräch mit ARTERIALS fiel von Jan, der etwas später zum Interview dazu stieß, dieselbe Beschreibung. Tatsächlich bedienen sich ARTERIALS, die sich aus ehemaligen Mitgliedern von TACKLEBERRY, ROWAN OAK und NO WEATHER TALKS gegründet hat, einer starken Attitüde und Sozialisation der 90er Jahre. Das Debütalbum Constructive Summer deckt so ziemlich jede Strömung ab, die im weitesten Sinne zu Punkrock in den 90er gehörte, ohne sich einem bestimmten Genre deutlich zu zuordnen.
Rückblende: Ich stehe mit einem Freund im Electric Ball Room in London. Soeben hatten THE HOLD STEADY die Bühne verlassen, wir schlürften beseelt vom Konzert unser Bier und warteten auf eine Freundin, die im Saal verschwunden war. Mein Freund erhielt eine Nachricht vom ARTERIALS Account. Er hatte ein paar Wochen zuvor ein Konzert der Band in Bremen besucht. Nach dem Gig kam er mit ARTERIALS Sänger Flo ins Gespräch und stellte fest, dass sowohl die Band, also auch mein Freund (und ich) die HOLD STEADY SHOWS in London besuchen wollten. Ob wir uns noch sehen, wurden wir nun gefragt. Im Gewusel der großen Halle verfehlten wir uns zunächst am Merchttisch, wenig später auch am Ausgang. Trafen uns dann aber in einem nahen Pub um die Ecke. Wir tranken Bier, unterhielten uns über die Shows am Vortag und die gerade beendete und sprachen natürlich auch über die neue Band ARTERIALS und das kommende Album Constructive Summer.
Nach der Auflösung von NO WEATHER TALKS wollte Jan, Jens und Max unbedingt weiter zusammen Musik machen, da traf es sich gut, dass sie mit Flo, zwar nicht sofort, aber doch ziemlich schnell, einen Sänger fanden. Bereits nach der zweiten Probe war allen Beteiligten klar, dass diese Konstellation, Jens, Jan, Max und Flo ARTERIALS sein soll. Mittlerweile ist das Debüt beim Bremer Label Gunner Records erschienen.
Zum Interview treffe ich mich an einem sonnigen Augusttag vor einem Konzert zunächst mit Jens und später noch mit Jan. Dabei beweist Jens, der lange Zeit in Oldenburg gewohnt und sowohl dort, als auch in Bremen Konzerte organisiert hat, Ortskenntnisse und zählt diverse Spielstätten in der Hansestadt auf, als ich am Anfang erwähne, wie sehr ich mich auf das Konzert freue und das ich es seltsam finde, dass es so wenige junge Hamburger Bands nach Bremen schaffen, wo es doch die erste Anlaufstelle für ein Konzert außerhalb der eigenen Heimatstadt sein sollte. Die Szene scheint früher entweder aktiver gewesen zu sein oder der Musikgeschmack hat sich in den letzten Jahren stark geändert. Umso schöner ist es, dass ARTERIALS bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr in Bremen sind. So beginnen wir das Interview. Natürlich ist THE HOLD STEADY ein Thema, über das gesprochen werden muss. Das versteht jeder, der die Band aus New York bzw. Minneapolis in das Herz und den Kopf geschlossen hat. Es ist fast zwanghaft, wie zwei Dylan-Jünger, die sich über Bobs Texte unterhalten, philosophieren HOLD STEADY Fans über Musik und Texte der Band und kommen früher oder später immer wieder auf die Band zurück.

Eure Platte – Constructive Summer – ist für mich nicht so richtig greifbar. Wie würdest du das Album beschreiben?

Jens: Es ist sicherlich nicht die Neuerfindung des Rades. Das war auch nicht das Ziel. Wir hatten einfach Bock Musik zu machen, die uns gefällt. Und da sind wir schon bei der Beschreibung: Tendenziell 90er Jahre beeinflusst und grundsätzlich englischsprachige Musik. Wenn ich 90er Jahre sage, dann meine ich nicht, dass wir einen NOFX-mäßigen Sound aufleben lassen wollen, sondern uns mit Musik, die auf Doghouse oder Jade Tree rausgekommen ist, identifizieren. Das sind zumindest die Inspirationsteile, die ich als Gitarrist mit in die Band gebracht habe. Ich bin mit dem Ergebnis jedenfalls sehr zufrieden, was sonst eher selten der Fall ist.

Hat Euch THE HOLD STEADY, bis auf den Albumtitel, noch weiter beeinflusst?

Jens: Ich wünschte, es wäre so. Das ist natürlich ganz andere Musik, als wir sie spielen. Und auch beim Songwriting gibt es keine Parallelen. Wir kommen viel stärker aus der Hardcoreecke und arrangieren unsere Songs als Aneinanderreihung von Riffs und nicht im klassischen Sinn um den Gesang herum. Ich wünschte mir, ich könnte inhaltlich Musik machen, die wie HOLD STEADY ist, die ungeheuer gute Bilder und Geschichten transportiert. Aber das können wir nicht. Insofern ist THE HOLD STEADY keine Inspiration.

Du meinst, dass klassische Geschichten erzählen, praktisch eine Kurzgeschichte musikalisch untermalt.

Jens: Genau. Das ist bei unseren Songs eher nicht der Fall. Sicherlich gibt es Momente, in denen Bilder entstehen, aber dieses Geschichtenerzählen kommt bei uns nicht vor. Das ist aber typisch für eine Hardcoreband. Es gibt kaum Gruppen, die erzählende Texte schreiben. Die Einzigen, die mir spontan einfallen, sind MODERN LIFE IS WAR.

Einzelne Passagen oder Strophen finde ich schon recht bildlich in Euren Songs. Es zieht sich eben nicht durch ein ganzes Lied. Ich denke da vor allem an das Stück Blood or Water. In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass Musiker, aber auch Journalisten sich wieder in ihren Texten politischer positionieren. Wäre ein Song wie Blood or Water bei Euch (oder den Vorgängerbands) vor ein paar Jahren möglich gewesen?

Jens: Vielleicht nicht so direkt. Es ist ein Song, der auf aktuelle politische und gesellschaftliche Themen eingeht. Ich würde dir Recht geben, vor fünf Jahren wäre das thematisch möglich, aber nicht so explizit gewesen.

Empfindest Du Constructive Summer eigentlich als düster (wohingegen der gleichnamige HOLD STEADY Song positiv ist)?

Jens: Eigentlich nicht. Für mich persönlich ist es die positivste Platte, die ich je mit einer Band gemacht habe. Den Titel Constructive Summer haben wir gewählt, weil es genau beschreibt, wie wir diese Platte gemacht haben. Letztes Jahr, nachdem NO WEATHER TALKS sich aufgelöst haben, wussten wir, wir wollten weitermachen und haben wie blöd geprobt und Songs geschrieben. Und das dann im Herbst aufgenommen. Deswegen ist das Cover auch herbstlich gestaltet. Der Titel und auch der Songtitel von HOLD STEADY, umschreibt ziemlich genau, was wir gemacht haben. Eine Gruppe von Freunden macht was zusammen und will was bewegen. Genau das haben wir gemacht.

Zusammen mit Blood or Water ist Millstone der Song, mit einer kritischen Haltung auf dem Album. Ist es Euch wichtig Euch mitzuteilen?

Jens: Ich finde es als Band wichtig eine Haltung zu haben. Das muss nicht unbedingt bedeuten, sich politisch zu äußern. Ich finde, bei Bands entstehen Statements häufig dadurch, wie sie etwas machen. Wie sie arbeiten oder etwas präsentieren. Das impliziert sehr viel, ohne das es ausgesprochen wird. Die beiden erwähnten Texte sind die geradlinigsten, bei denen es am klarsten ist, was gemeint ist. Das hatten wir nicht geplant, empfinde ich mittlerweile aber als wichtig. Das ist ein wichtiges Element der Band geworden. Dass eine klare Message drin ist.
Jan: Wenn ich mich da einmischen darf, auf dem Album haben wir uns vorher überhaupt nicht auf einer politischen und inhaltlichen Ebene unterhalten. Das hat sich so ergeben. Nichtsdestotrotz ist es auf Linie, mit dem, was wir uns vorgestellt haben. Auf den neuen Songs, die gerade entstehen, werden wir expliziter werden. Ich finde es total gut, wenn man sich positioniert. Ich kann mir vorstellen, dass es zukünftig eine textliche Marschroute wird.
Jens: Genau, etwas das sich entwickelt hat.

Das führt gleich zu zwei Fragen: Die Erste – sind ARTERIALS die Summe Eurer vorherigen Bands?

Jan: Auf jeden Fall. Wir haben uns als Menschen weiterentwickelt und wissen jetzt viel besser, was wir nicht wollen. Das war bei ARTERIALS ganz krass der Fall. Wir drei übrig gebliebenen von NO WEATHER TALKS wussten ganz genau, was uns wichtig ist und was wir nicht wollen. Musikalisch stimmt das auch, wer genau hinhört, findet aus jeder der vorherigen Bands etwas.

Die zweite Frage wäre dann die nach dem neuen Album. Du erwähntest, Ihr schreibt schon an neuen Songs.

Jan: Wir haben schon eine Menge geschrieben. Sind aber auch nicht mehr die Jüngsten.
Jens: Vielleicht schaffen wir es nächstes Jahr. Das ist nicht unrealistisch.

Seid ihr denn zufrieden mit den Möglichkeiten, die ihr in den letzten Jahren ergriffen habt?

Jan: Es kann immer mehr sein. War in dieser Form aber erwartbar. Wir können nicht erwarten, dass die Leute sich sofort die Finger nach uns lecken. Damit im Hinterkopf würde ich sagen, haben wir im letzten Jahr coole Sachen gemacht. Es gibt treue Seelen, die uns ungehört supporten. Da gehört Gunnar dazu (Gunner Rec), der von Anfang an gesagt hat, er bringt unsere Platte raus. Was Konzerte buchen angeht, muss ich sagen, haben wir den Kontakt verloren. (Pause) Ist das zu ehrlich?
Jens: Ne, ist ja genauso. In dem Bereich, in dem wir uns bewegen, scheinen wenig junge Leute nachzukommen, die das interessant finden. Die Konzertakquise ist schwieriger geworden.
Jan: Du bist auch keine Mitte zwanzig mehr, würde ich sagen. Wir sind die übrig gebliebenen, aber die buchen keine Konzerte mehr. Und wenn doch, klappt es bei Leuten unseres Alters noch ganz gut. Den Draht zu den jüngeren haben wir noch nicht so gefunden. Ich finde aber auch, dass wir nicht so richtig einzuordnen sind. Ich weiß nicht, ob ihr darüber schon gesprochen habt.

Darauf zielte meine Eingangsfrage ab.

Jens: Wir sitzen ein bisschen zwischen den Stühlen, das stimmt schon. Für Saufpunk ist es zu Hardcore, auf einem Melodycore Festival durften wir mal nicht spielen, weil wir zu wenig Melody waren und für Hardcore ist es zu soft.
Jan: Szenemäßig kannst du das auch ausdrücken. Wir passen in keine Szene und folgen keinen bestimmten Trend. Das ist schwer uns eindeutig zu zuordnen.

Mit dieser Aussage stehen Jens und Jan nicht alleine da. Aus diesem Grund fragte ich Jens eingangs nach seiner Einschätzung. Für mich ist Constructive Summer, da muss die journalistische Neutralität in einem FANzine hinten anstehen, das beste Album aus dem Bereich Punkrock des Jahres. Constructive Summer verbindet alles, was an dieser Musik und seinem Subgenres interessant ist. Wie von Jens selber beschrieben, ist die Musik natürlich in den 90er sozialisiert und hat einen großen EMO-Einschlag, ohne dass diese Zuordnung vollständig zutrifft, dafür gibt es zahlreiche weitere Referenzen. Obendrein wäre dieses Album in den 90er wahrscheinlich niemals so erschienen, weil ARTERIALS auf Genreregeln scheißen und Hardcore, Emo, Punk und ein wenig Melodypunk auf gerade mal 12 Songs verbinden. In der Regel ist das für Szenepuristen zu viel. „Reformation Day“ ist ein knapp 50-sekündiger Hardcorebrecher, während „Between The Gutter And The Stars“ eher als klassischer Emosong gewertet werden kann. „Atlas“ bedient sich Indierockanleihen und „Roll Over, Play Dead“ ist gerader Punkrock. Erfrischend ist dabei stets die Art von Flos Gesang, immer rau, kurz vorm Schreien, aber er trifft jedes Mal den Ton und verfällt glücklicherweise nie in ein Brüllen. Drumherum verbreiten die restlichen Bandmitglieder angenehme (melodiöse) Chöre, sowohl in Anzahl, als auch Lautstärke, Dauer und Intensität richtig dosiert. Und die knappe Gesamtspielzeit von circa 30 Minuten sorgt nur dafür, dass ich Constructive Summer grundsätzlich zweimal am Stück höre, als das Album nach einem Durchgang genervt wegzulegen.

Text & Interview: Claas Reiners

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