Dezember 31st, 2021

Acht Eimer Hühnerherzen (aus #204, 2020)

Posted in interview by Jan

Acht Eimer Hühnerherzen war ganz klar Liebe auf den ersten Blick. 2, 3 Songs des Debüts, „ich hab mein Händy verloren“, „alles etwas übertrieben, lass uns auch mal wieder lieben“, BOOM. Kein Umweg, direkt abgeholt, eingesogen, vereinnahmt. Ohne nach links und rechts zu schauen, direkt in die Musik hineingelegt. Zu zwingend sind die großartigen Vocals von Apocalypse Vega, zu eigen die mal abstrakten, mal außerordentlich persönlichen Lyrics, zu treibend der Sound aus einem Indie-, Punk- und Folk-Gemisch. Und dann, nach einiger Zeit dieser Moment, als auffällt: dass packt einen nicht nur immens (das ist ja erstmal mein Problem), nein, das ist auch noch verdammt gut, was da durch den Äther wabert.

Auf so vielen Ebenen, und nun auch beim zweiten Werk „album“, sodass ich Zeilen mitsinge voller eigentlich immens kalter Begriffe wie „Widerstand und Konvergenz, Produktion und Transaktion, Trägheit und Häufung, Geräte und Produkte“ („Zahlen“), aber eben auch die mitreißend-melancholischen Worte „Sie fährt gern mit ihm im Auto, bis nach Leipzig und zurück, und kauft ihm da ’ne Quittenbrause, für mehr Dissens und noch mehr Glück“ („Quittenbrause“). Es ist fast schon etwas gespenstisch, wieviel dieses Trio aus Berlin richtig macht, aber ihr wisst das natürlich schon alle, Charts und Radio sind ja geentert. Also Wort an die Band und viel Spaß mit Apocalypse Vega, Bene Diktator und Herr Bottrop, Achtung: Deutschlands relevantestem Trio im Jahre 2020. Nix warum, isso.

Erst einmal Respekt zur zweiten Platte. Ich hätte ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass ihr mich nochmal so erwischt, da ich dachte die Leichtigkeit einer solchen ersten Platte und auch die Hit-Dichte sei nicht reproduzierbar – aber weit gefehlt. „album“ ist eine großartige Weiterentwicklung eures Sounds, bißchen dunkler gemalt, bißchen trauriger und auch etwas bitterer im Abgang. Habt ihr euch viele Gedanken dazu gemacht oder ist das eher Abbild eurer persönlichen Rahmenbedingungen der letzten zwei Jahre?
Bene Diktator: Merci und ja, das letztere.

Apocalypse Vega: Ja, eher als Abbild unserer letzten beiden Jahre: mehr Leid und mehr Liebe! Mehr Autos! Mehr Mehr!

Herr Bottrop: Mehr und mehr und viel zu viel. Unter Schmerzen. Ich muss aber mal loswerden, wir haben trotz widriger Umstände, unfassbarem Autopech, Pannen, Unfällen und ernsthafteren schmerzlichen Erlebnissen und trotz des großen weltlichen Gesamtschlamassels auch immer viel gelacht… sehr viel gelacht. Das hört man bei den Liedern „Kein Lied für dich“ oder „Polenböller“. Und natürlich bei „Hallo“. Aber skeptisch-traurig-nachdenklich überwiegt auf „album“. Passt irgendwie in die Corona-Zeit.

Ja, ich konnte auch schon lesen, dass eure aktuellen Songs mit ihrer Melancholie, der Einsamkeit und dem leicht verschrobenen Blick auf die Welt der perfekte Soundtrack für diese Pandemie sind. Wenn ihr denn da so weit vorne mit dabei seid: Hat euch Corona schon etwas über das Leben, unsere Gesellschaft oder auch euch persönlich lehren können?
AV: Darauf lässt sich nur schwer antworten. Wir stecken doch noch mittendrin – da kann noch keine Lehre sinnvoll gezogen werden. Eines wurde mir aber schon sehr klar: mir fehlt das Live-Spielen, also das Ausrasten, das Schreien, das Wegtreten. Ich weiß gar nicht wohin mit meinen Aggressionen…

HB: Mal abgesehen von der medizinischen Notfall-Situation empfand ich die ersten zwei Monate der Shutdown-Maßnahmen eigentlich als ziemlich glimpflich. Überhaupt nicht unangenehm, das verordnete Runterfahren von wirtschaften, arbeiten, kaufen, sich verkaufen, produzieren. Hätte da nicht unsere ganze kapitalistische Welt zusammenbrechen müssen? Ist sie aber bisher noch nicht. Jedenfalls hier in Berlin. Allen ging es relativ gut. Es fuhren nur noch drei bis fünf Autos in der Stunde über die Warschauer Brücke und alles kam zu einem großen Stopp. Eigentlich war es wunderbar, absoluter Stillstand. Wie ein meditatives Nirvana. Aber andere Menschen kommen mit Stillstand und Isolation nicht gut klar. Insofern ist unsere Platte auf jeden Fall ein kleiner Soundtrack gegen (oder über) die Einsamkeit und die bizarren Situationen.

Wie seid ihr generell zufrieden mit den Rückmeldungen auf das Album? Lest ihr eigentlich Rezensionen und die Interviews dazu, die ja doch auch in größerer Zahl vorhanden sind? Und wie sehr freut man sich über Chartplatz 86?
AV: Herr Bottrop hat das ja schon letztes Jahr prophezeit. Damals haben wir noch darüber peinlich berührt gekichert. Heute geht jeder von uns anders damit um: Mir zum Beispiel ist das völlig egal, Charts existieren für mich ausschließlich in den 90ern.

BD: Das mit den Charts fand ich eher witzig, weil es mir absolut unpassend und absurd vorkam.

HB: Der Chartplatz ist eigentlich nicht so weltbewegend, aber der Zeitpunkt und die verstörenden Umstände – in der gleichen Woche, in der die Seuche alles lahmlegt und unsere komplette Tour ins Wasser fällt. Was für ein Desaster. Umso schöner dafür die tollen Reviews.

BD: Immer wieder interessant zu lesen ist, wie unterschiedlich unsere Lieder gehört und interpretiert werden.

AV: Ich bin überrascht und sehr erfreut und zumeist so aufgeregt, dass ich eine Rezension erst Tage später lesen kann. Vielleicht hat das auch mit Scham zu tun.

Ich hätte euch dieser Tage auf eurer Release-Tour gesehen, leider ist sie aufgrund Corona verschoben. Wie sieht euer aktuelles Bandleben in Zeiten von Corona aus? Habt ihr digitale Lösungen am Start bzgl. Proben oder Songschreiben? Oder ganz andere Wege? Seid ihr aktuell produktiver in eurem kreativen Schaffen dank Isolation und weniger Ablenkung? Oder hält euch die tägliche Kinder-Bespaßung davon ab?
AV: Sowohl als auch. Wir proben, schreiben neue Songs, drehen Videos und lachen viel. Und lassen uns auch immer wieder von irgendwelchen Kindern und Erwachsenen und Verpflichtungen davon abhalten.

HB: Und von Autos. Immerhin – wir haben dreieinhalb neue Lieder geschrieben.

BD: Mich persönlich macht der Alltag zurzeit eher matschig in der Birne als kreativ. Da sind Proben und das gemeinsame Arbeiten an neuen Songs auf jeden Fall das beste Mittel dagegen.

HB: Als „Berufsmusiker“ darf man nämlich offiziell und gemeinsam in einem Raum proben – sagt der Senat von Berlin. Man muss nur zwei Meter Abstand von seinem Mitmusiker halten oder eine Maske tragen. Eine Maske ist aber blöde beim Singen, auch für die Backing-Vocalisten Bene und Bottrop. Deswegen lieber zwei Meter Abstand. Hauptsache gemeinsame Proben, trotz ausgefallener Tour und ausgefallener Record-Release-Party im SO36.

Ja schöne Sache mit dem Proben – heißt ihr schreibt schon am nächsten Album?
BD: Wir schreiben auf jeden Fall an Songs. Was dabei dann rauskommt, wissen wir jetzt noch nicht.
Stattdessen gab es ja eure Release-Show im Internet als Live-Stream. Ihr als eher scheue Rehe, was dieses Medium angeht – wie war es, so allein auf der Bühne ohne Publikum?

AV: Irgendwie steril und spacig.

HB: So ein bisschen zwischen NASA-Kontrollzentrum Houston während der Mondlandung und mobiles Militärhospital nach dem D-Day. Alle mit Schutzmasken, fünf Meter voneinander entfernte technische Pulte und Computer, mit hunderten von Kabeln dazwischen.

BD: Wie eine Radioaufzeichnung in einem riesengroßen, leeren Raum. Die sympathische Crew von „Berlin Culture Cast“ hat aber viel dazu beigetragen, das Ganze aufzulockern.

HB: Wir hatten eine schöne Zeit, aber ich glaub wir brauchen noch 10 bis 15 weitere Livestream-Shows ohne Publikum, bis wir uns in so einer Situation wirklich wohlfühlen.

Kann ich mir sehr gut vorstellen, dass das schwierig war. Die große Bühne und der weite Kamera-Abstand hat auch eine immense Distanz und Kälte erzeugt, die nicht so richtig eurem Sound entspricht. Dann doch lieber kleiner, wie etwa Audiotree-Sessions oder fürs Radio bei KEXP oder KCRW, die ja auch ohne Publikum stattfinden. Ihr habt einen meiner Lieblings-Tracks, „Quittenbrause“ aktuell ja auch in einer Studio-Session aufgenommen, um Spenden für Rojava zu sammeln. Wie kam es dazu und habt ihre eine bestimmte Beziehung zu Syrien?
BD: Als klar war, dass unsere Release-Tour nicht stattfinden wird, wollten wir trotzdem etwas Schönes machen, um nicht nur in der Gegend rumzusitzen. Im Studio B bei Herr Smail haben wir unsere beiden Alben aufgenommen und uns immer sehr wohl gefühlt, deshalb fiel die Wahl nicht schwer. Zu dieser Zeit war ein großer Teil der Bevölkerung und der Presse so viel mit Rumheulen über fehlendes Klopapier und Ähnlichem beschäftigt, dass das schreckliche Leid der Menschen, die in Kriegsgebieten oder an irgendwelchen Grenzen ausharren, viel zu stark an den Rand gerückt wurde. Deshalb auch der Spendenaufruf.

Ok, schöne Sache! Als ich 16 war, war ich auf der Beerdigung einer guten Bekannten, die mit ihrem Moped auf dem Weg zum ersten Tag in der Lehre von einem zu schnell fahrenden Auto erfasst wurde und dabei starb. Es war also ein maximal tragischer Tod und die Beerdigung war ungemein emotional, eben weil es so ein junger Mensch war. Sie war riesiger Ärzte-Fan und es liefen in der Kirche dann auch zwei Songs von ihnen, einer war „Zu Spät“ – und es war so richtig, so passend, dass diese Musik da lief. Jetzt habe ich gelesen, dass ihr euren Startpunkt auch bei einer Beerdigung hattet, bei der der Verstorbene sich eben Live-Musik gewünscht hat und ihr euch dazu zusammengefunden habt. Wie kam es dazu, dass genau ihr drei da zusammengespielt habt? Und was habt ihr davon mitgenommen für euch persönlich und als Band?
AV: Das war unser zweiter Auftritt und der Sache nach sehr eigenartig. Wir wurden von den Angehörigen, Freunde von Herrn Bottrop, gefragt und haben natürlich gleich zugesagt.

HB: Es waren nicht die Angehörigen sondern ein enger Freund des Verstorbenen, den Angehörigen hat das Konzert aber auch gut gefallen, haben sie zumindest hinterher alle gesagt. Es war auf jeden Fall würdig und ein großer Wunsch des Verstorbenen. Nach der Show kam dann noch der Chef des alternativen Bestattungsunternehmens, der die Feier mitorganisiert hatte, und hat gefragt, ob wir nicht Lust hätten als professionelle „Beerdigungsband“ von ihm fest angestellt zu werden. Das hat sich dann aber schnell wieder zerschlagen, nachdem ich ihm eine Liste geschickt habe, wieviel mobiles Akkustrom-getriebenes Equipment dafür angekauft werden muss.

BD: Es ist schwer zu beschreiben aber den Gedanken an eine professionelle Beerdigungsband habe ich immer noch nicht ganz verworfen.

Ich habe eben mal nach Beerdigungsband gegoogelt und Toptreffer ist die Metal-Band BRDigung, haha. Aber tatsächlich auch eine Kapelle namens The Funeral Band, die recht alleine in der Nische scheint – da wäre also noch Platz für euch. Aber das nur am Rande.
BD: Dann steht ja dem Plan B nichts mehr im Weg.

Zurück zu eurer Band: Klar ist das Ganze größer als die Summe der Teile, aber wenn ich mir die einzelnen Elemente von Acht Eimer Hühnerherzen ansehe, könnte man fast meinen, das ist alles verdammt gut durchdacht. Der doch eigene Sound mit der speziellen, auch minimalistischen Instrumentierung, Stichwort Nylon-Punk mit Akustik-Bass und spanischer Konzertgitarre, die gekonnte Vermengung von Pop und Punk, Indie und Anti-Folk, die abstrakten und die dann doch wieder überhaupt nicht abstrakten Lyrics, die wiederum ganz edgy mit Pop brechen und euch davor bewahren, in einen Topf mit Wir Sind Helden oder Zweiraumwohnung geworfen zu werden. Sind Acht Eimer Hühnerherzen schon Konzeptkunst oder spielt der Zufall bzw. eure einzelnen Charaktere eine weitaus größere Rolle?
AV: Es war alles überhaupt nicht so geplant. Herr Bottrop und ich wollten eigentlich nur komponieren und die Songs dann an wirkliche Musiker verscherbeln. Naja, und dann haben wir einfach keine passenden Musiker gefunden und stattdessen den Bene Diktator dazugewonnen. Vielleicht ist das auch irgendwo „Konzeptkunst“, ohne ein tatsächliches Konzept zu haben.

BD: Auf keinen Fall Konzeptkunst! Dafür passiert zu vieles intuitiv und ungeplant.

HB: Ich kann dazu gar nicht so viel sagen. Irgendwie „situativ“. Vieles geschieht ganz spontan und ohne einen Hintergedanken, was denn am Ende wohl dabei rauskommen wird. Bei vielen Sachen müssen wir uns nur wortlos im Proberaum anschauen und dann passiert was. Manchmal braucht ein Lied aber auch zwei Jahre… „Zahlen“ zum Beispiel. Ich möchte gar nicht zu viel darüber nachdenken. Auch nicht über die Textzeilen. Bloß nicht analysieren. Ich hab Angst, dann diese kurzen speziellen Momente zu verlieren, die ich selber gar nicht richtig verstehe.

Ihr spielt sehr viel mit der deutschen Sprache und scheint auch eine gewisse Liebe zu Fremdwörtern zu haben. Etwa habe ich das Wort „Rhizomatik“ gelernt oder auch „Filament“, eure erste Single hieß „Somnambulismus“. Wie läuft bei euch das Texten ab? Stehen erst die Lyrics, noch vor dem Song? Und schreibt ihr alle drei an den Texten mit? Und wer schaut, dass ja kein Song im Radio laufen wird aufgrund zu weniger lyrischer Haken und Ösen?
AV: Oh, meistens habe ich zuerst Textfetzen und dann Akkorde und Melodien, mit denen ich die beiden anderen konfrontiere. Danach folgt ein Prozess der Brutalisierung: Wir ziehen uns Trainingsanzüge an und rennen erstmal wie wild hin und her. Jeder darf mal pfeifen und Ansagen machen.

HB: Befehle erteilen und die anderen anschreien. Dabei ersetzen wir die niedlicheren Sätze mit Slayer-Zitaten und drehen den Sinn von allem um.

AV: Dann nehmen wir unsere Instrumente und machen den Song einfach fertig. Eine Lyrikpolizei haben wir natürlich nicht, hat das jemand?

BD: Also ich hab mich ja letzte Woche schon geärgert als einer unserer Songs im Radio lief.
Ok, und wo lief der? Und welcher Song? Und warum hat es dich geärgert? Hört doch keine Sau mehr, dieses Radio.

BD: Weiß nicht mehr auf welchem Sender. In der Anmoderation wurde unser einfacher Titel „Somnambulismus“ komplett falsch ausgesprochen, aber wenn du meinst, dass es sowieso keiner gehört hat, bin ich jetzt wieder beruhigt.

Auf dem älteren Song „Händy“ spielt der „olle Schlüppa“ einer gewissen Person eine größere Rolle. Mich hat das total in meine Kindheit zurückgeworfen (ich komme aus Ostsachsen), da wurde auch immer dieses wunderbare, vom Aussterben bedrohte Wort benutzt. Neben den vielen Fremdwörtern, die ihr in eure Songs packt – habt ihr einen besonderen Bezug zur deutschen Sprache? Auch vielleicht eine gewisse Mission oder einen hehren Anspruch, etwa wie durch Sprache mit Schönheit und Härte, Kälte und Rotz gespielt werden kann?
AV: Was soll man denn machen mit all den Worten im Kopf? Die müssen doch raus! Und natürlich: Es macht Spaß damit zu spielen und völlig unbeabsichtigte Zusammenhänge herzustellen.

HB: Sind ja nicht nur die Fremdworte und die imaginären Wortgebilde, die den Zusammenhang herstellen, sondern der besondere Brandenburgisch-Berliner Släng und Vegas eigenwillige Diktion. „It’s the Singer not the Song“. Aussprache und Tonfall sorgen dafür, dass jeder den Inhalt des Liedes sofort mitfühlen kann, obwohl er gar nicht genau versteht, worum sich die Assoziationen eigentlich genau drehen.

AV: Sprache ist großartig! An eine Mission denke ich aber gar nicht.

HB: Wenn du die verschiedenen Möglichkeiten aller bisher unausgesprochenen und ungedachten Hauptwörter-Kombinationen austestest und damit spielst, kannst du vielleicht sogar eine kleine Vorstellung davon kriegen, welche Mode-Wörter und unnützen Erfindungen in den nächsten Jahren aufkommen werden, wie in der Satire „Der futurologische Kongress“ von Stanislaw Lem.

Ok, werde ich mal versuchen. Ich habe vor einigen Tagen die Janis Joplin-Biografie von Holly George-Warren, „Nothing Left to Lose“ beendet. Janis sprach immer davon, dass sie stets vom „Kozmic Blues“ begleitet wird und so hieß dann auch der großartige Song, mit dem sie sich als Solo-Interpretin etabliert hat. Bei euch ist es der „Kozmic Schlüsseldienst“ – gibt es einen Bezug zu Janis bei dem Song und wenn ja, wie sieht er aus? Bilden wir uns in unserem Trott ein, dass es immer jemanden gibt, der uns aus der Scheiße holt, nur damit wir uns wieder in der alltäglichen Bedürfnisbefriedigung wiederfinden?
AV: Nein, der Song hat eigentlich nichts mit Janis Joplin zu tun. Aber wenn du möchtest, kannst du das trotzdem gerne so sehen (wie gesagt: Sprache ist großartig). Zu deiner letzten Frage: Ich denke, dass uns nicht irgendjemand daraus holt, sondern jeder sich selbst mit seinem Können/Wollen/Sollen, um dann wieder da anzukommen, wo die Scheiße immer wieder neu beginnt. Du hast das irgendwie schon sehr gut beschrieben.

Ok, naja wenigstens 1 von 2 Punkten, aber das mit Janis bieg ich mir auch noch zurecht. Ein Song, der mir damals auf eurem Debüt gar nicht gefallen hat, war „Lederhelene“. Ich habe mich gefragt, wie viele Songs ich eigentlich schön gehört habe, die von oberflächlichen, dummen Frauen handeln, die eine gemachte Oberweite haben und denen Männer, die Armen, zum Opfer fallen – ich meine, viel zu viele. Und ich frage mich, warum Männer dabei so gut wegkommen und wo eigentlich das Besingen des (unbekannten) männlichen Barbie-Pendants bleibt. Ist „Lederhelene“ vielleicht doch mehr als das und ihr seht das ganz anders? Oder reitet ihr auf dem Song einfach auch mal ein Klischee?
AV: Ich hatte auch meine Probleme mit der Helene. Und habe ich auch immer noch. Der Text ist schwierig und klar klischeebelastet. Vielleicht musste das auch mal sein: ich erinnere mich an meine Wut und auch an meinen Neid, keine Helene zu sein. Naja, und jetzt ist es so: Ich lache den Text beim Singen weg und schmeiße mich dann mit Freude in den Instrumentalteil.

HB: Es geht ja gar nicht um die vermeintliche Helene, sondern um die hasserfüllte Eifersucht und Neidgefühle, nachdem dir jemand eine Verletzung zugefügt hat. In ihrer grenzenlosen Enttäuschung schreibt die Erzählerin der Helene alle schlechten Eigenschaften der Welt zu. Ein Ausbruch von unendlich trauriger Wut, mit bösem Spott rausgeschrien.

BD: Ein rotziger, aggressiver Punksong. Ich mag den und finde, dass der männliche Part dabei auch überhaupt nicht gut wegkommt.

Die Herren am Bass und am Schlagzeug sind ja bekanntere Gesichter, zu dir Apocalypse Vega konnte ich leider weniger finden. Irgendwo stand, du seist Künstlerin – was machst du tolles und wo kann man das sehen?
AV: Ich halte mich da mit Absicht bedeckt und agiere mit mehreren Identitäten. Super, dass du nichts gefunden hast!

HB: Hmm. Wohlmöglich heißt Apocalypse Vega ja gar nicht so? Etwa ein falscher Name?

Ok, da will ich die gewünschte Anonymität nicht stören und nicht dazu beitragen, dass du die nächste Elena Ferrante wirst. Dann zumindest die Frage, was deine Berührungspunkte mit Punk bzw. Punk-Musik sind. Und wie habt ihr euch als Band eigentlich kennengelernt?
AV: Klassische Punkrockausbildung: besetztes Haus – kennst du das Schloss Zeesen? Erste Punkband mit 15 und immer wieder Scheiße, Glück und Anarchie!

HB: Da war so eine junge Frau mit einer riesengroßen Brille auf den Konzerten, die sie immer bei den ersten Takten der Band abgesetzt hat. Am Ende des Konzertes kam sie ganz zerrupft und voller blauer Flecken aus dem Pogo-Pit. Irgendwann hat sie erzählt, dass sie selber auch Lieder schreibt.

BD: Vega und ich haben uns beim verkatert Tischtennisspielen im Bethanien-Park kennengelernt.
Wenn es ums Songwriting geht: Wer bringt bei euch den Pop rein? Wer hat diese schicken Melodien parat? Oder nutzt ihr alle die Band, um euch auf diesen quasi un-punkigen Gefilden auszulassen?

AV: Ich habe ein Problem mit Pop. Die meisten Melodien entstehen dann, wenn man nicht nach ihnen sucht. Oder sind schon seit Jahren da. Ich denke, dass von uns jeder seine eigenen Melodien hat und diese auch hervorragend in jedem Lied platzieren kann. Das hört man ja auch.

BD: Guter Pop kann eine feine Sache sein, aber die Melodien kommen wie sie kommen.

HB: Wir versuchen auch immer etwas Ungerades, Sperriges oder „Brutales“ reinzubringen, etwas Unpassendes. „Manchmal klappt’s – manchmal auch nicht“.

BD: Die stilistische Einordnung spielt für uns dabei keine Rolle.

Da ich mir schwer vorstellen kann, dass ein Terrorgruppe-Johnny Bottrop in den 90ern bei AEHH gespielt hätte: Ab welchem Zeitpunkt war es für euch ok, so einen weichen, poppigen Sound zu spielen? Was muss man selbst vielleicht auch erst lernen wertzuschätzen, um sich darauf einzulassen?
AV: Schwierig. Fast beleidigend. Weich und poppig? Hier werden harte Sachen verhandelt!

BD: Härte hat für mich auch nichts mit Geschwindigkeit oder Verzerrungsgrad der Instrumente zu tun. Ich hab schon immer Musik gemacht wenn es sich gut angefühlt hat.

HB: Einige Songs sind schneller als bei „konventionellen“ Punkbands und die Live-Recordings mit den kleinen akustischen Nylonsaiten-Instrumenten legen das pure Gerüst eines Liedes offen, nackt und ungeschönt und pur und irgendwie auch sehr „hart“.

Ok, ich glaube zu verstehen was ihr meint und ich denke genau diese Kunst, eben den vermeintlich eingängigen Sound um mehrere Facetten zu erweitern und ihn in ein anderes Licht zu setzen, macht euch ja auch aus. Ihr sagt AEHH ist keine Konzeptmusik, nicht am Reißbrett entworfen, einfach natürlich gewachsen – habt ihr dennoch Bands, die euren Sound in gewisser Weise inspiriert haben? Sowas wie VIOLENT FEMMES oder PJ Harvey?
BD: Die Violent Femmes auf jeden Fall. Jeder von uns hat natürlich seine eigene musikalische Sozialisation und bringt verschiedene Einflüsse in die Band ein.

AV: The Cure und Gundermann.

HB: X, Jonathan Richman and the Modern Lovers, Liliput und Hans-A-Plast.

Ich habe eben die Radio-Sendung „London Calling“ gehört, in der du, Herr Bottrop, interviewt wirst, und die Ausgabe beginnt mit RONG KONG COMA´s „Scheiß Berliner“. Nachdem vor vielen Jahren ja der Berlin-Hype losgetreten wurde, geht es ja seit geraumer Zeit immer mehr darum, dass Berlin seinen Charme verliert, Stichworte sind Hipster, Gentrifizierung, Berlin Mitte-Wahn, Mietenexplosionen, Menschen, die Subkultur nur noch konsumieren, aber nicht mehr gestalten, eben Lifestyle größer Kultur. Ich frage mal andersherum: Gibt es eigentlich auch etwas, was sich in den letzten Jahren positiv in Berlin verändert hat?
BD: Weil ich selbst ja mal Mitglied der oben genannten Band war, sehe ich die Entwicklung ähnlich negativ. Trotzdem gibt es immer wieder Lichtblicke und Leute, die  kleine, feine Projekte auf die Beine stellen, um das subkulturelle Leben zu bereichern und dem Ausverkauf zu trotzen.

HB: Es ist leider nur noch eine Frage der Zeit, bis Berlin genauso aussieht wie Stuttgart oder Bielefeld. Hoffentlich irre ich mich jetzt

Wie geht´s weiter mit der Band? Wie ist der Plan für die nächsten Monate und Jahre?
AV: Zunächst und sobald es geht holen wir natürlich unserer Tournee nach. Das kann bis zum nächsten Frühling dauern. Was dann kommt, ist unklar, darüber denken wir noch nicht nach.

BD: Keine Ahnung! Im Ernst. Aber hoffentlich so bald wie möglich wieder live und laut auf der Bühne sein.

JB: Und vorher mal den Proberaum aufräumen.

Danke für die Musik! Und für das Interview.

Text: Lars Schubach

PS: Max, wo auch immer du und deine Gang gerade weilen, zwischen Berlin und Leipzig: Danke für diese musikalische Empfehlung.

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