März 3rd, 2007

Kolumnen Dolf, Jan, Daniel (#117, 06-2007)

Posted in kolumne by jörg

DOLF

Ist euch schonmal aufgefallen wie AUSDRUCKssTARK fast alle Bands heutezutage sind? Egal ob das beim Schulbandwettbewerb, im TV oder auf vermeintlich „alternativen“ Veranstaltungen ist? So gut wie alle Bands bringen sehr stark zum Ausdruck: „Wir wollen mit unserer Musik Geld verdienen, deshalb versuchen wir die Musik zu machen von der wir glauben das viele Leute sie mögen werden“ Das ist leider total langweilig und man wünscht sich wieder mehr Bands die Musik aus Leidenschaft machen und nicht gleich von Tag 1 davon träumen mit ihrer Scheisse Geld zu verdienen. Verüblen kann man es ihnen aber nicht, es ist halt einfacher Scheiss Musik zu machen, jene die die Leute – aus Gründen die ich wirklich schon lange nicht mehr nachvollziehen kann – gut finden und damit Kohle zu verdienen, als irgendwie anders. Ich sage ja schon seit Jahren das die Leute keinen eigenen Geschmack mehr haben, das ist jetzt auch wissenschaftlich nachgewiesen – danke.

Kommen wir nochmal auf diese Einstellung der meisten Bands zurück, die führt natürlich auch dazu das ich das was sie machen auch als genau das betrachte – Arbeit. Also wenn Bands da oben auf der Bühne hart arbeiten, nur um damit Geld zu verdienen – dann langweilt mich das in der Regel. Ich mein, wem schaut man denn schon gern beim arbeiten zu – gut, wenn ein talentierter Handwerker was wirklich gut macht, kann man da mal zusehen, aber auf Dauer ist das halt langweilig – für mich zumindest. Und wie gesagt, ich sagte talentiert! Gerne würde ich jetzt sagen „Leute, macht was ihr wollt“, ich befürchte aber das die dann sagen würden: „das ist genau das was wir wollen Musik machen um Geld zu verdienen“. Aber ohne mich als Zuhörer!

Schon irre, da existiert dieses Heft seit beinahe 20 Jahren und fast nichts hat sich in der Musikszene geändert – bzw., wenn dann zum schlechteren. Bravo Menschen, grossartige Leistung! Da wundert es dann auch nicht das auch alles andere bald nicht mehr funktionieren wird. Denn eine bestimmte Einstellung herrscht ja in allen Gesellschaftschichten vor. Wie dem auch sein, ich freue mich, wie jedes Jahr, in jedem Fall mal auf den Frühling und die Wärme.

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JAN

Einnmal den blauen Drum-Tabak, die Bildzeitung und die gelben Gizeh-Blättchen, bitte.

Fake Split – Interview mit THE NOTHINGS BETWEEN THE EARS, der Pop -Garagenfuzzband aus Solingen / Köln, und VEGANE EICHE, einer veganen linksradikalen Straight Edge Hardcore Band aus Münster, die auch mal was von Slime covert

Und Straight Edger L. Usche und Sänger von VEGANE EICHE und Rock`n`Roller Mario Nett, gleichzeitig Gitarist bei den Kölnern The NOTHINGS BETWEEN THE EARS, zog ich diesmal vor das Mikrophon. Beide Bands und Menschen gibt es nicht – oder irgendwie schon. Zu Oft.

Ihr Bands: lasst euch mal was neues einfallen. Wir Fanziner: mehr nachhaken. Und vergesst nicht den „Sound Advice“ von der ersten YUPPICDE: „always remember, greed is a noble emotion. Beat down those who get in your way because they will learn a valueable lesson from the experience. And Trust Lies. Yes You YOU STUPID FUCKING MORON.“

So, schön, dass ihr euch Zeit für ein Gespräch mit dem Trust nehmt; was war der beste Witz, den ihr in letzter Zeit gehört habt?

Mario Nett: Oh je, schwierige Einstiegsfrage, wir waren ja letztens auf einer 4 Tages Tour in Spanien und in einem echt total durchgeknallten Garagenbarladen, so ähnlich wie das Wild at heart in Berlin, nur mit noch mehr Elvis Totenköpfen, na ja, und geiles Konzert und Bierschlacht und so, und nen völlig wahnsinniger 45 jähriger The Who Fan hat uns nachher erzählt, wie es da 1985 so war bei dem ersten Konzert von Violent Headache.

L. Usche: Coole Einstiegesfrage, ich war jetzt mehr so auf die Klassiker „Band – Besetzung – Veröffentlichungen“ eingestellt.

Der kommt noch.

L: Der schlechteste Witz, den ich letzter Zeit gehört habe? Jan Röhlk. Definitiv. Oder warte mal; kennst den: kommt Mann zum Arzt. Fragt Arzt: Wie sind sie hier hingekommen? Sagt Mann: Na, auf zwei Beinen.

Habt ihr eigentlich was zu sagen mit euer Musik?

Beide: Wie jetzt? Ne Aussage, und selber Texte machen oder wie?

Ja.

Beide: Nein.

Hmh, warum macht ihr dann Musik?

M: Weil es uns Spass macht, weil man geile Touren machen kann, weil es Spass macht, andere gleichgesinnte zu treffen, weil man so dem Alltagstrott entfliehen kann und weil man durchaus hübsche Girls kennenlernen kann und viel frei saufen kann.

L: Weil wir durch Insted, Youth of Today, No for an Answer inspiriert worden sind, selber Musik zu machen. Weil wir durch RKL zum skaten animiert worden sind. Weil wir durch Shelter Hindus wurden. Weil wir immer den Scheiss gefressen haben, denn andere uns hingestellt haben und wie halt jeder Arsch heute Musik machen kann, machen wir halt auch Musik. Macht Sinn oder?

Nö. Aber machen ja fast alle heute so, was, ach, lassen wir`s. Sprechen wir mal über eure neuesten Outputs: ihr habt eure neue 7″ auf joghurtfarbenem Vinyl mit roten Einsprengseln und zwei exklusiven Covertracks von „The Arsch“ (die keiner kennt ausser die Bandmitglieder selber, stammen aus dem Detroit der End 70iger und machen überraschenderweise Musik wie MC 5 und New York Dolls) und von „The Scheiss der Hund Drauf“ aus Birmingham, der Stadt, aus der auch Black Sabbath und Napalm Death kommen, aber diese hier zelebrierten schon in den 60 igern Power Mod Pop (wobei ich bei dem neuerdings für als positiv bewertetem Wort Mod an Exploited`s „Fuck the Mods“ denken muss)… auf jeden Fall …. kommt die Single auf Screaming Languste raus. Und, wie läufts?

M: Na super. Ist gut weggegangen, natürlich nicht soo gut wie unser Split Toaster mit den skandinavischen Schweinerockern „The Hellam Arsch Und seh in echt so doof aus wie auffem Cover“, aber das ist ja auch logisch, bei dem Charterflug….

Jut, und ihr habt euren ersten Longplayer nach 3000 Splitsingles schon draussen, er ist auf 135 verschiedenen Labels erscheinen und jetzt auch auf Reflections in farbigem Vinyl draussen. Kompliment übrigens für die schicke Coverversion von Youth of Todays „We`re peinlich till the bone“. Wie läuft`s?

L: Na super. Ist gut weggegangen, natürlich nicht soo gut wie unser Split Toast mit den brasilianischen Grundgöttern „The Crust is a must Und seh in echt so doof aus wie in echt“, aber das ist ja auch logisch, bei dem nicht vorhandenen Charterflug….

Tja, was muss man machen als Konzertveranstalter, damit ihr auftretet?

M: Frauen, Drogen und nen Plattenschrank mit Fuzz für nachher zum Auflegen. Und so um die 550 Euro wären schon ok, machen das ja auch schon lange, da muss jetzt auch mal ein wenig rum kommen, so eine Band kostet ja auch ne Menge, und natürlich hätte man sich sein Hobby kostengünstiger machen können, aber wir denken halt oft nicht nach.

L: Veganes essen,…

Spritgeld, frei saufen und Pennplätze, ja ja. Man, habt ihr nicht mal was neues zu erzählen?

Beide: nö.

Na ja. Dann mal danke fürs Zuhören und ich wünsche euch ein schönes Leben. Noch`n Gruss ans Trust Leserpublikum?

M: Danke für das Interview, checkt mal www.www.ww und kauft unseren Scheiss. See Ya! DRUGS ARE FUN!

L: Danke für das nette Interview. Stay true till death do us part, fette probs an Jan für das Interview und respektiert eure Szene. Go VEGAN!

Allerletzte Frage: würdet ihr dem Slogan „IT`S OKAY NOT TO THINK“ zustimmen?

Beide: Oh Mann, hör ma auf mit den soziologischen Fremdwörtern, denken ja, ich bitte dich, das haben dieMenschen mal gemacht, aber heute macht das doch keiner mehr.

Ja wie, aber ist nicht denken das was den Menschen …vom Tier…?

Beide: Quatsch.

Ach so.

Beide: Siehste

Ja.

Beide: Und was?

Nen Riesen Haufen Scheisse.

Beide: Ey, sollen wir dem mal aufs Maul hauen?

Aber eben meintet ihr doch noch von wegen Szene respektieren?

Beide: Du bist nicht mehr Teil der Szene.

Will ich vielleicht auch nicht?

Beide: Ach so.

Gespräch: Jan Röhlk

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DANIEL

Und das Geräusch von durch die Luft fliegenden Bierflaschen, bevor sie an der Resopal-platten-verkleideten Wand aufschlagen, um nach diesem elastischen Stoss unter Verlust ihres Restinhalts auf den roten Sitzbezügen aus Plastikleder auszurollen.

Ich bin weit davon entfernt, aufgrund der politischen Vergangenheit oder Gegenwart ein Urteil über die Befindlichkeit eines Volkes ab initio auszustellen. Allerdings haben die Russen es mir nicht einfach gemacht. Zunächst durfte ich wegen eines Visumsantrages zwei Stunden nach Bonn fahren, um dort nach einigen Irrungen vom zuständigen Beamten mit einer Zahlungsanweisung in der Hand und dem Hinweis, selbige erst am Tage der Abholung der Pässe am Bankschalter des Konsulats zu erfüllen, entlassen zu werden. Kurz fragte ich ihn, ob eine Einzahlung nicht auch noch am heutigen Tage möglich wäre, woraufhin er antwortete: „Dies ist ein demokratisches Land“. Wer wollte ihm widersprechen.

Moskau.

Da hatte ich nun meinen Hut im Flugzeug vergessen und wollte nach Passieren der Zollkontrolle selbigen wiedererlangen. Nachdem die Auskunft mich in den ersten Stock schickte, dort jemand mich dann zur Gepäckaufbewahrung und dann zum Fundbüro schickte, ich mein Anliegen erklärte, damit in Richtung Polizei geschickt wurde, von selbiger ans Fundbüro verwiesen die dortige Verantwortliche laut donnernd erläuterte, dass es meinen Hut dort nicht gäbe und auch spätere Anrufe aus dem Hotel an unterschiedliche Anschlüsse der Aeroflot im Sande verliefen, hatte ich bereits einen vernünftigen Eindruck vom Zustand der öffentlichen Ordnung in Russland erhalten. Dieser sollte sich nicht mehr grundlegend ändern.

Jetzt wirft man gerade dem Amerikaner vor, aufgrund seiner unglaublichen Freundlichkeit im Alltagsleben ein besonders oberflächlicher Mensch zu sein. Stellt sich eigentlich die Frage, warum eine deutsche Motzfresse von grossem Intellekt und tiefster Tiefgründigkeit gekennzeichnet sein sollte. Wie dem auch sei, was in Amerika vom Touristen in die eine Richtung als störend empfunden wird, schafft der ehemalige Gegenspieler in die anderen Richtung genauso spielend. Da sehe ich im Hinterkopfe gerade die Betroffenen des Frankfurter Nordends aufschreien, die um die Historie wissend natürlich viele verschiedene Erklärungsmuster haben, weswegen ich doch nichts anderes zu erwarten hätte, zumal ich ja auch ein reicher Westler bin und die ganze Problematik ja nicht fassen könne. Mir egal, so viele Ellenbogen habe ich physisch noch nie gespürt und irgendwann eben in der U-Bahn nicht besonders belustigt selber mitgemischt.

Der Zug sollte den Moskauer Bahnhof, an dem alle Züge gen Sibirien fahren, gegen 22 Uhr verlassen. Wir waren ein wenig spät dran, weil ein ehemaliger Arbeitskollege, gebürtiger Moskauer, uns noch in seine Wohnung geladen hatte, wo uns seine Frau mit dem Satz „Bier oder Schnaps` begrüsste. Kurzum, wir kamen etwa 15 Minuten nach Einfahrt des Zuges am Bahnsteig an, hatten allerdings noch genügend Zeit, unsere Rucksäcke gen Abteil zu wuchten. Die sogenannte hektische Betriebsamkeit im fahlen Schein einer weit entfernten Laterne war im vollen Gange. Gerne hätte ich mit einem Baltika 3 – der Standardwaffe im russischen Bierwesen – zugeschaut, aber unser Abteil war komplett belegt.

Mit Waren in Kartons, mit Waren in Taschen, mit Waren in den uns allen von Flohmarkthändlern wohlbekannten riesigen Plastikbeuteln in weiss-rot-blau, in die zur Verstärkung weitere Plastikstreifen eingenäht sind und die so zum Zerreissen nicht taugen. Es war mir völlig unklar, wie so viel Ware in so kurzer Zeit so geschickt in einem leeren Abteil gestapelt werden konnte. Inzwischen in grundsätzlichen Verhaltensmustern geschult, fauchte ich die ausräumenden, ehemaligen Einräumer an und warf auch den ein oder anderen Karton in den Gang, was teilnahmslos zur Kenntnis genommen wurde. Innerhalb der kommenden fünf Tage im Zug sollte ein eigener Mikrokosmos entstehen, dessen Beschreibung den Rest dieser Kolumne füllen wird.

Unser Abteil liegt neben dem Restaurantwagen, der von einer resoluten Russin mit eiserner Hand geführt wird. Ihr Hang zum Nippes ist allen Besuchern offenbar, so schmücken jeden Tisch ein paar Plastikblumen in noch viel hässlicheren Vasen und es gibt eigentlich keinen leeren Fleck an der Wand, überall hängen bunte Bildchen und hier auch noch ein Häkeldeckchen. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie mit der Vorbereitung der drei Mahlzeiten für die Gruppenreisenden aus der ersten Klasse.

Diese scheinen alle über einen Reiseleiter zu verfügen, der dann die entsprechenden Menüpläne diskutiert und selbstredend in US$ vorab zahlt, wobei keine abgenutzten Scheine akzeptiert werden. Einer von ihnen trägt den ganzen Tag einen kleinen Aktenkoffer, der vermutlich mit den Pässen und Visas seiner Gruppe gefüllt ist, mit sich herum und ruft so den Spott der herumlungernden Zweiteklassefahrer hervor.

Das Bier kostet 40 Rubel, den zweifachen Kioskpreis, ist dafür aber ziemlich kalt. Leere Flaschen werden seitens der Cheffin an einem Spalt zwischen den Waggons gen Schwellen gestossen. Mir ist unklar, warum sich nach einhundert Jahren Eisenbahn und drei oder vier Zügen pro Richtung und Tag die Scherben zwischen den Gleisen nicht so akkumuliert haben, dass ein Bierflaschen-Räumfahrzeug die Gleise entlang tuckern muss. Vielleicht gibt es das ja auch.

Neben den Zuggästen aus der ersten Klasse, die ausnahmslos Touristen wie wir sind, gibt es in der zweiten Klasse einen erstaunlich hohen Anteil an Mongolen. Zum einen mag dies kaum verwundern, fährt der Zug nach Ulan Bataar, der mongolischen Hauptstadt, zum anderen sind aber gerade diese Mongolen mit den Paketen und Kisten und Taschen und Kartons beschäftigt. Am Morgen nach unserem polternden Einzug klopft es an der Tür. Eine Gruppe Mongolinnen versucht höflich und freundlich, uns in Zeichensprache auf den Verbleib weiterer Waren in unserem Abteil aufmerksam zu machen.

Nach einigem hin und her lasse ich sie herein und sie schlagen sofort die Decken zurück, kraxeln auf die Betten und beginnen mit dem Vierkantschlüssel, mit dem die gesamte Eisenbahn zu demontieren scheint, die Deckenventilation aufzuschrauben. Es entfaltet sich ein grosser Raum, vielleicht einen knappen Meter in der Höhe, der sich oben an unser Abteil anschliesst. Eine der Frauen ist bereits fast vollständig darin verschwunden und gibt an die unten Wartenden Karton nach Karton weiter. Und ist völlig schleierhaft, wie man so viel Gepäck in so kurzer Zeit dort so professionell stapeln kann.

Nachdem auch dieses Fach geräumt, erläutert die Wortführerin uns, dass auch noch über der eigentliche Gepäckablage, die nur vom jeweiligen Abteil aus zugänglich den Gang im Wagen überspannt, noch mehr Waren befindlich wären. Eigentlich sah ich dort nur unsere Rucksäcke, aber nach deren Entnahme zückt sie wieder den Vierkantschlüssel und beginnt unverzüglich mit der Abnahme einiger Blenden, hinter denen sich wieder mit Pappkartons in dichtester Packung gefüllte Hohlräume öffnen. Der Höhlenforscherin wird ein Besenstiel gereicht, da auch sie nicht in die hintersten Ecken vordringen kann, und sie beginnt mit dem Herumstochern.

Und dann dachten wir, alles sei vorbei, alle Vierkantschrauben wieder geschlossen, aber sie kamen nochmals vorbei. Weil ein Paket fehlte. Welches sie auch recht schnell mit dem Besenstiel orten konnten und uns damit endgültig von ihrer hohen Professionalität überzeugen konnten. Es gab eine klare Hierarchie aus einfachen Tragekräften bis hin zur Abteilungs- bzw. Abteilsleiterin und über allem thronte die Zugleiterin, eine an Zigarette im Mundwinkel wie auch Weste im Camouflage-Look kaum zu übersehende Mittvierzigerin, die niemals ein Paket oder dessen Inhalt berührte.

Um den geneigten Leser, der inzwischen gemerkt hat, dass hier wenig Punkrockplatten oder Hardcore-Konzerte beschrieben werden, nicht länger in Unwissenheit zu wiegen. Es handelt sich um eine mongolische Händlerbande, die an den Haltestellen der Eisenbahn in Sibirien chinesische Textilien an die dortige Bevölkerung verkauft.

Das funktioniert in etwa wie folgt. Der Zug wird seitens der Händler vor der Einfahrt nach Moskau „präpariert`, will sagen vollgeladen. Angeblich in Jekatarinburg, aber dass mag ich nicht beurteilen. Daher war es auch kein Wunder, dass unser Abteil so voll war – das wäre in dem kurzen Aufenthalt nicht möglich gewesen. Dann fahren die Händler quer durch Russland und bei jedem Halt fliegt die Tür auf und sofort werden Drahthalter, an denen vier oder fünf Jacken hängen, aussen vor die Zugfenster gehängt, der Laden ist geöffnet.

Das Betreten des Zugs durch Kunden findet nicht statt und wird durch die auf der Lohnliste stehenden Wagen-Betreuerinnen, Provodnizas, überwacht. Auf einigen Bahnsteigen konnte man sich kaum noch bewegen, weil alles über und über mit Menschen und Waren quoll, Papi also die Familie zum grossen Shopping Trip ausführte, während andere menschenleer waren. Dies wurde seitens eines kanadischen Reisejournalisten, mit dem ich unter ein paar Flaschenhälsen hängenblieb, damit erklärt, dass die lokale Polizei den Zutritt zum Bahnsteig verbieten würde, weil sie selber auf der Lohnliste derjenigen stünde, die die Mongolen ihrer Tätigkeit entheben und durch ihr eigenen Warenimperium ersetzen wollten.

Je weiter östlich wir fuhren, desto voller wurden die Bahnsteige. Allerdings war das Warenangebot für den Reisenden, der sich im Irrglauben befindet, dass verhuschte russische Mütterchen ihre karge Rente aufbessernd Pilzpasteten und selbstgebrannten Heidelbeerschnaps verkaufen, immer das gleiche: Hier ein Kiosk da eine Verkäuferin mit einem vollgeladenen Bollerwagen – und alle die gleichen Produkte. So langsam fingen wir an, dass heutige Russland zu verstehen und was passiert, wenn zwar an jeder Ecke mindestens ein Soldat steht, aber dieser nur unzureichend bezahlt wird.

Gerade hier zeigte sich, wie unvorbereitet wir doch in den Zug gestiegen waren, da es in jedem Waggon zwei Klos gab, in denen man mit einigen Verrenkungen und etwas lauwarmem Wasser aus dem Hahn auch eine Körperwäsche vollziehen kann. Das hätte auch gut klappen können, wenn das eine Klo nicht nur für besondere Gäste zugänglich war – geschickt konnte ich mich das ein oder andere Mal zwischen den privilegierten Gästen morgens um sechs Uhr dreissig dort einkehren. Im Anschluss hieran schimpfte die Provodniza mit mir, aber gemäss der allgemeinen Lethargie versuchte ich nur, durch sie hindurchzuschauen und trollte mich. Den Rest des Tages war das Klo abgeschlossen, was zu erheblichen Wartezeiten beim nachmittäglichen Stuhlgang führte. Leider hatte unser Sprachführer keine passende übersetzung für die Frage:

„Werte Frau, wie viele Monatsgehälter muss ich ihnen auf den Tisch blättern, damit wir auch ihr schönstes Zimmer nutzen können?“ Aber leider sind wir es gewohnt, dass an Produkten Preisaufkleber hängen.

Ein Freund, der es zu meinem vorletzten Geburtstag gut mit mir meinte, schenkte mir das Buch „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew, bei dem es simpel gesagt um eine Sauftour in einem russischen Zug geht. Ist wohl auch neu übersetzt worden, wobei dann das hübsche Cover des leider verstorbenen Bernd Pfarr nicht mehr zu sehen ist. Ansonsten zwangsläufig das bestmögliche Buch für diese Reise. „Mir gefällt das. Es gefällt mir, dass das Volk meines Landes so leere und vorstehende Augen hat. Es erfüllt mich mit dem Gefühl legitimen Stolzes.

Man stelle sich vor, wie die Augen dort sind. Wo man alles kaufen und verkaufen kann … tief in ihren Höhlen versteckte, verborgene, habgierige und verängstigte Augen (…) so sehen die Augen aus in der Welt des Mammon… Und im Vergleich mein Volk – was für Augen! Fortwährend nach aussen gedreht, aber ohne jede Anspannung. Ohne jeden Sinn, aber dafür – welche Potenz! (Welche Potenz des Geistes!) Diese Augen verkaufen nicht. Sie verkaufen nichts, und sie kaufen nichts. Was immer mit meinem Land passieren würde. In Tagen des Zweifels, in Tagen erdrückender Unsicherheit, in Zeiten der Prüfung und Heimsuchung – diese Augen zucken nicht mit der Wimper. Sie lassen den lieben Gott walten. Mir gefällt mein Volk.“

Man hätte natürlich auch weniger poetisch beschreiben können, dass die meisten Leute, die ich dort sah und „traf“, wenig Freundliches an sich hatten und im Zweifelsfall viel daran legten, als komplette Arschlöcher durchzugehen.

Abends schlossen wir uns zumindest pro forma von innen in unser Abteil ein, wobei die Verriegelung durch einen Vierkantbolzen geschlossen wurde, wie man ihn auch in der heimatlichen S-Bahn findet. Aus diesem Grund hatte auch jeder Mongole, Chinese, Russe oder Kasache an Bord einen solchen Schlüssel. Zumindest sollte es diejenigen abschrecken, die sich auf dem Heimweg vom Restaurantwagen in der Tür irren sollten. Am dritten oder vierten Morgen im Zug entschlossen wir uns, im Restaurantwagen ein paar Spiegeleier zu uns zu nehmen.

Als wir den Wagen betraten, sass darin ein halbes Dutzend Mongolen, die in der vorherigen Nacht noch nicht zur Ruhe gekommen waren und die dumpf in ihre Bierflaschen starrten, wobei der Füllungsgrad einzelner Anwesender stark variierte. Wir bestellten unser Essen, nachdem wir den eigentlich schönsten Tisch wegen gröberer klebriger Spuren der vergangenen Nacht zugunsten eines näher an den Mongolen gelegenen Tisches ablehnten. Die Bedienung sah entgegen ihren frohen Gemüts sehr angespannt aus und als dann nach Erhalt des Essens sich ein älterer Berg von betrunkenem Mongolen neben Anja auf ihre Bank quetschen wollte, sich quasi auf sie setzte, wobei er sie allerdings überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, bis sie ihn versuchte von der Bank zu schieben, schien alles noch überschaubar.

Bevor er seinem Missmut Ausdruck verleihen konnte, eilte ein jüngerer Mongole herbei, zog ihn von der Bank weg und setzte sich quasi als Bewachung neben uns, wobei er uns nett zulächelte und wir sehr glücklich über seine Anwesenheit waren. Der Volltrunkene gesellte sich wieder zu seinem besten Kumpel und die beiden forderten neues Bier, welches die Bedienung aus Angst vor einer Eskalation auch prompt servierte. Und dann flog die erste Flasche, surrte an unseren Köpfen vorbei, die sie auch nicht treffen sollte, und schlug gegen die Resopalplatte über dem von uns zunächst avisierten Tisch. Was auch die klebrigen Flecken dort erläuterte, da offensichtlich schon die ein oder andere Flasche diesen Weg geflogen war.

Bei der zweiten Flasche zogen wir uns schnellstens in unser Abteil zurück, wobei auch die Bedienung flüchtete und mit den vier mongolischen Polizisten, die aus völlig unerklärlichen Gründen in Uniform ein Abteil bewohnten (wir befanden uns ja weiterhin in Russland), wobei unsere Erklärungsversuche ihrer Anwesenheit von ‚Lehrgang in Moskau‘ bis ‚Payroll der Mafia‘ reichten. Diese betraten dann den inzwischen abgeschlossenen Restaurantwagen und nahmen sich ihrer beiden Landsleute an. Der eine musste die folgenden Stunden zwischen zwei Wagen auf dem Boden hocken und durfte sich dabei nicht bewegen, was er zu meiner überraschung auch tat. Seinem Freund erging es nicht so gut, da dieser in das Abteil der Polizisten geführt wurde. Danach habe ich beide Delinquenten nicht mehr gesehen, wahrscheinlich wurden beide verprügelt und bei der nächst besten Gelegenheit in einem sibirischen Provinzknast abgegeben.

Ein zerfallenes Weltreich wie das Russische verfügt über ein bemerkenswertes Selbstverständnis. Wenn man per Bahn aus dem selbigen in Richtung nächsten Dritteweltland ausreisen will, nehmen sich die lokalen Behörden doch sechs bis sieben Stunden Zeit dafür, wobei es immerhin einen Verkaufsstand am südlichen Ende des Bahnhofsareals gibt. Dort gibt es einen Kühlschrank mit Bier. Papstjever wäre nicht er selber, würde es ihm nicht gelingen, völlig akzentfrei ‚twa pivo chaludni‘ zu ordern (‚zwei Bier kalt‘), wobei die ansässige Matronin mit einem ‚chaludni njet‘ diesen grundsätzlichen Akt der Völkerverständigung im Keim erstickte. Ihre Geschäftstüchtigkeit lenkte sie eher auf das Verkaufen von Wodkaflaschen der zweitbilligsten Kategorie an diverse westliche Reisegruppen, wobei wirklich unklar war, warum diese reichen Menschen solch einen Schund gesoffen haben.

 

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