März 14th, 2007

Kolumnen Dolf, Stone, Tom, Dietmar, (#104, 02-2004)

Posted in kolumne by andreas

DOLF

Neulich auf einer Party, bei ca. 11C Raumtemperatur in schnuckeliger „Alternativ Wohnen vor 15 Jahren“ Atmosphäre, inclusive einem Blechfass im Hof wo die Männer reinurinieren konnten. Ich unterhalt mich also mit Zaphod – einem befreundetem Künslter (und er ist tatsächlich einer, erstens kann er was und zweitens verkauft er auch seine Kunst). Diese Klammerbemerkung musste sein, denn es gibt ja viele Leute die sich Künstler nennen, aber das ist wieder ein anderes Thema. In jedem Fall hatten wir ein total lustiges Partygespräch über das prickelende Thema Altersvorsorge. Ich erspare es mir hier in Details zu gehen.

Naja, auf jeden Fall meinte er dann ob es nicht an der Zeit wäre „solche“ Themen im Trust zu behandeln. Mit „solchen“ meinte er eben Altervorsorge, Krankenkassenwahl, Geldanlagen, Kreditwesen, Immobilienkauf, Ivf, Versicherungsfragen und den ganzen anderen Scheiss mit dem man früher oder später teilweise kofrontiert wird, ob man will oder nicht. Naja, ich sagte ihm auf jeden Fall das ich darauf keinen Bock hätte, weil es die Leute wahrscheinlich nicht interessiert. Hab ja keine Ahnung ob nur über 35 jährige das Heft lesen oder auch viele jüngere.

Und ich zumindest hätte vor 20 Jahren in meinem Lieblingsfanzine auch nicht Dinge lesen wollen mit denen ich meinen Eltern hätte imponieren können. „Alter, du bist ja ganz schön bescheuert das du deine Kohle bei der Sparkasse liegen hast, im Trust stand…“ oder so ähnlich. Sollten wir dazu Bock haben, bringen wir sowas auch – oder wenn wir mehr als 15 Zuschriften bekommen das wir das machen sollen – war ein Witz, wir machen ja nicht das was die Leser wollen, sondern das was wir wollen, deshalb wird das Trust ja gelesen…….

Und sonst: Studentenprotest – für was (siehe dazu den Text in diesem oder nächsten Heft). Repolitisierung des „Punks“ – welcher Punk, welche Politik. Tägliche „Horrormeldungen“ über Kürzungen und andere Einschnitte ins soziale Netz. Während die Politker leben wie die Maden im Speck und die Unternehmer und die Gewerkschafter auch, neben vielen anderen. Verarschen können die andere, uns – oder zumindest mich, nicht. Ich freu mich erstmal auf zwei Bands die ich in nächster Zeit live sehen kann, welche das sind – oder waren, verrate ich vielleicht beim nächsten Mal. Immerhin cool das man sich auch noch auf gute Bands freuen kann, bei der Masse an belangloser Scheisse die einem um die Ohren gehauen wird. Ich fasse mich kurz, ist ja sonst genügend zum Lesen im Heft.

dolf

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DER ZäRTLICHE ZYNIKER

Spiegel Online vom 28.12.2003: Nationalisten in Umfragen vorn: Serben wählen neues Parlament Warum schreiben sie sowas eigentlich nicht, wenn hier mal wieder gewählt wird? Weil keine Serben wählen? Nein, weil es Nationalismus schliesslich nur bei den anderen gibt.

Am Neujahrsnachmittag wehte ein scharfer Wind von Osten. Ich hatte zu wenig angezogen. Aber der Schmerz im Gesicht wäre auch dann nicht anders gewesen, unwesentlich milder vielleicht. Es tat gut, sich diesem Schmerz auszusetzen, der Kopf noch etwas schwer von der Nacht davor.

Silvesterfeier. Diskussionen über die Studenten- und Schüler-Demos. Ein junger Mann beklagte die Umarmung der Bewegung durch die Politik, und dass keine Reibung entstünde. Kein Wunder bei den Zielen dieser Bewegung. Ein anderer junger Mann meinte, er wolle sich nicht mit den „Ideologen“, die eine Weltrevolution machen wollten, ins Boot setzen. Als ob es davon mehr als eine Handvoll gäbe.

Die Studentenbewegung dieser Tage ist einerseits so egal, wie sie andererseits ein ernüchterndes Licht auf diejenigen wirft, denen man aus alter Gewohnheit anlastet, sie seien vielleicht noch eher zu gewinnen für Ziele, die hier zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu Recht verrufen sind, nimmt man als Recht hier an, was es vor allem ist: Ein gewaltsam durchgesetztes Verhältnis des gleichen Rechts für alle, was auf gar keinen Fall zu verwechseln wäre mit einer Forderung, die ich ebenfalls nicht teile: Gleicher Lohn für alle.

Zum einen: „der Lohn“. Der nur dem blüht, der sich für ihn zu verdingen hat – bei Strafe des Elends. Zum anderen: „für alle“ das Gleiche, das mir doch dann nur etwas brächte, wollte ich das Gleiche wie alle, das auch allen nur etwas brächte, wollten sie alle das Gleiche. Und wäre der Lohn dann auch noch gross genug, dass er allen genügte. Lohn, so lässt sich leicht feststellen, ist für den Lohnabhängigen, die Lohnabhängige nie genug. Wofür sonst noch eine Versicherungspflicht, die das Proletariat in Sippenhaftung nimmt für seine Angehörigen?

Ausgenommen von der ist vor allem der, der den Lohn zahlt (wenn auch nicht immer). Der ist von der Versicherungspflicht befreit, die doch eine Errungenschaft darstellen soll. Und seltsamerweise kommt der, der von dieser süssen Pflicht befreit, in den „Genuss“ von Leistungen, die einem Pflichtversicherten verwehrt bleiben. Morgenstund hat Gold im Mund. Morgenstund muss wohl privat versichert sein.

Es gibt ein Sprichwort, das sagt, Ficken und Besoffensein sei des kleinen Mannes Sonnenschein. Die kleine Frau weiss trunken ein Lied davon zu trällern. Kein schönes Lied. Leicht verwaschen vielleicht in der Aussprache. Sacht schlingernd im Takt des rechten Arms, der das Bügeleisen führt, mit dem die Hemden des kleinen Mannes geplättet werden. Nichts gegen Ficken und Besoffensein! Nichts gegen Sonnenschein…

Flashback: Was hatte ich mir eigentlich als junger Arrogant vorgestellt, wo ich in den Mittdreissigern stehen würde? Life’s a bitch and then you die? Wahrscheinlich wusste ich genug, um mir diese Frage nicht zu stellen, und zu wenig, um vernünftige Schlüsse daraus zu ziehen.

Fragt mich neulich eine Praktikantin bei der Zeitung, für die ich ab und an Korrektur lese, was ich sonst so mache (dass von dem Job niemand leben kann, war auch ihr klar). Sie war mir schon aufgefallen: eine grosse Frau mit Schlaghosen, Pilzkopf und Brille. Physisch, wie ich das so gern hab. Wir also ins Raucherzimmer. Natürlich, so dachte ich, würde ich mit dieser Frau ins Bett gehen, wenn es sich ergäbe. Dann: Würde ich eigentlich wollen, dass es nicht nur das wäre, sondern jemand, der nicht nur deshalb dort mit mir wäre. Später erfahre ich, dass ich sie beeindruckt habe mit meinen Jobs, den vielen. Bräuchte ich doch nur weniger davon…

Die Differenz ist klar: Um sowas gut zu finden, muss man grundsätzlich einverstanden sein mit dem gesellschaftlichen Status Quo, der bescheidenen Armut. An dieser Stelle kann ich kurz jemandem einen Wunsch erfüllen. Es könne interessant sein, was sich Mitarbeiter dieser ehrwürdigen Publikation an Platten kaufen von ihrem schmalen Taschengeld. Eine von Bob Dylan zum Beispiel. „Blood On The Tracks“ namentlich. Eine auf der ein Song namens „You’re A Big Girl Now“ ist. Darin heisst es:

Our conversation was short and sweet
It nearly swept me off-a my feet.
And I’m back in the rain, oh, oh,
And you are on dry land.
You made it there somehow
You’re a big girl now.

Bird on the horizon, sittin‘ on a fence,
He’s singin‘ his song for me at his own expense.
And I’m just like that bird, oh, oh,
Singin‘ just for you.
I hope that you can hear,
Hear me singin‘ through these tears.

(…)

Das ist es manchmal, wie Dylan es in einem anderen Song auf dem gleichen Album singt:

She lit a burner on the stove and offered me a pipe
„I thought you’d never say hello,“ she said
„You look like the silent type.“
Then she opened up a book of poems
And handed it to me
Written by an Italian poet
From the thirteenth century.
And every one of them words rang true
And glowed like burnin‘ coal
Pourin‘ off of every page
Like it was written in my soul from me to you,
Tangled up in blue.

Okay, sie gab dir keinen Gedichtband von einem italienischen Dichter des 13. Jahrhunderts. Aber sie war überrascht, dass du sprachst. Und es hatte überwindung gekostet. Und du sagtest, dass es die Schüchternheit sei, und es klang kokett, weil dich dein Handeln Lügen zu strafen schien. Und sie tippte sich leicht an die Stirn, weil sie das nicht genauso sah, aber immerhin (auf) Koketterie erkannte. Und dann noch auf ein paar Bier in die Scandia Bar und irgendwie war es wieder das selbe Ding. Sind wir so verschroben geworden über die Jahre?

Ich verstehe dich, aber was ich verstehe, halte ich für dummes Zeug. Wir denken beide kurz daran, ob es nicht trotzdem geil wäre, ficken zu gehen. Und verwerfen zumindest den Gedanken soweit, dass wir beide keine grösseren Anstrengungen investieren – warten, bis das Gegenüber die Entscheidung übernimmt. Was für eine Scheisse!

Es gibt wichtigere Dinge. Weshalb ich mein Leben aufschreibe, beim Photographen freundliche Photos von mir anfertigen lasse, einst geschriebene Artikel photokopiere und alles zusammen an Firmen schicke, bei denen ich mich so auf Jobs bewerbe. Weshalb ich mich mit Leuten treffe, um zu sehen, ob nicht eine Zusammenarbeit gedeihlich wäre, für den Konzern und für mich. Weshalb ich hoffe, dass ich weiterhin einmal die Woche in die postindustrielle Tristesse von Farge fahre, die auch dadurch kaum weniger trist ist, dass ich diesen entlegenen Stadtteil dann und wann Fargo nenne, bin ich mal zu Spässen aufgelegt.

Weshalb ich mir gerade CDs anhöre, um zu entscheiden, welche ich in den Second-Hand-Laden bringe, um mir Bargeld oder andere CDs geben zu lassen. Um mir die kaminlosen Stunden ohne Badewanne zu versüssen, in denen ich mal Gelegenheit habe, auf meinem Sofa zu liegen.

Die letzten Mitbringsel neben dem erwähnten, übrigens grossartigen Dylan-Album waren die ersten beiden Alben von Townes Van Zandt, „Anutha Zone“ von Dr. John, „White Birch“ von Codeine, „Serpent Similar“ von Gastr del Sol, „On The Beach“ von Neil Yound, „Electric Africa“ von Manu Dibango, „Nighthawks At The Diner“ von Tom Waits und ein Album von Hor, einer Band mit Greg Ginn, die von all dem Kram wohl der einzige Fehlgriff war, sieht man davon ab, dass das Dibango-Album doch stark unter dem Laswell-Sound der mittleren Achtziger leidet.
Soviel dazu.

(stone)

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TOM

17 Uhr und die Sonne steht am Hoechsten in der Wueste von Atacama. Auf den staubigen Strassen ist keine Bewegung zu verzeichnen. „Cristal“ schmeckt halt auch im Schatten eines Innenhofes. Nach nur dreieinhalb Stunden Schlafes haben wir uns heute Morgen um viertel vor vier aus unserem Bett in San Pedro geworfen und im gemieteten Pick-Up hinauf auf 4300m Hoehe gekaempft, die EL TATIO-Geysiere zu sehen, wenn bei Sonnenaufgang der vereiste Boden aufbricht und Dampfschwaden und vereinzelte kleine Wasserfontaenen aus vulkanisch-heissen Tiefen aufsteigen.

Die knapp 100km lange Piste im Konvoi mit diversen Touring-Bussen und anderen Gelaendewagen im Stockdunkeln zu nehmen, immer mit eingeschraenkter Sicht durch den aufgewirbelten Staub der Vorfahrenden auf selbstredend nicht asphaltiertem, kurvenreichen Untergrund, der teilweise von kleinen Fluesschen gekreuzt wurde, die ohne Erkenntnis ihrer Tiefe zu durchfahren waren, grenzte schon an Camel-Trophy-Tours, wurde jedoch durch das Naturspektakel am Zielort vollends entlohnt.

Die Kordillieren sind so mineralsteinhaltig, dass das Licht der Sonne mit jeder Bewegung ihres Aufwaertsganges in einem anderen Farbton reflektiert wird, was teilweise halluzinogene Effekte hervorruft. In der Eile unseres Aufbruchs hatte ich bloss vergessen, mich in der Kleidung den hoehenbedingten Klimaunterschieden anzupassen. In kurzer Hose und Werder-Trikot wurde mir das bei schlagartig zufrierenden Fensterscheiben im Auto kurz nach Aufbruch zwar bewusst, ward jedoch nicht mehr zu aendern, so dass ich spaeter von einem Geysier zu naechsten rannte, um mich kurzfristig an den Wasserdampfsaeulen zu erwaermen.

Auf dem Rueckweg wurde mir vorbei an zwei Lama-Herden bei Tageslich erst klar, welche Strecke wir da eigentlich gemeistert hatten. Die Angst vor Dingen waechst immer parallel zu ihrer Sichtbarkeit. Jede Region Chiles umfasst derart viele Sehenswuerdigkeiten, dass man bei limitierter Aufenthaltszeit beinahe im Laufschritt gezwungen ist, die Orte des Interesses abzuschreiten, was wiederum ueberhaupt nicht oder oftmals nur schwer mit der Langsamkeit des Landes und den ungeheuren, zurueckzulegenden Distanzen in Einklang zu bringen ist.

Mehrfach haben wir im Autobus Strecken wie TEMUCO-LA SERENA, was der Entfernung zwischen Bremen und Palermo entspricht, zurueckgelegt und sind vorzugsweise spaetabends oder nachts gestartet, um nicht immer einen vollen Tag opfern zu muessen. In der Wueste waren die Distanzen wenigstens heute ueberschaubar. Von EL TATIO an den grossen, zumeist ausgetrockneten Salzsee SALAR DE ATACAMA, mit seinen bizarren, wie Korallen geformten Salzgebilden und seiner LAGUNA CHAXA, einem Flamingoreservoir unter Naturschutz stehend, und weiter und wieder hinauf in die Anden nach SOCAIRE, einem 150-Seelen-Nest, 140km entfernt von der Grenze zu Argentinien, einem gottverlassenen ehemaligen Inkaort, in dem die Bewohner heute noch von den alten Terassenfeldern und Bewaesserungskanaelen zehren, sprich, sich bis auf die Praesenz von Gameboys und Handys im Verlauf von 1500 Jahren Zivilisationsgeschichte nicht wirklich fortentwickelt haben, Bier an katholischen Sonntagen nicht ausgeschaenkt werden darf, an Werktagen aber immer billiger als Mineralwasser ist und irgendjemand gleich gegenueber der aus Vulkansteinen erbauten Kirche und ihrem aus Kaktusblaettern gefertigtem Dach, „Airon Maiden“ und „Sepultura“ an eine Hauswand gekrakelt hat.

In TOCONAO’s einzig vorzeigbarer Alberge hingegen ist die Duschwasser-Rationierung so strikt gehalten, dass sich laut Aushang nur zwischen 16-21 Uhr gewaschen werden kann. Um 18.30 Uhr entrinnt dem aufgedrehten Wasserhahn noch immer kein Tropfen. Die Wurst eines anderen Reisenden treibt weiter ziellos in der Schuessel, ohne Aussicht auf wegspuelende Unterstuetzung des oertlichen Wasserwerks. Mir kommt der Gedanke, die ansehnliche Kaktusplantage direkt neben unserem Zimmer mit meinem Saft zu duengen. Dennoch mag ich es, verlorene Orte aufzusuchen. Wo das Telefon 15 Minuten lang klingelt und keiner abnimmt, weil alle in der Siesta abgetaucht sind. Sich Rennen und Hetzen einfach nicht auszahlt. Und wo die Bedienung fuer die Zubereitung eines einfachen Obstsalates mindestens eine halbe Stunde veranschlagt und der Fisch groesser ist, als dein groesster Heisshunger.

Wasser sollte es bis zum Morgengrauen nicht mehr geben. Der ganze Ort war fuer mehr als 12 Stunden trockengelegt. In einer Bar zeichnet mir ein Mann, der vor Jahren sein Einkommen mit Gitarrespielen in den Vergnuegungsstaetten von PUERTO MONTT bestritten hat und heute im einzigen grossen Betrieb des Ortes, einem Steinbruch, arbeitet, eine Wegbeschreibung zu einer nahegelegenen Quelle. Auf meine Frage, warum sich seine Leute dieses Wassers nicht bemaechtigt haben, zuckt er nur mit den Schultern, schiebt seine Coca Cola-Muetze in den Nacken und murmelt etwas vom Mangel an Technik. „Wenn die Gringos nicht immer dreissig Minuten duschen wuerden,“, mischt sich die fettleibige, grauhaarige Senora mit indiohaft geschnittenen Gesichtszuegen hinter der Theke ein, „wuerde fuer uns auch mehr uebrig bleiben.“

Strasse hat in diesem Land eine andere Bedeutung und zieht sich besonders im Norden oftmals als schnurgerade gezogener Strich bis zum Horizont. Die Sonne flimmert auf dem Asphalt und spielt dem Auge Streiche. Aus der Ferne langsam naeherrueckende Steine und Straeucher werden ploetzlich zu Tieren, die man verwundert fixiert, bevor sie sich wieder in das verwandeln, was sie wirklich sind. Nach einigen Stunden Autofahrt kommt immer wieder das Gefuehl auf, sich auf einem unendlichen Laufband zu bewegen, Kilometer fuer Kilometer abzureissen, ohne tatsaechlich ein Ziel zu erreichen. Die Groesse und nackte Praesenz der Natur macht schwindelig und droht einen foermlich aufzusaugen. Ab und an jedoch laesst sich fuer kurze Zeit irgendeine obskure Radiostation empfangen, die die ansonsten praesente Funkstille unterbricht und mich aus meinen Traeumen reisst. „I got a girlfriend, she’s better than I“, singen die TALKING HEADS und ich muss laecheln.

Gestern sind wir stundenlang an Ruinen von einst prosperierenden Salzminen vorbeigefahren, die sich Geisterstaedten gleich am Strassenrand dahinziehen. Von 1866 bis Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, als der profittraechtigere Kupferabbau die Salzgewinnung abloeste, haben in der trockensten Wueste des gesamtamerikanischen Kontinents zehntausende Menschen fuer zumeist USA- oder europaeisch gefuehrte Unternehmen gelebt und gearbeitet. Als sich das Geschaeft dann nicht mehr auszahlte, wurden die Industrieanlagen von Wert demontiert und alle anderen menschlichen Spuren im Sand vergraben. Nur vereinzelte Standorte fanden unter der Aegide Pinochets eine Weiterverwendung als Lager zur Internierung Oppositioneller.

Der NORTE GRANDE hat eine bewegte und auch blutige Geschichte. Die Verlierer waren, wie ueberall sonst auch, die einfachen Menschen. Vom Durchmarsch der spanischen Konquistadoren, die einem kompletten Volk eine neue und fremde Sprache, Kultur und Religion aufzwangen, ueber den fuenf Jahre waehrenden pazifischen Krieg (1879-84), an dessem Ende Chile dieses riesige Terretorium Bolivien und Peru abzwang, bis zur bis heute andauernden Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft in den verschiedenen Mienen. In CHUQUICAMATA bei CALAMA hat das weltgroesste Kupferbergwerk einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Am Werkstor ist eine ueberdimensionale Anzeigetafel aufgestellt, die stets aktualisiert zwei entscheidene Informationen verkuendet: Arbeitstage ohne Unfaelle und Arbeitsstunden ohne produktionsunterbrechende Unfaelle. Immerhin wird allein an diesem Ort 17% des jaehrlichen chilenischen Gesamtexports erwirtschaftet. Dafuer muss halt in Kauf genommen werden, dass das Leitungswasser der angrenzenden Arbeitersiedlung arsenverseucht ist und zur Evakuierung der Werker gerade ein neues Wohnghetto in Calama fertiggestellt wird.

Stunden spaeter machen wir Halt in BAQUEDANO, unweit des „tropic of capricorn“. Eigentlich nur als Urinierpause gedacht, finden wir dort zufaellig das Salzmuseum „Ulmenes“ in einer notduerftig zusammengeflickten Barracke. Hier hat LUIS MIGUEL SAAVEDRA, dessen Familie in drei Generationen in den Salzminen arbeitete, 6400 Alltagsgegenstaende aus den verlassenen Werken und Ansiedlungen zusammengetragen, die bei der Schliessungswelle der 50er und 60er Jahre zurueckgelassen wurden. Mit dem Fahrrad hat er damals alle Standorte abgegrast und alles aufgelesen, was in irgendeiner Weise das Andenken an diese Zeit der Arbeit helfen koennte zu bewahren. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, so surreal wirkt diese versandete Ansammlung von Kontorbuechern und Kuechenutensilien, Arbeitsbekleidung, alten Zeitungen, Postern und Bildern, Einrichtungsgegenstaenden und Lohnstreifen unter dem einfachen Wellblechdach im schummrigen Halbdunkel auf mich.

Fuer Vitrinen und eine amtlich-konservierte Praesentation fehlen dem Mann 50.000 Dollar. Geld, das die chilenische Regierung nicht bereit ist, beizusteuern, so dass Saavedra sich gezwungen sieht, in absehbarer Zeit wohl alles an einen Privatsammler verkaufen zu muessen. Mir standen die Traenen in den Augen bei dem Gedanken, dass fuer jeden wertsteigernden Dreck auf dieser Welt Unsummen verschleudert werden, sich jedoch niemand bereitfindet, ein Projekt zur Bewahrung von gelebter Geschichte zu unterstuetzen. Lediglich und ausgerechnet von der Bundesregierung sind vor einiger Zeit Filmfoerdermittel fuer die Realisierung seiner sehr sehenswerten Dokumentation „El Fantasmo Del Deserto“ zur Verfuegung gestellt worden.

Wer unter Euch zufaellig gerade geerbt haben sollte und einen Teil davon fuer einen guten Zweck abzweigen kann, setze sich mit Luis Miguel Saavedra – Av. Salvador Allende 601-603 – Est. Baquedano – 2 Region-Chile – Tel.: 09-1097949 in Verbindung. Ich zumindest werde, zurueck von dieser Reise, einen Brief an die deutsche Entwicklungshilfeministerin schreiben.

Tom Dreyer

Was mich gerade rockt:

USA IS A MONSTER – zweite LP

WHITEY ON THE MOON U.K. – zweite Single

WILLIAM HOOKER – live in einem New Yorker Kellercafe, 04.12.03

SCOTT MC CLOUD/CALLA/FIREWATEWATER – live im Bowery Ballroom, NYC, 06.12.03

MAGNOLIA COMP./ARAB STRAP – live im Bowery Ballroom, NYC, 07.12.03

ARAB STRAP – Live CD Version von „You shook me all night long“

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DIETMAR

Ich wusste, dass Venedig ein Fehler sein würde. Aber was sollte ich tun? Der Flug war lange gebucht, um ein Sonderangebot auszunutzen; stornieren war daher nicht möglich. Und überhaupt: Wer sagt denn, dass es besser gewesen wäre, stattdessen Zuhause zu bleiben? Ausserdem war ich ja noch nie in Italien, geschweige denn in Venedig. Ich, der Mensch, der schon im Iran, in äthiopien und sonstwo in der Welt herumgereist war, hatte es noch nie geschafft, die paar hundert Kilometer in den Süden zu fahren. Die Einladung von Tom war also perfekt.

Nur eben leider nicht zu dem Zeitpunkt. Immerhin war es ganz gut, dass so ziemlich jeder glaubte, dass ich einfach nur müde war. Stimmte ja auch irgendwo: Ich hatte die Tage vorher kaum geschlafen, in der Nacht vor dem Flug nach Venedig übernachteten zwei Bands bei mir, die vorher im Wild at Heart gespielt hatten, und dann fuhren wir auch noch direkt vom Flughafen in Venedig zu irgendeinem örtchen in der Toskana, wo One Dimensional Man, Chung und Craving das erste von zwei gemeinsamen Konzerten in Italien geben sollten.

Ich hatte also eine gute Begründung, müde zu sein. Nur war die nicht ganz richtig – solche Aktionen haben mir früher nämlich auch nie was ausgemacht. Warum das diesmal anders war, darüber mochte ich am liebsten nicht reden. Das Gewaltprogramm ging jedenfalls so weiter: Anderntags fuhren wir – nach vier Stunden Schlaf – nach Florenz zum Sightseeing im strömenden Regen, dann ging es zurück nach Venedig, wo wir gemeinsam mit dem Rest der Bande ein ähnliches Programm durchzogen. Der Abschluss sollte das abendliche Trust-Festival sein – nur leider zog sich dieser Abschluss bis sieben Uhr morgens hin. Und dann passierte es eben:

Ich Trottel nahm ein paar rutschige Stufen auf einmal, segelte die Treppe hinunter und holte mir ein paar nette Prellungen. Aber eigentlich war ich ganz froh darüber, dass das passierte. Glücklicherweise gab es da nämlich einen Menschen (danke, Sabine!), der sich um mich kümmerte. Und wegen der äusseren Schmerzen konnte ich auch nicht mehr zurückhalten, was mich innerlich beschäftigte und was die anderen als „Müdigkeit“ interpretierten. Es musste raus, es kam raus, und ein paar der Dämonen, die mich verfolgten, waren zumindest nicht mehr ganz so präsent wie zuvor, was Venedig „erträglicher“ machte.

Es ist schon komisch. Da haben angeblich fünf Prozent der Deutschen Depressionen, was in absoluten Zahlen vier Millionen bedeuten würde. Bei einem Fussballer wie Sebastian Deisler wird das sogar öffentlich in aller Breite diskutiert. Aber wenn es einen selber trifft, dann will man das lieber verschweigen. Geht mir ja kaum anders: Als Tom mich samstags früh fragte, was für Tabletten ich da schlucken würde, nuschelte ich ihm ein „Antidepressiva“ hin – so leise, dass er es entweder nicht verstanden hat oder lieber ignorierte, weil ich darüber offensichtlich nicht reden wollte. Stattdessen lenkte ich das Thema auf die Nierensteine, die mich zweimal geplagt haben und die immer wiederkehren können. über diese Krankheit kann ich problemlos und offen reden, über die Depressionen, die mich immer mal wieder befallen, aber nicht.

Dabei ist auch das letztlich eine Krankheit, die sich behandeln und (hoffentlich) heilen lässt. Nicht darüber zu reden, heisst aber auch, sie als persönliche Schwäche anzusehen – als etwas, was dich herabsetzt gegenüber den anderen, die diese Gefühle nicht kennen. Und vielleicht ist es ein Schritt aus diesem Tunnel heraus, wenn ich damit offensiver umgehe. Wobei ich – das habe ich im Laufe der Jahre verstanden – eben immer nur in bestimmten Situationen Depressionen bekomme; in welchen, darüber rede ich auch weiterhin ungerne. Denn die Begründung sehe ich noch immer als persönliche Schwäche (auch wenn ich mir dabei sicherlich gesellschaftliche Massstäbe aufzwängen lasse, die ich eigentlich durchschaue). Der Venedig-Besuch fiel jedenfalls in solch eine Situation, aber das war eben nicht abzusehen, als ich den Flug buchte.

Jetzt, wo ich aus diesem Tunnel wieder heraus bin (was für gewöhnlich eine ziemlich lange Zeit anhält), empfinde ich es als seltsam, was da mit mir geschieht. Man hat morgens keine Lust aufzustehen. Glücklicherweise funktionierte der Arbeitsalltag problemlos – aber abends fehlt jegliches Interesse, irgendetwas zu machen. Die Mails, die bei mir aufliefen und die beantwortet werden wollten, grausten mich, genauso die CDs, die ich unter anderem fürs Trust besprechen musste (ich bin jetzt, Mitte Dezember, immer noch dabei, abzuarbeiten, was ich damals versäumte). Zu den Konzerten, die ich gebucht hatte, musste ich ja gehen, Lust hatte ich daran aber auch nicht: Ich gehöre zwar zu den Menschen, die in solchen Situationen raus müssen, die sich ablenken wollen, aber Gespräche mit wildfremden Musikern, denen man ausser Small Talk nichts zu erzählen hat, gehören nicht zu dieser Art von Ablenkung.

Ansonsten, an den konzertfreien Tagen, bin ich so früh ins Bett gegangen wie nie – wohl wissend, dass ich ein paar Stunden später wieder wach sein würde, mich voller Gedanken im Bett herumwälzen würde, um dann morgens nicht aufstehen zu können. Aber immerhin war so wieder ein Tag „geschafft“ – vorbei wäre allerdings das bessere Wort, geschafft war nämlich nichts.

So führte diese Phase diesmal zu einem Bruch in meiner Biografie, wie vorherige Depressionen sie nicht verursacht hätten. Was allerdings daran liegen dürfte, dass ich vorher eigentlich ansonsten zufrieden war mit meinem Leben, dass ich in der Musik und den Konzerten den Halt fand, den ich zwischendurch verloren hatte. Diesmal aber nicht. 2003 war kein gutes Jahr, für niemanden im Musik-„Geschäft“. Für viele ist es sicher tatsächlich nur ein Geschäft, die haben sich dann entweder was anderes gesucht oder sind immer noch arbeitslos. Für mich war die Musik immer das, was ich als Ausgleich zu meinem Job gemacht habe. Um nicht völlig im Alltag verschluckt zu werden, vielleicht auch, um etwas zu haben, was mich von anderen Menschen in meinem Alter absetzt. Und plötzlich läuft das Ganze nicht mehr. Ich will gar nicht von dem Geld reden, das ich 2003 draufgezahlt habe, sondern viel mehr von den viel zu wenigen Shows, die ich als persönliche Highlights verbuche.

Viele waren das nicht: Paper Chase auf alle Fälle, Isis auch, Daniel Johnston, die Lonely Kings und noch ein paar mehr. Dafür musste ich mich mit Bands wie Standstill oder Piebald herumärgern, die plötzlich gar nicht mehr so nett drauf waren wie früher mal, sondern lieber ihr Geschäft sahen. Von einer anderen, grösseren Band möchte ich da lieber schweigen. Und es gab Booker, die ihre Bands schon in einer Reihe mit den ganz grossen „Acts“ sehen wollten und sich dementsprechend verhielten. Auch gut: Sollen die sich eben künftig mit den entsprechenden kommerziellen Veranstaltern rumschlagen und sich von „unserer“ Infrastruktur fernhalten.

Aber für mich persönlich muss ich nun erst einmal entscheiden, wie es weitergeht. Jetzt, Mitte Dezember, ist die Konzertsaison noch nicht so lange beendet, noch gefällt es mir, die erste Season von „Twin Peaks“ an zwei Abenden zu schauen und „Underworld“ von Don de Lillo mit seinen knapp tausend Seiten in ein paar Tagen durchzulesen. Und wo ich sonst selbst sonntags früh aufstand, mich an den Rechner setzte und arbeite, schlafe ich nun lieber mal bis Mittag – Erholung, die ich mir sonst nie gönnte, aber die ich offensichtlich gebraucht hätte.

Wenn dieses Heft erscheint, mag das alles anders sein, dann gab es auch ein paar Shows, auf die ich mich jetzt schon freue. Ich hoffe also, dass ich jetzt vor allem eins lerne: Häufiger „Nein“ zu sagen, um mich auf ein paar wenige Shows zu konzentrieren; mehr Freiräume zu schaffen, um Dinge zu tun, die ich abseits von Arbeitsalltag und Musik auch noch schaffen möchte. Und mich um meine Gesundheit zu kümmern, damit sich solch ein Herbst nicht noch einmal wiederholt.

dietmar

Hier läuft zurzeit:

Psycho-Path – ‚Désinvoltura‘ CD

A Frames – ‚2‘ CD

Disco Ensemble – ‚Viper Ethics‘ CD

90 Day Men – ‚Panda Park‘ CD

‚Twin Peaks‘ – DVDs

 

 

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