März 12th, 2007

VISION OF DISORDER (#61, 12-1996)

Posted in interview by andreas

Hardcore – New York – Volume XYZ

Und noch eine Band, die es uns aufnötigt, ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen, ihre Musik zu hören, diese zu beschreiben, sie einzuordnen in den nahezu unüberschaubaren Komplex „Hardcore-Musik des 20. Jahrhunderts“, und sie schliesslich zu beurteilen.

Ich will jetzt nicht den grossen Relevanzknüppel rausholen, den manche Leute gern benutzen, um ihrem Geschmacksurteil einen grösseren kulturhistorischen Nachdruck zu verleihen. Ich werde mich hier auf eine knappe Beschreibung der Musik (I.), ein noch knapperes Urteil (II.) und einige durch Zitate belegte Anmerkungen zum Sinn von Interviews mit Bands, die gar keiner kennt und die ausser ihrer Musik gar nichts von anderen Bands unterscheidet (III.) beschränken.

(Bevor wir zum Thema kommen, sei noch der Hinweis gestattet, dass ich die alle zwei drei Sekunden auftauchenden „Fuck“s und „Shit“s „and stuff“ in den verwendeten Zitaten ausgelassen habe. Wer sich davon eine Steigerung der Authentizität verspricht, mag sie sich hinzudenken, wobei ab und zu auch noch „like“ als Interjektion eingefügt werden kann).

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I. Beschreibung der Musik

Schwere, manchmal moshige Riffs langsamer bis mittlerer Tempi wechseln ab mit dem, was in Metallerkreisen gern Industrial-Elemente genannt wird, also in etwa leicht dissonante Akkorde wie Fear Factory sie mal bei Godflesh gehört haben. Die Stücke sind weniger von hardcoreiger Knappheit, als vielmehr zwischen drei und viereinhalb Minuten lang, was es der Band ermöglicht, verhältnismässig viele Parts in den Kompositionen unterzubringen.

Eine Möglichkeit, die die Band durchaus zu nutzen versteht. Hauptmerkmal der Band ist jedoch der Gesang, der zwar das Mittel des Schreiens durchaus kennt und benutzt, aber auch melodisch nölen kann, was der Band die ebenfalls genutzte Möglichkeit gibt, auch subtilere Stimmungen herzustellen. Diese Variabilität des Gesangs wurde bei der Produktion des selbstbetitelten Debüts durchaus angemessen berücksichtigt.

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II. Urteil

Alles andere als sensationell, aber durchaus nicht reizlos, wobei speziell der Gesang die im Genre verbreitete Langeweile abzuwenden weiss. Dürfte besonders für Freunde metallischer Hartkernmusik goutierbar sein. Mein Herz schlägt aber doch für andere Dinge (Näheres hierzu u.a. in den Reviews).

III. Anmerkungen

Was wollen wir von Bands wissen? Ein bisschen Historie macht sich ganz gut, da man auf dem Boden der Tatsachenaufzählung verhältnismässig wenig Unsinn von sich geben kann und ausserdem noch dem verfassungsmässig verankerten Informationsrecht des mündigen Bürgers entsprochen wird.

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Aber wo die Bandgeschichte so anfängt…

Tim (Sänger von V.O.D.): „Wir fingen vor vier Jahren an. Wir sind aus Long Island. Ich singe, Brendan spielt Drums, Mike spielt Gitarre, Matt spielt Gitarre und Jake spielt Bass. Wir spielen seit vier Jahren in Long Island und es ist ziemlich schwer reinzukommen, wir spielten Shows und shit, and like…“.

… da droht das Interesse, nicht auf seine Kosten zu kommen. Beschränken wir uns also darauf zu sagen, dass die Band zahlreiche Auftritte in und um New York spielte und eine 7″ aufnahm (es hat also auch niemand vorher in irgendeiner bekannteren Band gespielt, was ja immerhin einen gewissen Querverweis ergäbe). So also nicht. Interessanter scheint da schon die Tatsache zu sein, dass die Debütplatte von VOD ein Joint Venture von Roadrunner und von Supersoul, dem neuen Label von Ray Cappo ist.

Wie kommt soetwas zustande, wo das Info doch ausdrücklich mitteilt, dass die Band nicht gerade Straight Edge ist?

Tim: „Das erste Mal als wir ihn trafen, öffnete er die Wagentür und eine Rauchwolke quoll heraus und wir dahten, Oh shit!, aber es schien ihn nicht zu stören, was ich ziemlich cool finde“.

Wie kam dieses Zusammentreffen denn zustande?

Tim: „Wir spielten eine Show vor einem Jahr mit Shelter und ich glaube mit Type O Negative, Life Of Agony auf Long Island und nach der Show kam Ray zu uns und sagte, Ihr Typen seid wirklich gut, Wir hatten nicht mal einen Bassisten damals, und er, Ihr müsst mir ein Tape geben, und wir dachten, er möchte nur, dass wir uns gutfühlen und dann spielten wir wieder mit ihnen in Pennsylvania, und er war ernsthaft, stellte sich vor, er war wirklich verdammt nett, und er sagte, gebt mir ein Tape also beluden wir ihn mit Kram, wir gaben ihm alles was wir hatten, Gott weiss was. Und nach ein paar Monaten kriegten wir einen Anruf, und so geschah es im Grunde genommen. Es war verrückt, so, Shelter, Oh mein Gott, in der Highschool habe ich mir Bands wie Sepultura angeschaut, die sind auch auf Roadrunner und ich sagte, Wow, und jetzt ruft der Typ uns an, Mann. Es war verückt. (lacht)“.

Und wie ist es mit Hare Krishna?

Tim: „Ich habe keine Meinung, weisst du, jedem das seine, ehrlich. Die Leute können machen was sie wollen, ich glaube nicht ans Predigen und so. Ich glaube das ist falsch. Denk an die Kreuzzüge vor … ein paar Jahrhunderten. Du kannst deine Ansichten nicht anderen Leuten aufzwingen. Ich glaube dass das falsch ist“.

Auweia. Hier könnte der Interviewer natürlich Kritik üben. „Jedem das seine“ heisst schliesslich, dass das was, einer hat, ihm quasi per natura zusteht (dass er sonst aber auch nichts weiter zu erwarten hat); Die Leute können NICHT machen, was sie wollen, wenn sie nicht das wollen, was sie sowieso sollen; die Kreuzzüge sind ja wirklich nicht gerade veranstaltet worden, um den Heiden die Bibel zu bringen; Und: es ist sehr wohl möglich, Menschen etwas aufzuzwingen, da bedarf es gar keiner Meinung mehr. Leute wollen VOD übrigens (komischerweise) trotzdem erreichen.

Tim: „Wenn du dich selbst limitierst, tust du dir weh, denk an Straight Edge. Du limitierst dich. Je mehr Themen du abdeckst, desto mehr Leute kannst du erreichen“.

…sagt er nämlich. Glaubt er also doch, dass es möglich, eine „message across“ zu bringen (sonst wären ja doch die Themen, die man abdeckt, ziemlich egal)?

Tim: „Ich glaube nicht, dass die Leute uns jetzt zuhören, aber wenn wir eine Menge Lärm machen, dann werden sie sich ein bisschen mehr auf unsere Ansichten konzentrieren. Aber ich bin kein Prediger, jedem das seine, Leute werden sich die Texte anschauen… Ich schreibe über das was ich fühle, und die Kids da draussen in Colorado, Frankreich, Deutschland, wo immer sitzen in ihren Zimmern, fühlen, was ich gefühlt habe. Dann habe ich meinen Job getan…“

In einem anderen Zusammenhang thematisiert Tim das nocheinmal. Hier in der beliebten Kombination mit dem Business, um (völlig unnötigerweise) zu rechtfertigen, warum man versucht, mit seiner Band Erfolg zu haben:

Tim: „Wir als Band wollen Musik spielen. Ich will keinen Scheissjob, „Nine to Five“, auf einen dummen Zug springen und einen Anzug tragen. Wenn mich jemand dafür bezahlt, dass ich meine Musik spiele, und ich sie so spiele wie ich will, werde ich es definitiv tun. Wenn du für das Musikmachen bezahlt werden willst, ich sage nicht, dass wir bezahlt werden, aber wir werden, indem wir diese Platte mit diesem Label rausbringen in der Lage sein, tausende von Kids mit unserer Message erreichen…Wenn du eine Bewegung erzeugen willst, wenn du daran glaubst, wenn du willst, dass Leute verstehen, was du denkst, wie wirst du das machen? Wie wird deine Platte hierher kommen? Wirst du sie selbst verschiffen? Du brauchst Hilfe! Eine Hand wäscht die andere. Ich will Musik spielen. Ich bin 22. Ich muss irgendwo leben, ich will nicht bei meiner Mutter wohnen, verstehst du, ich muss Rechnungen bezahlen…“

Ich verstehe. Habe auch nie jemandem einen Vorwurf gemacht, weil er seine Rechnungen bezahlen musste. Und dass die Leute gefälligst von neun bis fünf Uhr arbeiten sollten, war auch nicht meine Idee. Aber: Muss man denn das Rüberbringen einer Message vorschieben, wenn es doch auch völlig ausreichend wäre, die Musik rüberzubringen? Dieses Thema scheint uns auch nicht recht voranzubringen, wollen wir nicht lange Diskussionen vom Zaun brechen, die mit Klügeren schon schwer genug zu führen sind, und die im Rahmen eines transatlantischen Ferngespräches auch nicht sinnvoller erscheinen wollen. Man könnte natürlich noch über die Musik reden, die Einflüsse…

Tim: „In der Highschool spielten wir Metal, dann wuchsen wir in Hardcore hinein und jetzt stehen wir auf Bands wie Sick Of It All, ja, Sick Of It All, Bands wie Radiohead (der Verfasser weiss nicht genau, ob er das richtig verstanden hat. -d.V.), Madball, sogar Hiphop hat uns irgendwie beeinflusst. Alle Arten von Heavy Music haben uns geholfen, das zu werden, was wir sind, wie eine treibende Kraft, weil es das ist was wir sein wollen, wir wollen Energie sein…“

Seid Ihr jetzt klüger? Man könnte über die Motivation zum Musikmachen reden…

Tim: „… Es kommen Frustrationen heraus, dafür benutze ich Musik. Manche Leute gebrauchen Musik für Happiness. Die Musik, die ich mag, ist dunkel… We like dark shit.“

Happiness, so meinte er noch, sei etwas woran er nicht glaube (da hat er dann aber wenigstens noch in mein Lachen eingestimmt). Aufschlussreich? Als mein Wissensdurst solchermassen gestillt worden war, fiel mir noch die bevorstehende Präsidentschaftswahl in den USA ein.

Tim: „Ich wähle nicht. Ich glaube nicht daran. Du wählst irgendeinen Schwanz in ???. Es macht keinen Unterschied. Der Kongress ist zu stark. Diese Typen können nichts machen ohne den Senat. Ich glaube nicht an die Regierung, ich liebe Amerika, Freiheit und das, aber ich glaube die Regierung ist nichts als ein organisierter Mob. I don`t give shit, ich wähle nicht. Es mag ignorant sein, das zu sagen, aber ich glaube das nicht..“.

(Ja ja, die Politiker, versuchen ihren Dollar zu machen und so weiter.)

Tim: „Würdest Du wählen, wenn Du hier wärst?“

Wohl nicht. Für gewöhnlich gehe ich auch daheim nicht hin.

Tim: „Es gibt eine Menge Scheisse hier, um die man sich kümmern müsste, aber keiner tut es. Und es ist mir egal ob es Clinton ist oder der Dole-Typ. Sie sind konservative Bastarde“.

Zumindest letzterem können wir wohl bedenkenlos zustimmen, deswegen kommen wir nun zum Schluss. Aber ist unser Wissen im Gespräch mit Vision Of Disorder vergrössert/verbessert worden? Haben wir sonstigen Gewinn für den Intellekt zu verzeichnen? Hört Euch die Platte an, das sollte eigentlich genügen.

Entweder sie gefällt Euch, oder sie gefällt Euch nicht (Ich möchte übrigens keinesfalls in Abrede stellen, dass die Musiker der Band Vision Of Disorder zu den nettesten Menschen der Welt gehören, und dass man mit ihnen viel Spass haben kann, was ich schlichtweg nicht beurteilen kann, aber auch das ist nicht unbedingt ein Grund, ein Interview, wie das, was ich geführt habe, unkommentiert abzudrucken).

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Text und Interview: Stone

Links (2015):
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