März 12th, 2007

THE ICARUS LINE (#93, 04-2002)

Posted in interview by andreas

Es ist nun mal so: Wenn eine Band einen gewissen kommerziellen Erfolg verspricht, suchen Plattenfirmen schon ziemlich bald nach potenziellen Nachfolgern, die ähnlich klingen und entsprechend vermarktbar sind. No risk – das ist ja nichts Neues. Also ist es auch nicht verwunderlich, dass Labels seit Monaten verzweifelt nach einem Nachfolger für At The Drive-In suchen.

ATD-I waren vor etwas mehr als einem Jahr zweifellos die Band der Stunde. Selbst der deutsche Rolling Stone – mit Sicherheit nicht die Zeitschrift, die für die Entdeckung neuer Bands bekannt wäre – empfahl damals seinen Lesern nachdrücklich, eines der Konzerte zu besuchen, immerhin seien ATD-I legitime Nachfolger von MC 5.

Da also sogar die Mainstream-Presse so überschwenglich über die Band berichtete, war es auch kein Wunder, dass die wenigen Konzerte im Februar 2001 so dermassen überfüllt waren. Und was machen die fünf aus El Paso, Texas? Sie degradieren sich selbst zu einer Fussnote der Rockgeschichte, wo sie doch das Zeug zu Helden hatten. Die Band löste sich angesichts extrem unterschiedlicher Ansichten über die weitere Zukunft während der Tour auf.                          

At The Drive-In haben ein Vakuum hinterlassen, das seit nun einem Jahr gefüllt werden will. Vielleicht schafft das ja eines der Nachfolge-Projekte? Mars Volta haben immerhin schon eine allerdings nur bedingt überzeugende EP auf GSL veröffentlicht. Aber vermutlich wird niemand dagegen wetten, dass die Band bald einen hoch dotierten Vertrag bei einem Major unterschreiben wird – immerhin sind hier mit Cedric und Omar Gesang und die entscheidende Gitarre des Vorgängers versammelt.

Sparta, das Projekt der verbliebenen Bandmitglieder, hat schon lange eine lukrative Verbindung zu einer grossen Plattenfirma. Die Gruppe vergnügt sich zurzeit mit dem Produzenten von Blink 182 in einem kanadischen Studio, um das erste Album aufzunehmen. Die Rechnungen werden freundlicherweise von Dreamworks, der Firma von David Geffen, Steven Spielberg und anderen, übernommen. Vielleicht aber ist keine der beiden Bands in der Lage, das fortzuführen, was At The Drive-In angefangen haben. Vielleicht interessiert das eigentlich auch niemanden mehr so recht.

Oder es wird eine ganz andere Band, die die Ernte einfährt. Auftritt The Icarus Line. Keine andere Band ist im Laufe der vergangenen Monate so oft genannt worden wie die Kalifornier. Das hat zumindest eine gewisse Berechtigung – es gibt ein paar Parallelen zwischen beiden Gruppen. Das fängt bei Kleinigkeiten an: Der Manager ist derselbe, und sowohl an den Aufnahmen von ‚In/Casino/Out‘ von At The Drive-In als auch an ‚Mono‘ von The Icarus Line war Alex Newport (einst Sänger der völlig unterbewerteten englischen Band Fudge Tunnel) beteiligt. Newport hätte im übrigen auch ‚Relationship Of Command‘ aufnehmen sollen, hätten sich ATD-I nicht einreden lassen, dass Ross Robinson (Korn, Slipknot, Fear Factory) das doch besser machen sollte.

Vor allem aber haben beide Gruppen eine unglaubliche Live-Präsenz. ATD-I haben das bei den Auftritten auf grosser Bühne bewiesen. Und bei The Icarus Line verschwindet Gitarrist Aaron schon mal kopfüber hinter seinem Verstärker – während er Gitarre spielt wohlgemerkt. Ungelogen: Währenddessen unterhielten sich zwei Mädchen in vorderster Reihe im Knaack. Die sind besser als diese Band aus Texas. Wie hiessen die nochmal?, sagte die eine. Ruhm ist eben vergänglich.

Aber an genau dieser Stelle hören die Parallelen auch schon auf. Während sich At The Drive-In aus einem Popkontext heraus in die Sperrigkeiten bewegten (und genau deswegen auch kommerziellen Erfolg haben konnten), stammen die unglaublich jungen Icarus Line eher aus einem Noise-Kontext. Melodien findet man auf ‚Mono‘ vergeblich (nicht dass das hier falsch verstanden wird: Das ist ein Kompliment).

Dass die Band auf der Bühne trotzdem den Eindruck vermittelt, hier geschieht Grosses, spricht nur für sie. Dabei war die Tour durch Deutschland Anfang Februar alles andere als ein Erfolg; Piebald, Cave In oder River City High, die sich alle mehr oder weniger berechtigte kommerzielle Hoffnungen machen, hatten mehr Besucher als The Icarus Line, die allerdings auch ungleich spröder sind. Vergessen wir also an dieser Stelle einfach mal die komplette Einleitung – allerdings nicht, ohne dass Gitarrist Aaron und Sänger Joe zu diesem Thema zu Wort gekommen sind.

***

Ich hoffe, ihr bringt mich nicht gleich um wegen dieser Frage. Ich werde sie trotzdem stellen: Wie ist das, wenn alle Welt nach den Nachfolgern von At The Drive-In sucht und eurer Name so häufig wie sonst keiner genannt wird?

Joe: Diese Frage stellen wir uns auch ständig. Ich weiss nicht, warum die Leute darauf kommen. Vielleicht, weil wir häufiger mit ihnen gespielt haben, den gleichen Manager haben…

… und den gleichen Produzenten …

Joe: …er hat die Platte nur aufgenommen, und das auch nur zur Hälfte.

Aaron: Ich sehe das so: Wir haben in England bereits live gespielt. Die kennen uns also schon – und da kommt der Vergleich nicht mehr. Ich sehe jedenfalls keine grossartigen Verbindungen zwischen den beiden Bands, ausser dass wir jeweils fünf Leute sind, Gitarren benutzen und uns beim Spielen bewegen. Das ist es auch schon. Es wäre doch auch langweilig, wenn es nun die nächsten At The Drive-In geben würde. Die können nicht annähernd so gut sein, das ist dann nur die erste Kopie.

Seht ihr denn nun einen gewissen Druck, eine gewisse Erwartungshaltung?

Aaron: Nein, auf uns lastet kein Druck. Wir sind auf keinem Major-Label, wir haben keinen grossen Bus, keiner hat Hunderttausende Dollar in uns investiert. Es gibt kein teures Video. Wir müssen also kein Geld einspielen, das uns andere vorgestreckt haben. Wir spielen einfach. Unsere beiden neuesten Lieder, die wir live spielen, sind so ziemlich das Längste, Sperrigste, was wir je gemacht haben. So etwas wird niemals im Radio gespielt.

Kein A&R dürfte Interesse daran haben, solch eine Gruppe zu signen. Die Typen kommen zu unseren Shows, weil über uns geredet und geschrieben wurde. Dann fragen sie nach unseren neuen Liedern – 20 Minuten lang, ohne Poprefrain. ‚Oh. Wir melden uns wieder, wenn ihr ein paar Popsongs geschrieben habt‘, kriegen wir dann zu hören.

Mono ist zweifellos noisig. Die Platte klingt absolut nicht so, als könnte man so etwas vermarkten.

Aaron: Genau. Und deswegen lachen wir, wenn jemand uns für die nächsten At The Drive-In hält. Wir machen Noiserock.

Joe: Die nächsten At The Drive-In sind doch eh schon gefunden, das sind die Strokes.

Aaron: Wir wollen auf keinen Fall etwas wiederholen, sondern einfach unser Ding durchziehen. Es gibt mit Sicherheit noch 50 andere Bands, die den Vergleich mit At The Drive-In zu hören bekommen, ohne dass sie so klingen.

Ich sehe euch mehr in einem grösseren Kontext, wo auch Bands wie Juno oder Les Savy Fav dazugehören.

Aaron: Les Savy Fav klingen in meinen Ohren viel mehr nach At The Drive-In, ohne dass ich nun sagen will, dass sie sich so anhören. Aber die Mainstream-Presse könnte das denken. Aber ich nehme mal an, dass wir im Laufe der kommenden sechs bis zwölf Monate genügend Kopien zu hören bekommen. Jedes Major-Label hat in letzter Zeit solch eine Klon-Band unter Vertrag genommen.

Vendetta Red zum Beispiel, die einen Vertrag für drei Millionen Dollar unterschrieben haben (die Band kommt aus Seattle und war bisher auf Loveless Records, der neue Vertrag ist mit Epic; Anm. des Verfassers). Einer von ihnen hat sogar einen Afro. Es gibt unzählige solcher Bands, aber wir haben damit nichts zu tun.

Ich fand sehr lustig, dass die Band, die meiner Meinung nach am nächsten an At The Drive-In heran kam, Q And Not U aus Washington war. Nur dass deren Platte gleichzeitig mit dem letzten Album von At The Drive-In entstand und die Band völlig unterging.

Aaron: Ja, das kann ich nachvollziehen.

Hört ihr denn den Vergleich häufig?

Aaron: Nur in Europa, aber nicht den USA oder in England. In England kommt eher Jesus Lizard, Birthday Party, Joy Division, MC5 – solche Sachen. Ich möchte nicht arrogant wirken: Aber die Songs von At The Drive-In haben eine einfache Popstruktur; unsere nicht.

Ich habe auf der Buddyhead-Webseite, eurem Label, gelesen, dass ihr ein paar interessante Fans habt. Courtney Love zum Beispiel, die angeblich gesagt hat, ‚Mono‘ sei ihre Lieblingsplatte in 2001.

Aaron: Ja, das haben wir gehört. Wir haben sie aber nie getroffen.

Du hast gesagt, dass ihr keinen Major-Vertrag unterschrieben habt. Das hab ich richtig verstanden, oder?

Aaron: Dann würden wir bestimmt nicht in so einem Van durch die Gegend fahren. Stattdessen würden wir jetzt Staind supporten oder so.

Ich habe hier im Knaack mal diese Metalband Amen gesehen, die auch einen Major-Vertrag hat. Die haben vor hundert Leuten gespielt, von denen bestimmt drei Viertel Freikarten hatten.

Aaron: Genau so arbeiten die. Dadurch entsteht ein gefaketer Hype. Das Label gibt Unmengen an Geld für einen riesigen Bus aus. Dann kommen fast nur Leute mit Freikarten, damit es so aussieht, als ob diese Band, die niemanden interessiert, total wichtig wäre. Diese Bands haben keinen blassen Schimmer, wie es ist, mit einem Van zu touren. Die haben nie ihre eigene Tour gebucht oder für fünf Dollar Eintritt gespielt.

Joe: Nicht dass Bands das zwangsläufig tun müssen. Aber es wird durch deren Musikstil offensichtlich.

Andererseits kriege ich ständig zu hören, welch schlechten Erfahrungen Bands auf einem Majorlabel gemacht haben.

Joe: Naja, Marilyn Manson hat bestimmt nur Positives zu berichten. Das hängt halt davon ab, ob eine Band den Durchbruch schafft.

Aaron: Ich finde es fürchterlich, wenn sich eine Band beklagt. Die Bands sollten doch wissen, was ihnen passieren würde – die haben doch den Vertrag unterschrieben. Vermutlich haben sie vor Vertragsunterzeichnung noch davon erzählt, dass nun für sie ein Traum wahr werden würde.

Ihr wollt auf Buddyhead bleiben?

Aaron: Wir sind auf keinem Label. Wir machen unsere Platte, mit wem wir wollen. Auch für ‚Mono‘ gibt es keinen Vertrag. Und wenn uns jemand wirklich drei Millionen Dollar für eine Platte geben will… nur zu. Aber im Moment interessiert uns das nicht, wir touren seit vier Monaten….

Joe: Vier Monate? Du meinst ein Jahr. Wir waren immer nur mal kurz Zuhause.

Habt ihr denn in der Zeit gemerkt, dass das Interesse an eurer Musik wächst?

Aaron: Ja, auf alle Fälle. Wenn man eine gute Liveband ist, kommen die Leute eben wieder. Und wir arbeiten auf der Bühne halt hart. Die Leute merken, dass wir nicht nur posen.

Wie viele Leute zieht ihr denn?

Aaron: Schwer zu sagen. In den grossen Städten läuft es sehr gut. Liegt bestimmt daran, dass da intelligenten Leute leben (lacht).

Und nun fangt ihr in Europa ganz von vorne an.

Joe: Das ist trotzdem cool, hier scheinen die Leute Spass an der Musik zu haben. Sie tanzen sogar, was in den USA nie passiert.

Aaron: Wir haben erwartet, dass wir vor 20 Leuten spielen. Wenn dann 50 kommen, sind wir ganz begeistert. Gestern hatten wir 130 Zuschauer, ohne dass wir eine Vorband hätten oder dass unsere Platte hier erhältlich wäre. Ausser natürlich, dass wir all die Presse bekommen mit den At The Drive-In Vergleichen.

Kommt eure Platte eigentlich irgendwann hier in Europa raus? Sie ist ja nur als ziemlich teurer Import zu erhalten. Ich hab beinahe 15 Euro fürs Vinyl ausgegeben.

Aaron: Die Platte soll auf Sweet Nothing erscheinen. Müsste jetzt eigentlich bald passieren. Eigentlich dachte ich, die Platte wäre schon raus.

https://www.youtube.com/watch?v=9zLmV3pjvfY

…naja, gesehen hab ich sie bisher nicht…

Joe: Die gibt es bestimmt nur in irgendwelchen Punk-Plattenläden.

…nö. Dann hätte ich sie ja gesehen….

Joe: …okay, dann eben in den grossen Läden.

Ihr habt eine John Peel Session gemacht. Wie war das denn?

Joe: Das war ziemlich cool. Wir hatten bei unserer ersten Session Probleme mit der Technik. Spätere Aufnahmen für die BBC waren besser.

Sucht er denn die Band selbst aus?

Joe: Zumindest haben sie uns das so gesagt.

Aaron: Aber wir haben ihn nie getroffen. Uns wurde nur gesagt, dass er ältere Sachen von uns cool fand.

Aber so eine Session muss doch schon klasse sein. Immerhin haben all die Bands, die du vorhin erwähnt hast, auch John Peel Sessions gemacht.

Aaron: Ja, das fand ich auch beeindruckend. Ich meine, der Typ, der uns aufgenommen hat, hat vorher auch die Nirvana-Sachen gemacht. Das ist schon ziemlich cool. Der hat wohl auch Keith Moon und Joy Division aufgenommen.

Bringt ihr die Sachen denn irgendwann raus?

Aaron: Ein paar der Songs sollen auf einer Single sein, die bald erscheint. Mehr steht noch nicht fest.

Und eurer eigenes neues Album? Wann kommt das?

Aaron: Wir spielen live ein paar neue Lieder, die vollkommen anders klingen, Aber auch unsere Lieder von ‚Mono‘ sind mittlerweile ganz anders. Das Album war eher eine Momentaufnahme, die nicht mehr gültig ist.

Joe: Die Lieder mutieren, werden ekliger oder so.

Was mich ja doch noch interessiert: Ich hab gelesen, anfangs hättet ihr wie Nirvana, Mudhoney oder die Smashing Pumpkins geklungen. Stimmt das?

Joe: Klar. Das war meine erste Band, und ich bin halt mit solchen Sachen aufgewachsen. Ich schäme mich dafür nicht. Eigentlich ist es doch cool, mit solchen Bands anzufangen.

***

Text: Dietmar Stork

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