September 3rd, 2013

SWING KIDS (#157, 12-2012)

Posted in interview by jörg

Anfang der 90er Jahre gründeten sich Swing Kids im Süden Kaliforniens nahe der zunehmend militarisierten Grenze zu Mexiko. Benannt haben sie sich nach einer deutschen Bewegung in den 30ern, die durch einen amerikanischen Lebensstil, ihre Ablehnung zum aufkommenden Nationalsozialismus ausdrückte.

Die Swing Kids aus San Diego kombinierten emotionalen Hardcore im Sinne von Antioch Arrow oder Heroin mit dem Jazz John Coltranes und Cecil Taylors. Im Gegensatz zu vielen anderen Bands waren ihre Texte stark politisch geprägt. Obwohl Swing Kids nur kurze Zeit bestanden und lediglich eine Split 10″ und eine Single veröffentlichten, war ihr musikalischer Ansatz prägend. Dieser neue Sound sollte später typisch für grosse Welle von Emo-Bands werden, die Grossteils auf dem Label Ebullition veröffentlichten.

Nach dem schnellen Ende der Swing Kids werden für Sänger Justin Pearson DIY und die Musik endgültig zum Full-time Job in Form seines Labels Three One G Records und zahlreichen Bands, von denen The Locust die wohl aktivste und bekannteste sind. Schlagzeuger Jose Palafox konzentrierte sich in erster Linie auf seine akademische Karriere im Bereich der Soziologie mit den Schwerpunkten Migration und der USA-Mexiko Grenze.

Nach 15 Jahren Pause beschlossen Swing Kids noch einmal unter dem Namen Blue Note auf Europatour zu gehen. Vor dem Auftritt in Hamburg sitzen uns Justin und Jose in einer winzigen Schlafkammer des renovierten Hafenklangs gegenüber. Links sitzt der Akademiker Jose mit klassischer Kurzhaarfrisur, fein gebügeltem Ben Sherman Hemd und Ray-Ban Brille. Rechts daneben sitzt der Rocker Justin mit Lederjacke, T-Shirt und einer modisch-individuellen Frisur mit nach hinten gegeelten Haaren und Pferdeschwanz.

Sie sind nicht nur optisch zwei gänzlich verschiedene Menschen, die wegen ihrer stückweit gemeinsamen Geschichte beste Freunde sind. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte scheinen sie stets die gleiche Meinung zu vertreten, auch wenn sie diese unterschiedlich begründen. Wegen des Lärms aus dem Backstagebereich müssen wir die Tür geschlossen halten und im Zimmer fehlt eine Lampe. Während anfangs noch Licht durch das Fenster eindringt, wird es im Laufe des 50-minütigen Gesprächs immer dunkler, so dass wir am Ende unserer Unterhaltung in fast völliger Dunkelheit sitzen.

***

Avocado Booking haben euch gefragt, ob Swing Kids zu ihrem 15-jährigen Jubiläum in Europa touren. Was hat Euch zur Zusage bewegt?

Justin: Ehrlich gesagt haben wir lange darüber nachgedacht. Allerdings weniger in der Frage, ob wir zusammen auf Tour gehen wollen, viel mehr darüber, wie das ganze promotet wird. Wir haben uns dann entschlossen, einen zweiten Gitarristen an Bord zu holen und den Namen zu ändern – auch aus Respekt für Eric Allen.

Und seid ihr zufrieden damit, wie die Tour bisher läuft?

Justin: Schon, es fällt uns aber auf, dass hier in Europa anders als in Kalifornien die verschiedenen Musikgenres ziemlich wenig miteinander zu tun haben oder zumindest kommt es mir so vor. Ich glaube, dass wir in Blue Note uns alle eher mit dem Punkspirit an sich identifizieren als mit der Subszene, mit der wir hier in Europa assoziiert werden.

Hat euch irgendwer versucht zu überreden, doch lieber unter dem Namen Swing Kids zu spielen?

Justin: Natürlich hatte Avocado einige Bedenken, dass weniger Leute kommen würden, wenn Blue Note anstatt Swing Kids auf den Plakaten steht. Aber mir ist es lieber, unter diesem Namen zu spielen, als uns weiter Swing Kids zu nennen, nur um mehr Geld zu verdienen. Sie sehen das natürlich mehr so aus der geschäftlichen Perspektive. Uns interessiert mehr die Kunst an sich.

Dass Avocado den Deutschlandteil eurer Europatour gebucht hat, ist mittlerweile 15 Jahre her. Seitdem hat sich Avocado ziemlich verändert, was die Geschäftspraxis und Professionalität angeht. Auch Ihr habt euch als Musiker und Menschen weiterentwickelt. Passen Avocado und Blue Note heute noch zusammen, was die Vorstellungen von Musik und Kunst angeht und wie Sachen gemacht werden sollten?

Justin: Es war damals ja alles ein wenig turbulent und wir waren sicher auch etwas naiv, als wir hier rüber gekommen sind. Plötzlich sassen wir ohne Auftrittsmöglichkeiten da und Marco [Avocado Booking] hat uns ein paar Shows an Land gezogen und damit die Tour gerettet. Selbst der Name Avocado kommt ja von dem Namen des Hauses, in dem ich damals in San Diego gelebt habe. Später haben sie dann zum Beispiel auch die zweite Locust-Tour hier gebucht.

Sie haben sich schon ziemlich stark entwickelt, das stimmt. Ich denke, wir in Blue Note haben alle eine etwas andere Vorstellung von der geschäftlichen Seite als Avocado und was einige Sachen angeht, trennt uns sicher einiges, aber wir haben halt auch ein Stück gemeinsame Geschichte. Wegen dieser gemeinsamen Geschichte haben wir beschlossen, diese Tour zu spielen.

Justin, in deiner Autobiographie schreibst du nicht unbedingt positiv über Swing Kids. Was haltet ihr von eurem heutigen Standpunkt von Swing Kids? War es wirklich so eine gute Band oder war sie eher überbewertet?

Justin: Es stimmt, in dem Buch schreibe ich teilweise ziemlich schlecht über die Band, aber damit meine ich eigentlich vor allem mich selbst. Meine Texte damals waren naiv, mein Gesang nicht wirklich gut und ständig neben dem Takt. Das war damals ja auch die erste Band überhaupt, in der ich gesungen habe. Ich bin seitdem durch die Erfahrung, die ich mit meinen anderen Bands gesammelt habe, ein sehr viel besserer Sänger geworden. Was die Band als Ganzes angeht und die Fähigkeiten der anderen Bandmitglieder, denke ich schon, dass sie definitiv gut und relevant waren und auch sicher einige Bands beeinflusst haben.

Ich glaube auch, dass wir unserer Zeit ein wenig voraus waren, was natürlich eine gute Sache ist. Auf jeden Fall ist es besser, als der Zeit hinterher zu hängen. Aber natürlich tut es auch ein wenig weh, sich bewusst zu werden, dass wir uns so viel Mühe gegeben haben, es den meisten Menschen kackegal war und kurz darauf kommen Refused und sahnen dick ab.

Aber dann wiederum ging es Refused ähnlich. Am Ende hatten sie auch das Gefühl, dass sie niemand versteht und ihre letzte Show haben sie in einem kleinen Keller irgendwo in der Pampa gespielt.

Jose: Was Refused angeht, musst du sie schon selber fragen. Dazu kann ich nichts sagen. Aber was Swing Kids angeht, hat jeder Beteiligte eine ganz eigene Meinung dazu. Für mich persönlich geht es dabei nicht einmal nur um die Musik, die wir gespielt haben, sondern auch darum, wie wir Shows gespielt haben, für welche Solizwecke wir aufgetreten sind, worüber unsere Texte waren und so weiter.

In unserer ersten 7“ ist zum Beispiel ein Text, den ich verfasst habe, der sich mit einem Thema befasst, das damals 1994 in Kalifornien hochaktuell war. Damals sollte gerade die „Proposition 187“ verabschiedet werden, die die Rechte illegalisierter Einwanderer massiv beschneiden und ihnen jede Form von Bildung oder Gesundheitsfürsorge vorenthalten sollte [Anm.: Der Gesetzesvorschlag wurde im selben Jahr in einer Volksabstimmung mit 58,93% der abgegebenen Stimmen angenommen].

Mich erinnerte das schon ein wenig an Deutschland in den 30ern, auch wenn das Ergebnis damals natürlich ein anderes war. Aber für People of Color bedeutete das Gesetz, dass sie mit einem immer stärker werdenden, faschistischen Polizeistaat konfrontiert wurden. Genau dagegen richteten sich Swing Kids oder zumindest mein Beitrag dazu. Ich wollte persönlich etwas dagegen unternehmen, aber gleichzeitig über die Musik auch andere für dieses Thema sensibilisieren. Für mich ging es nicht nur um die Form, sondern auch um den Inhalt.

In der damaligen Szene in San Diego war es unter den Bands nicht gerade angesagt, sich explizit zu positionieren, aber dieses Thema hatte für mich eine ungeheure Dringlichkeit. Ich selbst war vielleicht nicht direkt der Abschiebung bedroht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen aus meinem Freundeskreis oder meiner Familie abgeschoben werden könnten, erschien mir doch sehr, sehr hoch.

Justin: Eine der wichtigsten Sachen bei Swing Kids war, dass wir nicht nur Musiker waren, sondern dass einige von uns auch politische Aktivisten waren. Vieles in der Szene damals war doch recht konservativ. Politisch, aber auch was die Musik selbst anging.

Dass San Diego nur wenige Kilometer von der mexikanischen Grenze entfernt liegt, die damals zunehmend militarisiert wurde, hat euch und eure Musik ziemlich stark beeinflusst?

Jose: San Diego verdankt seine Bedeutung dem Kalten Krieg. Es ist eigentlich ein riesiger Navy-Stützpunkt. Das hat einen Einfluss auf das Leben dort. Die Grenze ist natürlich auch wichtig, aber sie ist mehr als nur diese rein physische, rein geographische Grenze. Sie existiert auch in den Köpfen und in den Herzen. Als Person of Color treffe ich auch in San Diego selbst und anderswo ständig auf Grenzen.

Justin: Ironischerweise sieht San Diego mit all den Stränden von aussen betrachtet so wunderschön aus. Es wird auch gerne „America’s finest city“ genannt. Aber das gilt wohl nur für Weisse…

Im Gegensatz zu den meisten Hardcorebands hatten bei Swing Kids alle Mitglieder einen Unterklassen- und/oder Migrationshintergrund. Inwiefern hat das eure Musik und eure politische Haltung beeinflusst?

Justin: Ich weiss gar nicht, ob das wirklich so ist. Wenn ich an Bands wie Minor Threat denke, dann habe ich schon das Gefühl, dass sie die gleiche Sicht auf die Dinge hatten wie wir. Aber von Bands wie Strife oder so trennt uns sicher einiges. Da habe ich schon das Gefühl, dass wir aus ganz unterschiedlichen Ecken kommen. Das heisst aber nicht, dass es nicht auch viele Bands gäbe, die eher aus unserer Welt kommen.

Seht ihr denn manchmal habituelle Unterschiede – im Sinne von Habitus bei Pierre Bourdieu – zwischen euch und anderen Leuten in der Hardcore- oder Punkszene, die einen anderen sozialen Background haben?

Jose: Ich denke, was ein Mensch erlebt hat, ist wichtig, aber es ist nicht alles. Sieh dir mal Condoleezza Rice oder Präsident Obama an. Beide sind People of Color und beide sind Kriegstreiber und Kriegsverbrecher. Wenn es darum geht, wo sie herkommen und wo ich herkomme, dann geht es nicht nur um Biologie, sondern auch um Ideologie.

Die Zapatistas in Mexiko kommen aus zwölf verschiedenen ethnischen Gruppen, aber sie identifizieren sich alle als Zapatistas und versuchen eine Welt zu schaffen, in der viele Welten Platz haben. Es ist diese Einstellung, die bestimmt, wie sie sich untereinander, aber auch in Bezug auf andere und auf die Natur um sie herum verhalten. Als Person of Color kann man auch ein Arschloch wie Rice oder Obama sein. Ich selbst hätte auch so ein Arschloch werden können, aber ich habe mich entschieden keines zu sein, aber das ist harte Arbeit an einem selbst. Essentialismus ist auf jeden Fall fehl am Platz.

Das stimmt, aber dennoch werden in unseren Gesellschaften Menschen nach biologischen Gesichtspunkten bewertet und sortiert und das hat natürlich Auswirkungen…

Jose: Genau, es ist wie Stuart Hall sagt: „Rassismus ist real. Rasse nicht.“

Spiegelt sich der hohe Anteil von People of Color dort eigentlich auch in der Zusammensetzung der südkalifornischen Hardcore- und Punkszene wider?

Jose: In den vergangenen paar Jahren sind etliche Filme herausgekommen, die sich mit dem Thema Anderssein in der Hardcore- und Punkszene beschäftigt haben wie zum Beispiel „Beyond the Screams“ von Martin Sorrondeguy [Sänger von Los Crudos und Limp Wrist]. Diese Filme sprechen an, dass wir vielleicht alle Teil der gleichen Subkultur sind, es aber dennoch eine Subkultur in der Subkultur gibt, ob die Leute das nun wahrhaben wollen oder nicht. Es ist wichtig, dass diese Verschiedenheit nicht nur hingenommen wird, sondern wahrgenommen wird, dass damit unterschiedliche Erlebnishorizonte und eine bestimmte Geschichte einhergehen.

Immerhin war der Südwesten der USA lange Teil von Mexiko, bevor er von den USA erobert worden ist. Andere Beispiele wären „Taqwacore – The Birth of Punk Islam“, ein unglaublich guter Film oder „Afro-Punk“ von James Spooner, der übrigens auch unsere erste 7“ rausgebracht hat oder „We don’t need you“ über die Riot Grrrl-Bewegung. Wenn Menschen sich diese vier Filme ansehen, müssen sie einsehen, dass es diese Unterschiede gibt und dass es Menschen gibt, die sich auch in der Szene mit Rassismus, Sexismus oder Homophobie auseinandersetzen müssen.

Justin: Das ist genau einer der Punkte, in den San Diego anders ist als viele andere Orte. Eine Band wie Los Crudos würde dort mit einer Band wie Bikini Kill spielen und für alle wäre es cool. Ich denke, an vielen anderen Orten ist das anders.

Ihr seid beide seit über zwanzig Jahren im Punk aktiv. Wie hat sich Punk im Allgemeinen, aber vor allem auch in Kalifornien unter dem republikanischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger, verändert? Oder auch wie sich Kalifornien als Ganzes verändert hat?

Jose: Das ist eine grosse Frage. Ich denke, es hat in den USA, aber vor allem auch in Kalifornien, einen ziemlichen Rechtsruck gegeben in den vergangenen Jahren. Gerade dort hat es eine Vielzahl von krassen neuen Gesetzen gegeben, die sich vor allem gegen arme Menschen und People of Color richten.

Es ist aber wichtig, festzuhalten, dass es vor allem die Demokraten waren, die die meisten dieser Gesetze durchgesetzt haben. Es war Bill Clinton, der dafür gesorgt hat, dass es 2000 zusätzliche Grenzbeamte gibt und es war Dianne Feinstein, die sich dafür eingesetzt hat, dass das Militär an der Grenze eingesetzt werden soll. Es nur auf die Republikaner zu schieben, würde es zu einfach machen. Das System als Ganzes ist für’n Arsch.

Das stimmt. In Deutschland waren es ausgerechnet die Sozialdemokraten und die Grünen, die das Land in den ersten Krieg seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführt haben. Das System als ganzes ist für’n Arsch ganz ohne Zweifel. Leider habe ich persönlich wenig Hoffnung, dass sich das allzu bald ändern wird.

Jose: Warum?

Gerade heute habe ich eine Statistik gelesen, dass 20% der Deutschen denken, „Juden“ hätten zu viel Macht auf dieser Welt. 30-40% denken, dass es Muslimen grundsätzlich verboten sein sollte, nach Deutschland einzuwandern. 10% sind überzeugt, dass Weisse Menschen von Natur aus besser wären als andere. Rund ein Drittel der Bevölkerung in diesem Land steht so weit rechts, dass ich wirklich nicht erleben wollen würde, wie sie Teil einer Revolution sind, denn das Ergebnis würde mit Sicherheit schlimmer sein als das, was wir jetzt haben. Aber vielleicht ist das auch nur eine sehr „deutsche“ Sichtweise. Vielleicht fühlt es sich anderswo anders an.

Jose: Ich denke, man müsste darüber reden, was du mit „deutscher Sichtweise“ meinst. Wenn du mit einem türkischen Einwanderer in Kreuzberg redest oder einer Iranerin hier in Hamburg, dann haben sie sicher andere Sichtweisen. Menschen haben sehr unterschiedliche Vorstellungen und Hoffnung in Bezug darauf, was in diesem Land passieren sollte und wie sie ihr Leben leben wollen.

Ich meine, wir sind hier in Hamburg. Das ist genau der Ort, wo die Flugzeugentführer von 9-11 herkamen. Wenn ich mich hier umsehe, dann finde ich an jeder Ecke Hinweise auf Chiapas und den Zapatismus, aber ihr müsst gar nicht von irgendwelchen fernen Ländern träumen und romantisieren, was dort geschieht.

Schaut einfach mal die Strasse runter und beschäftigt euch mit den Muslimen, die hier leben. Die werden von der Linken hier weitgehend ignoriert. Immer wieder in der Geschichte haben Menschen das Thema Hegemonie behandelt. Gramsci in Italien hat gefragt, warum die Menschen sich nicht gegen Mussolini und die faschistische Diktatur erheben. Das Gleiche gilt natürlich auch für Deutschland. Macht gibt es nicht nur in Form des Staates, sondern auch in Form von Ideologie.

Es gibt aber auch Momente, in denen die Macht bröckelt und es ist unsere Aufgabe, diese Momente zu nutzen und einen Wandel herbeizuführen. Ich denke, ich verstehe, was du meinst, aber ich persönlich habe nicht das Privileg, mir keine Hoffnung leisten zu können. Ich muss versuchen, einen Wandel herbeizuführen, damit es mir, meiner Familie und der Community, in der ich lebe, besser geht. Ich habe keine Wahl, ich muss kämpfen.

Ich würde auch nicht sagen, dass mich diese Hoffnungslosigkeit vom Kämpfen abhält, aber ich bin so grundlegend davon überzeugt, dass wenn wir den Kapitalismus nicht überwinden, wir keine Chance haben unsere ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen.

Jose: Aber dazu bedarf es der Arbeit mit den Menschen. Und zwar mit den Menschen, da wo sie stehen und nicht da, wo man sie gerne hätte. Das ist der Unterschied zwischen Aktivisten, die nihilistisch sind und keine Hoffnung haben und Aktivisten, die etwas bewegen wollen und mit den Menschen arbeiten, so wie sie halt sind. Ein kleines Beispiel dazu: In der Bürgerrechtsbewegung in den 60ern wärest du ausgelacht worden, wenn du im Süden der USA mit der klassischen marxistisch-leninistischen Sichtweise aufgetaucht wärest, dass Religion das Opium des Volkes ist.

Denn der Grossteil der Organisierung kam von Geistlichen und von radikalen Kirchen, die die Bibel aus der Sicht der Armen interpretierten. Du musst mit den Menschen da arbeiten, wo sie sind. Andernfalls wäre es nie zu den späteren, eher revolutionären Geschichten wie der Black Panther Party oder Malcolm X gekommen.

Ich verstehe, was du meinst. In Lateinamerika war es ähnlich. Auch dort haben Geistliche, die von der Befreiungstheologie beeinflusst waren, eine wichtige Rolle in den Befreiungskämpfen gespielt. Aus meiner Sicht kommen die theoretischen Debatten, die in den USA geführt werden, hier in Europa immer erst ein paar Jahre später an. Vielleicht liegt es daran, dass die Bücher erst übersetzt werden müssen, aber queer theory und gender studies und all das kam ja auch erst mit einer deutlichen Verzögerung hier an. Ich habe das Gefühl, dass es mit critical whiteness und rethinking white privilege ähnlich ist. Die entsprechenden Debatten werden in den radikalen Communities hier in Europa erst seit höchstens ein oder zwei Jahren geführt. Ich denke, da wird noch einiges passieren.

Jose: Das hat jetzt vielleicht wenig mit uns als Band zu tun, aber als jemand, der den ganzen akademischen Betrieb von innen kennt, sehe ich das anders. Die Universitäten in den USA sind sehr eurozentrisch. Die meisten Menschen dort schauen ständig nach Europa und zitieren Werke europäischer Denker – sei es nun die Frankfurter Schule oder Foucault und Sartre.

Aber sie tun das in einem anderen Kontext. Sie tun das in einer Gesellschaft, die sich ganz offen als Einwanderungsgesellschaft versteht. Deshalb kommen dabei neue und interessante Gedanken heraus. Deutschland etwa hat sich noch in den 90ern geweigert, einzusehen, dass es eine Einwanderungsgesellschaft ist, obwohl schon damals 15% Menschen mit Migrationshintergrund hier lebten.

Jose: Der argentinische Philosoph Enrique Dussel würde jetzt sagen, dass das eine sehr eurozentrische Kritik an dem Eurozentrismus ist, eine Kritik, die europäische Gedanken nutzt, um Eurozentrismus zu kritisieren. Ich finde das sehr langweilig. Es gibt doch so viele andere Denker, auf denen aufgebaut werden kann: Frantz Fanon, Edward Said, Emma Pérez… Es müssen nicht immer Europäer sein.

Wobei Fanon selbst wiederum sehr stark von Französischem Denken geprägt war.

Jose: Das stimmt, aber er hatte eine andere Perspektive, weil er sich aktiv an antikolonialen Befreiungskämpfen beteiligte und tatsächlich tat, was seine theoretischen Gedanken ihm nahelegten. Er war ein Aktivist.

Das sind sehr interessante Gedanken, die gut zu einer anderen Frage von uns passen. Ihr kommt beide aus ähnlichen Kontexten, aber als es mit Swing Kids zu Ende ging, habt ihr sehr unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Jose ging in die Wissenschaft und Justin konzentrierte sich dagegen vollständig auf die Musik. Habt ihr eine Idee, warum der eine den einen Weg gewählt hat und der andere den anderen?

Justin: Wir sind halt doch zwei verschiedene Menschen (lacht). Aber als ich gesehen habe, dass Jose eine akademische Karriere macht, war ich ehrlich gesagt stolz auf ihn. Ich meine, ich kenne den Typen, seit wir kleine scheiss Punkkids waren und plötzlich lehrt er in Stanford und Berkeley.

Das ist schon ziemlich beeindruckend. Ich könnte so etwas ganz sicher nicht. Meine Berufung ist halt eher die Musik und so habe ich halt alles, was ich zu bieten habe, da reingesteckt, Platten gemacht und Touren gespielt. Jose hatte ja mit seinen ganzen universitären Verpflichtungen gar nicht Möglichkeit sechs Monate im Jahr auf Tour zu sein, wie ich es meist bin.

Jose: Vor einiger Zeit waren Justin und ich beide zu einer „Arts and Activism“ Podiumsdiskussion eingeladen, wo uns eine ganz ähnliche Frage gestellt wurde. Ich habe damals gesagt, dass Justin und ich beide noch immer diese Punk-Ethik haben, diese Erkenntnis, dass du niemandem in den Rücken fallen und niemanden verarschen musst, um zu überleben. Danach leben wir, egal ob wir in einem Hörsaal sind oder auf einer Bühne stehen. Das verbindet uns noch immer. Das ist für mich persönlich auch die Essenz dessen, was ich von Punk gelernt habe.

Ich denke, Justin hat das auch. Vielleicht hat er nie „den Durchbruch geschafft“, weil er nach dieser Maxime lebt, aber immerhin ist er sich selbst treu geblieben. Jetzt kommt sein zweites Buch raus und er hat sein Label. Das ist auch ziemlich was. Im Grunde machen wir beide das Gleiche. Wir kämpfen gegen das System, aber halt mit verschiedenen Mitteln.

Justin: Das ist jetzt eine Frage für dich, Jose. Glaubst du, du hast die akademische Karriere gewählt, weil es so eine typisch Weisse Sache ist? Glaubst du, dass gerade das dich angespornt hat, zu sagen „Fuck it, ich mach das trotzdem und ich werde es besser machen!“?

Jose: Schon irgendwie. Meine Eltern sind damals in Mexiko nach der sechsten Klasse von der Schule abgegangen und ich war der Erste in unserer Familie, der die Möglichkeit hatte zu studieren. Ich hatte sicher mehrere Gründe dafür. Einige waren persönlicher Natur, andere waren eher politisch. Karl Marx hat mal gesagt, es ginge nicht nur darum, die Welt zu verstehen, sondern auch darum sie zu ändern. Für mich heisst das, dass ich die Welt erst einmal verstehen muss, damit ich sie verändern kann. Andernfalls wird das nichts, weil wir sonst nur gegen Windmühlen kämpfen. Auch deshalb versuche ich, die Dinge zu verstehen. Ich möchte die Welt verändern.

Ihr habt jetzt schon die Verbindung von Punk und Kunst angeschnitten, ein Thema welches wir auch unbedingt noch ansprechen wollten. Kann Punk ohne Kunst, also wo die Leute einfach nur abrocken wollen, wichtig oder relevant sein?

Jose: Ich denke, da müssten wir erstmal Punk definieren. Punk ist ja nicht zwingend laute oder schnelle Musik…

… wie würdest du denn Punk definieren?

Jose: Für mich ist es eine Art zu denken, eine Art zu leben. Das mag jetzt schmalzig klingen, aber anders kann ich es nicht erklären. Aspekte von Punk lassen sich bei den Zapatisten finden. Die sind sogar sehr Punk. Total Chaos dagegen sind absolut kein Punk.

Swing Kids ging es auch darum klassische Formen des Punks in Frage zu stellen und Kunst zu schaffen. Wäre es auch anders gegangen? Also kann eine Band politisch relevant sein, wenn sie künstlerisch irrelevant ist oder muss die Form genauso radikal sein wie der Inhalt?

Justin: Ich denke, es geht vor allem auch darum, wie du dich auf der Businessseite verhältst. Wenn du eine simple Rock’n’Roll-Band hast und Texte, die nicht besonders aussagekräftig sind, aber immer einen Teil deiner Einnahmen für politische Zwecke wie für den Bau eines Waisenhauses in Mexiko spendest, dann ist das absolut Punk in meinen Augen. Dazu braucht es keinen Iro oder so etwas.

Es spielte damals auch eine Rolle für uns, dass Swing Kids weniger holzhammermässig in ihrer Aussage waren. Es ging uns mehr darum, die Leute zum Nachdenken zu animieren. Das ist das Allerwichtigste für mich. Viele Politpunkbands erzählen den Leuten immer wieder nur genau das, was sie eh schon wissen. Das bringt doch nichts. Es gibt doch schon genug Musik, die Menschen hören können, ohne nachzudenken, wie Linkin Park und solchen Scheiss.

Ihr seid beide in Umgebungen aufgewachsen, in denen es sehr viel Gewalt gab. Wie hat sich eure Sicht auf das Thema Gewalt verändert, sowohl auf persönlicher wie auch auf politischer Ebene?

Justin: Ich weiss nicht recht. Das ist eine ziemlich vage Fragestellung. Ich kann definitiv gewalttätig sein, wenn ich es muss. Das habe ich sicher gelernt. Aber gleichzeitig will ich es nicht und ich denke auch nicht, dass ich eine gewalttätige Person bin. Doch ich bin sicher auch kein Pazifist. Es gibt Situationen, wenn es gegen den Staat oder die Polizei geht, wo Gewalt sicher angebracht ist, das hängt aber sehr stark von der jeweiligen Situation ab. Das lässt sich nicht so generell beantworten.

Jose: Was Menschen erleben, ist sicher wichtig dafür, wie sie die Welt sehen. Andererseits sind die Menschen, die in den Regierungen oder in den Chefsesseln von Internationalem Währungsfond und Weltbank sitzen, wahrscheinlich eher wohlbehütet aufgewachsen und trotzdem sind sie die brutalsten Motherfucker auf dem ganzen Planeten. Sie sind verantwortlich für die strukturelle Gewalt, die täglich 20.000 Kinder an Krankheiten sterben lässt, die eigentlich heilbar wären. Das ist Gewalt! Ich denke, wir sollten überdenken, was wir als Gewalt ansehen und wer entscheiden darf, was Gewalt ist und was nicht.

Wenn ich mir jetzt mein eigenes Aufwachsen an der Grenze ansehe, dann habe ich dort verschiedene Formen von Gewalt erlebt: zum Beispiel physische Gewalt, psychische Gewalt, diskursive Gewalt oder koloniale Gewalt. Das hat sicher meine Analyse und mein Verständnis von Gewalt beeinflusst. Aber ich denke ganz ähnlich wie Justin, dass Gewalt nicht abstrakt behandelt werden sollte, sondern dass wir über spezifische Situationen reden und dann entscheiden sollten. In den allermeisten Fällen jedoch würde ich es mit Malcolm X halten: „By any means necessary!“. Was auch immer wir tun müssen, um den Kolonialismus in den USA zu beenden, ist legitim.

Justin: Viele Menschen würden ja auch unsere Musik oder Punk generell als gewalttätig bezeichnen. Rein akustisch oder musikalisch mag das für das untrainierte Ohr auch so wirken, aber in Wahrheit kommt es von einem sehr friedlichen Ort. Wir mögen vielleicht traurig oder wütend sein, aber das sind wir ja auch aus gutem Grund. Das Gegenteil von Liebe ist ja nicht Hass, sondern Apathie.

Bei der Frage dachte ich ursprünglich an Folgendes: Wenn Nazis demonstrieren, was hier in Deutschland sehr oft passiert, dann demonstrieren zwar auch aufrechte Demokraten dagegen, aber wenn es darum geht, sie auch mit Gewalt zu stoppen, dann sind es oft eher Menschen mit einem Unterschichtsbackground, die sagen: „Scheiss drauf, wenn es nur mit Gewalt geht, dann benutzen wir halt Gewalt!“. Kommt euch das bekannt vor?

Jose: Ich muss da eher an das Buch „Wayward Puritans“ von Kai Erikson denken. Wir als Aktivisten oder als Punks unternehmen oft viel gegen Nazis oder gegen die Rassisten, die an der US-Grenze patrouillieren oder ähnliche Arschlöcher, aber wir denken sehr wenig darüber nach, wie wir selbst dieses System am Laufen halten.

Das ist nämlich auch viel schwieriger. Es ist leichter zu sagen, wogegen man ist, als zu sagen, wofür man ist. Ich persönlich bin für eine Welt, wo es diese Art Menschen nicht gibt, aber ich bin auch für eine Welt, in der es die Art Menschen nicht gibt, die den ganzen Scheiss einfach passieren lassen.

Eine letzte Frage: Ihr spielt heute in Hamburg, der Stadt in der der Film „Swing Kids“ spielt und die tatsächlich die Hochburg dieser Jugendkultur war. Bedeutet euch das irgendwas?

Jose: Das ist mir natürlich bewusst gewesen, weil ich ein grosser Jazz-Fan bin, aber ich denke, wir sollten weniger die Vergangenheit verklären als schauen, was wir im Hier und Jetzt machen können.

Justin: Ehrlich gesagt war der Film auch nicht wirklich gut. Es ging uns mehr um das Konzept Swing Kids. Eigentlich waren das ja Punks oder zumindest ein Vorläufer davon. Mir wäre es viel wichtiger, dass heute Abend Punks auf dem Konzert sind.

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Jan Tölva, Benjamin Schlüter

Links (2015):
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