März 14th, 2007

SOZIALSTAAT (#106, 06-2004)

Posted in artikel by andreas

Zur „Krise des Sozialstaats“ oder: Warum der Sozialstaat nicht verteidigt gehört!

Seit einigen Jahren vollzieht sich vor dem Hintergrund einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, welche für eine wachsende Zahl von Gesellschaftsmitgliedern die Perspektive einer (Wieder)eingliederung in das System der marktwirtschaftlichen Erwerbsarbeit dauerhaft hinfällig werden lässt, der forcierte „Umbau des Sozialstaates“. Dieser Abbau sozialstaatlicher Leistungen ist noch keineswegs an seinem Ende angelangt. Bundeskanzler Schröder, der designierte Parteivorsitzende Müntefering und „Superminister“ Clement sind sich einig: „Wir können uns keinen Reformstopp leisten, und wir werden uns den nicht leisten.“

Die hinlänglich bekannten Massnahmen zur Reform des Sozialstaats dienen nach offizieller Lesart einem Ziel: der Entlastung des Staatshaushaltes. Die negativen Konsequenzen sind ebenso weithin bekannt und werden heutzutage offen von Politikern jeder Couleur ausgesprochen: die Verschlechterung der Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölkerung. Ideologisch flankiert werden die Reformen nach dem Motto, dass die Beschneidung des Lebensstandard ein einziger Beitrag zur „Wohlstandswahrung“ ist: „Wir“ müssen „den Gürtel enger schnallen“, denn machen „wir“ so weiter wie bisher, kommt es möglicherweise zum Zusammenbruch des gesamten sozialen Systems und die Not wäre weitaus grösser:

„Es kann noch so viel gesellschaftlichen Konsens dafür geben, dass der Staat als Helfer in schwierigen Lebenslagen zu dienen hat – wird er wegen der Schuldenlast handlungsunfähig, sind die Folgen für die einzelnen Bürger viel dramatischer als bei Einschnitten ins Sozialsystem.“ Mit der Berufung auf den unabweisbaren „Sachzwang“ der staatlichen Haushaltsnöte wird an die Einsicht der betroffenen Staatsbürger in die Unumgänglichkeit der staatlichen Sparpolitik und die damit auferlegten Beschränkungen appelliert – leider immer wieder mit Erfolg.

Kritiker des politisch initiierten Sozialstaatsabbaus sprechen bei den Reformen von einem „Sozialkahlschlag“. Das könnte man erst mal für einen unschuldigen Einwand halten, würden die Kritiker nicht am ende regelmässig bei folgender Aussage landen: solche Reformen halten sie nicht für gerechtfertigt! Dieser Ausspruch als Ausdruck einer Theorie der „gerechten Umverteilung von Härten“ macht die Protestler in zweierlei Hinsicht zu Brüdern im Geiste mit den Sozialstaatsreformern, die das Sagen bei den „Umstrukturierungen“ haben und die sie trotz aller Einwände auch durchführen:

1. Reformen sind auch nach Ansicht der Kritiker nötig – eben nur nicht solche.

2. Denn ohne Reformen, so befinden auch die Kritiker, geht der Sozialstaat zugrunde: „Mit der drastischen Kürzung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, Dumpingwettbewerb um Arbeitsplätze, der Abwälzung von Krankengeld und Zahnersatz auf die Versicherten und ständige Rentenkürzungen wird der Sozialstaat zur Ruine [!].“ Die Rettung des „alten (guten) Sozialstaats“ halten Kritiker für ein hehres Ziel – und nehmen somit zwei gängige Ideologien, die den Abbau des Sozialstaats begleiten, bitterernst:

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Die Legende vom Sachzwang des Sparens

Dass sich der Staat einem von ihm nicht zu verantwortenden Sachzwang namens „leere Kassen“ schlicht zu beugen hat, wie unisono von den Politikern aller demokratischen Parteien verlautbart wird, ist auch in der öffentlichkeit allgemein akzeptiert. Der Befund des Sparzwanges widerlegt sich jedoch bereits daran, dass jeder aktuelle Sparhaushalt zugleich Neuverschuldungen in zweistelliger Milliardenhöhe auflegt und bestimmte Haushaltspositionen beachtliche Steigerungsraten aufweisen: Geld für Eurofighter, Modernisierung der Bundeswehr für „Militäreinsätze in der ganzen Welt“ (Struck), Verlegung des BKA für mehr und bessere Geheimdiensttätigkeit, „Friedenseinsatz“ in Afghanistan, etc. pp. ist nämlich sehr wohl vorhanden.

Wie kommt es also, dass sich z.B. Kritiker wie auch die von den aktuellen Kürzungen betroffenen Menschen das Gerede der Politiker vom Sparen einleuchten lassen? Durch einen genauso simplen wie verkehrten Vergleich: Die Ideologie des Sparzwangs gründet sich nämlich in dem Vergleich des Staatshaushalts mit einem Privathaushalt – und trifft dabei in keiner Weise zu. Im Gegensatz zu einem Privathaushalt, dem mit einem feststehenden Einkommen auch ein feststehendes Ausgabenvolumen vorgegeben ist – wo sich also die Bedürfnisse einer Person an dessen Einkommen zu relativieren haben – geht es beim Staatshaushalt genau umgekehrt zu.

Die Verwalter des Staatshaushalts legen nach eigenen polit-ökonomischen Interessen Einnahmen und Ausgaben fest. Denn die Politiker sind die Herren ihrer Einnahmen, sie beschliessen nämlich Steuersätze und den Umfang der Staatsverschuldung. Und sie sind zugleich die Herren der Ausgaben. Denn sie legen fest, welche selbst gesetzten Aufgaben in welchem Umfang finanziert werden sollen. Dabei ordnet sich nationale Politik mit ihrem Staatshaushalt einem einzigen Kriterium unter: dem der Schaffung nationalökonomischer Grundlagen für den Erfolg deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt.

Diese Förderung erfolgt dergestalt, dass der Staat rücksichtslos gegenüber den gesellschaftlichen Folgen, insbesondere den Auswirkungen auf den Lebensstandard der abhängig Beschäftigten, der Wirtschaft insbesondere bei der Verbilligung von Lohnkosten unter die Arme greift. Diese ökonomische Kalkulation der Wachstumsförderung via Lohnkostensenkung reflektiert darauf, dass der internationale Vergleich von Lohnkosten ein Weltmarktkonkurrenzmittel erster Güte ist. Deswegen konstatiert der Kanzler: „Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar!“

Wer angesichts der aktuellen Verarmungsmassnahmen für die Bevölkerung durch die Politik jedoch eine Verteidigung der gestern noch gültigen sozialstaatlichen Betreuung fordert, geht einer anderen, weit verbreiteten Ideologie „auf dem Leim“:

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Die Ideologie von der „sozialen Sicherung“

Jahrzehnte lang war es das Gütesiegel der Bundesrepublik Deutschland: „das Soziale“. Darauf können „wir“ doch stolz sein: eine Wirtschaftsweise, die einerseits der Marktwirtschaft verpflichtet ist und dem Konkurrenzinteresse und den Kräften des freien Marktes alle erforderlichen Freiheiten einräumt, die andererseits einen Weg gefunden hat, die dabei entstehenden „sozialen Härten“ so „abzufedern“, dass für jedermann doch eine einigermassen erträgliche Existenz herauskommt. Da würde auch für die gesorgt, die „sozial Schwache“ heissen und die in früheren Zeiten, im „ungezähmten (Manchester)Kapitalismus“, ziemlich unter die Räder kamen.

Dabei sollte man sich freilich nicht fragen, warum die Produktion dieser „sozial Schwachen“ einfach nicht aufhören will, sondern angetan sein von dem Umgang, den sich diese Wirtschaftsweise mit diesem Problem zugelegt sein. Man sollte sich nicht an der offensichtlichen Normalität von Armut und Existenzgefährdung stören, sondern im Gegenteil die Leistungsfähigkeit des „sozialen Systems“ bewundern. Denn das sei im Stande, nicht bloss mit diversen „Einzelfällen“ umzugehen, sondern schaffe es, in breitestem Umfang „soziale Notlagen“ aller Art zu regeln.

Dass dadurch nur die massen- und dauerhafte Not eindrucksvoll belegt ist, soll man allerdings an diesem Wirken des Sozialstaats nicht entdecken. Angesichts dessen, sollte man einmal folgendes bedenken:

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Was der Sozialstaat leistet

a) Wo die dauerhafte Einrichtung einer „sozialen Sicherung“ für notwendig erachtet wird, ist die regelmässige Erzeugung von Notlagen einkalkuliert bzw. man weiss um den notwendigen Schaden eines Grossteils der Bevölkerung. Somit ist ein vernichtendes Urteil über das Lebensmittel des überwiegenden Teils der Bevölkerung gefällt: der Lohn reicht zum Leben nicht, schon gar nicht, wenn man dieser Quelle im Zuge von Rationalisierungsmassnahmen gänzlich „beraubt“ worden ist.

b) Wo sich der Staat um die Betreuung der chronischen Not einkommensabhängiger Menschen kümmert, steht eines fest: die Beseitigung der Ursachen, die das ganze soziale System überflüssig machen würde, kommt nicht in Frage! Für die kapitalistische Reichtumsproduktion wird die regelmässige Schädigung der lohnabhängig Beschäftigten in Kauf genommen und zugleich sollen die Folgen und Auswirkungen marktwirtschaftlicher Benutzung von Arbeitern so „abgemildert“ werden, dass es dem Kapital an arbeitsfähigen Menschenmaterial nicht mangelt – die Ruinierung der Leute in der sozialen Marktwirtschaft ist somit als Dauerzustand anerkannt!

c) Die staatliche Betreuung der regelmässig auftretenden Notsituationen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, etc. wird von den Geschädigten selbst finanziert – per Zwangsabgabe vom Lohn. Ausgerechnet der Lohn, der zur Bewältigung für die periodischen „Wechselfälle des Lebens“ nicht reicht, soll – quasi als Gesamtlohn – die Not aller Lohnabhängigen bewältigen können. Ob das geht ist nicht die Frage, denn dass das geht, darum kümmert sich die Sachwalter des Sozialstaats aktuell sehr eindrucksvoll nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht! So wird die gesamte lohnabhängige Mannschaft für die regelmässige Schädigung durch das Kapital in Haftung genommen – und wird als Solidarprinzip und Generationenvertrag beklatscht.

d) Damit niemand auf die Idee kommt, sich in der „sozialen Hängematte“ auszuruhen, sind die „Hilfen“ so organisiert, dass sie die Geschädigten dazu nötigen, sich schnellstens wieder um eine Anstellung zu kümmern, die sie gerade in die Not befördert hat. Immer wieder verschärfte „Zumutsbarklauseln“ und Kürzungen der Leistungen veranschaulichen die Absicht der „sozialen Hilfen“: die Lohnarbeiter haben dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen – zu welchen Bedingungen, das bestimmen andere.

e) Somit wird deutlich, dass es sich beim Sozialstaat und seinen „Hilfeleistungen“ nicht um eine Einrichtung handelt, die einem ein sorgenfreies Leben bescheren soll: falls es mal keine Arbeit anliegt, bleibt man eben zu Hause und geniesst die freie Zeit nach den eigenen Vorstellungen und wünschen. Das scheitert einerseits am eigenen Geldbeutel und andererseits am Druck, den der Staat auf das Heer der Erwerbslosen mit der Einrichtung seines sozialstaatlichen Erpressungswesens ausübt: die zunehmende Verschlechterung der finanziellen Lage nötigt die „Leistungsempfänger“ immer schlechtere Bedingung bei der nächsten Anstellung in Kauf zu nehmen:

„Das neue Arbeitslosengeld II wird ab dem 1. Januar 2005 eingeführt. Beziehern von Arbeitslosengeld II ist grundsätzlich jede legale Arbeit zumutbar. Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt, dem wird die Leistung für einen festgelegten Zeitraum gesperrt. Bei Sperrzeiten von mehr als 21 Wochen erlischt der Leistungsanspruch ganz.“ So wird das Heer der Arbeitslosen nicht nur gezwungen jede nächstbeste Arbeit anzunehmen, sondern erfüllen als „Reservearmee“ noch einen weiteren Dienst für die generell „lohnzahlungsunfreudigen“ Unternehmen: Als Unbeschäftigte drücken sie permanent auf den Lohn der Beschäftigten.

f) Die Folgen von jahrzehntelangem Wirtschaftswachstum sind bekannt: offiziell ca. 5 Millionen „Arbeitssuchende“. Steigt die Zahl der Hilfebedürftigen, so wächst einerseits der Finanzbedarf der sozialen Sicherungssysteme für alle Arten von Hilfeleistungen und gleichzeitig fliesst aus dem selben Grund – Anstieg der Arbeitslosenzahlen – weniger Geld in die Sozialkassen. Wo der Bedarf von Sozialleistungen die abhängige Variable des von den Unternehmen gezahlten Gesamtlohns ist, verwundern die Konsequenzen, die Politiker daraus ableiten nicht: Mehr abkassieren und/oder Leistungen streichen!

g) Das Resultat liegt auf der Hand: die Betreuung der Hilfebedürftigen fällt immer elender aus. Und weil das so ist, geht es heutzutage darum, das Wörtchen „sozial“ neu zu definieren: Sozial heisst nicht mehr, mit den regelmässigen Notlagen, die diese Gesellschaft für einen bereit hält, irgendwie zurechtzukommen, sondern „Sozial ist, was Arbeit schafft“! Also Leistungen streichen, Löhne runter – das ist auch schon das ganze Geheimnis des „modernen Sozialstaats“ wie Schröder und Co. Ihn propagieren.

Man darf dem Bundeskanzler also glauben, wenn er versichert: „Diesen Sozialstaat, für den wir so viele Jahre und Jahrzehnte miteinander gekämpft und den wir schliesslich geschaffen haben – diesen Sozialstaat lassen wir uns von niemanden kaputt machen, liebe Freundinnen und Freunde.“ Denn: „Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoss zu geben, sondern ausschliesslich darum, die Substanz des Sozialstaats zu erhalten [!].“ Und das ist keine Lüge, denn diese Substanz erfüllt wie oben gezeigt ihren ganz speziellen Zweck. Kritiker von Armut und Not ist also dringend davon abzuraten, den Sozialstaat zu verteidigen!

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Text: Michèl

 

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