März 11th, 2007

RETISONIC (#95, 08-2002)

Posted in interview by jörg

Die Nachrichten kamen stückchenweise: Erst hiess es voriges Jahr im Sommer, dass Bluetip sich zwar noch nicht aufgelöst hätten, aber nicht mehr live spielen würden. Aber wer nennt schon ein Album ‚Post Mortem Anthem‘, wenn es doch noch weitergehen soll?

Und so stand irgendwann eindeutig fest, dass es die Band um Sänger und Gitarrist Jason Farrell nicht mehr gibt. Es kam, was zu erwarten war: Im Nachhinein bedauerten so viele, dass es die Band nicht mehr gab – die übliche Reaktion, wenn sich eine Band auflöst. Nur dass Bluetip tatsächlich zu Lebzeiten nie den Respekt bekommen haben, den sie verdienten. Immerhin dürften deren Platten zu den besten gehören, die Dischord seit der Nummer 100 veröffentlicht hat.

Dass wir von Jason Farrell nichts mehr hören würden, war unwahrscheinlich. Dafür ist der Mann viel zu arbeitssüchtig. Und so hat es auch nur ein gutes Jahr bis zu einem ersten Lebenszeichen von Retisonic, seiner neuen Band, gedauert.

Zurzeit gibt es nur eine Radio EP mit drei Liedern, von denen ‚I Dont Drink (With Co-Workers)‘ auch auf der Webseite www.retisonic.com zu hören ist. Eine erste echte EP erscheint dann im Herbst, passend zur Tour. Und die, sagt Jason, ist noch um einiges besser als diese erste Veröffentlichung, die trotzdem da anknüpft, wo Bluetip aufgehört haben. Die hohe Qualität inklusive.

***

Wir müssen natürlich erstmal damit anfangen, warum sich Bluetip aufgelöst haben.

Jason: Es gab uns ja recht lange. Bluetip haben sich 1995 gegründet, und wir haben seitdem eine Menge gemacht. Wir waren ziemlich häufig in Europa unterwegs, haben es nach Japan geschafft und vier Platten auf Dischord veröffentlicht. Aber es hat sich in dieser Zeit nicht viel verändert: Ich habe die allermeisten Sachen geschrieben, aber wir haben uns immer gestritten über die Songs. Am Ende war jeder frustriert – das hat die Lieder verletzt.

Sie wurden einfach nicht zu dem, was sie hätten sein sollen. Jeder wollte eine Meinung haben, jeder wollte in eine andere Richtung gehen. Wir hatten dadurch eine Menge Probleme untereinander. Dazu kam, dass wir ständig neue Schlagzeuger suchen mussten. Anfangs war das noch in Ordnung; wir haben halt immer wieder neue Leute gesucht. Aber der letzte Schlagzeuger, Dave Bryson, war sehr wichtig für die Band, mit ihm haben wir zwei Platten gemacht. Als er aufhörte, wussten wir, dass es nun schwierig werden würde. Der Frust war dann zu gross.

Erst hiess es ja, dass ihr nur aufhören würdet, live zu spielen, aber weiterhin Songs machen würdet. Aber ein Album ‚Post Mortem Anthem‘ zu nennen, ist dann doch recht eindeutig.

Jason: Der Titel war mein Weg, um mich zu verabschieden. Für mich war die Sache erledigt. Ich mochte ‚Post Mortem Anthem‘ sehr, das ist eine unserer besten Platten. Ich hab mich hingesetzt und all die unfertigen Lieder beendet. Damals bestand Bluetip nur noch aus dem Bassisten Jake und mir.

Mir wurde klar, dass wir wohl nie wieder spielen würden. Und diese Erkenntnis hat sich dann auch in dem Artwork und dem Albumtitel widergespiegelt. Der Bruch war noch nicht offiziell, es wurde erst offiziell, als ich mich mit dem Artwork beschäftigte.

Hattest du dich für die Platte hingesetzt und eure Archive durchsucht?

Jason: So ungefähr. Bei all diesen Lieder konnten wir uns nicht einig werden, wir haben uns sehr über sie gestritten. Sie zeigen, dass wir uns nicht einig werden konnten.

Das Komische daran ist, dass die Lieder teilweise besser sind als einige der Songs, die wir für die Alben davor aufgenommen haben und bei denen wir uns einigen konnten. Das lag wohl daran, dass sie Kompromisse waren. Ich wollte weitergehen, also hab ich mich hingesetzt und die alten Lieder fertig gestellt. Ich fühle mich gut, weil ich weiss, dass ich Recht hatte damit, dass sie gut sind.

Du hast vorhin gesagt, dass eure Lieder verletzt worden seien wegen all der Streitigkeiten – ich finde nicht, dass das auffällt. Aber die Frage ist, wie sie ohne Kompromisse geklungen hätten.

Jason: Meist war es so, dass ich mit einer fertigen Idee ankam, an der wir arbeiteten. Dann haben wir die Lieder zusammen fertig gestellt, was meistens positiv war. Das galt zum Beispiel für das zweite Album. Bei der dritten Platte haben wir uns lange über die Lieder gestritten, aber am Ende haben wir doch die ursprüngliche Idee genommen. Ich hätte sie schlagen können…

Aber ich habe vor allem mit Dave und Jake sehr gerne gearbeitet. Sie sind grossartige Musiker, und meistens machte es Spass. Das Problem mit grossartigen Musikern ist aber oft, dass sie ihre Qualitäten zeigen und komplexe Lieder spielen wollen. Was nicht unbedingt gut ist – und ich glaube, Bluetip waren zu oft zu kompliziert, statt ein einfaches Lied so zu belassen, wie es ist: einfach eben.

Nach eurer Auflösung haben mir viele Leute erzählt, wie gut sie euch fanden und dass es doch schlimm ist, dass ihr euch aufgelöst habt.

Jason: Ich glaube, dass Leute begeistert sind, wenn sie eine neue Band entdecken oder wenn sie sich auflöst. Das Dazwischen zählt nicht. Wir haben tonnenweise Mails von Leuten bekommen, die es schade fanden, dass es uns nicht mehr gibt. Aber wo waren die einen Monat vorher?

Als ich damals bei Swizz spielte, war das genauso – wir kamen von einer Tour wieder, die extrem schlecht lief, lösten uns auf und plötzlich wollten die Leute wissen, was wir machen.

Kommen wir zur Gegenwart: Ist Retisonic nun ein Duo oder ein Trio? Und wie sind die Rollen verteilt?

Jason: Die Lieder, die auf unserer ersten EP zu hören sind, habe ich geschrieben und zusammen mit dem Drummer Joe Gorelick aufgenommen. Aber live wollen wir natürlich als komplette Band auftreten – wir müssen also zumindestens einen Bassisten dazu nehmen. Ich denke, dass Retisonic ein Trio werden soll.

Wir wollen keine zweite Gitarre haben; der Bass und die Gitarre sollen in unserer Musik kooperieren und nicht zwei Gitarren, wo noch ein Bass nachträglich hinzukommt. Es wäre ideal, wenn wir einen festen Bassisten hätten. Aber wir wollten einfach nicht warten, bis wir den finden. Ich habe so viele Lieder geschrieben, dass ich sie unbedingt aufnehmen wollte.

Das heisst, du weisst noch nicht, mit welchem Bassisten ihr auf Tour kommt.

Jason: Doch, das steht fest. Wir sind aber noch nicht hundertprozentig sicher, ob das die endgültige Lösung ist. Ich hoffe es.

Habt ihr dann überhaupt schon live gespielt?

Jason: Nein, bis jetzt nicht. Das werden wir wohl im August machen, bevor wir nach Europa kommen.

Ist Retisonic nun egozentrisch? So nach dem Motto, dass das ja deine Lieder sind, die du nicht zur Diskussion stellen willst?

Jason: Anfangs war es schon so, dass ich keine Streitigkeiten mit anderen Bandmitgliedern wollte. Aber ich glaube, dass das auf lange Sicht nicht in einer Band funktioniert.

Das geht nur für einige Songs. Ich bevorzuge dann noch die Zusammenarbeit mit anderen – wenn jemand eine Idee eines anderen nimmt und sie verbessert. So läuft das auch mit dem Schlagzeuger. Und ich hoffe, dass das auch mit dem Bassisten so wird.

Anhand der Lieder, die ich kenne, würde ich sagen, dass Retisonic noch ein bisschen mehr Rock ist als Bluetip. Die Musik ist aber nicht ganz so hart. Stimmt das so?

Jason: Das ist teilweise richtig. Auf der neuen EP haben wir in sechs Liedern sehr verschiedene Härtegrade erreicht. Die Platte reflektiert sehr stark, was für Musik wir hören – und das sind nicht nur aggressive Sachen. Aber was wir erreichen mussten, war, daraus eine komplette EP zu machen und nicht nur sechs verschiedene Songs.

Da ihr ja jetzt eine Band aus New York City seid, könnt ihr eure Platten auch nicht mehr auf Dischord herausbringen. Stattdessen seid ihr nun auf Leisure Class, einem völlig neuen Label.

Jason: Genau. Aber das ist ja erst einmal nur eine EP. Ich liebe Dischord und bin stolz, dort Platten zu veröffentlichen. Aber sie sind sehr strikt, was ihre Promo-Politik angeht. Bestimmte Dinge wollen sie einfach nicht machen, weshalb sie ja auch den Respekt bekommen, den sie verdienen. Aber für mich haben sich bestimmte Dinge geändert: Ich glaube, man muss einfach mehr tun.

Und deswegen ist es auch okay für mich, nicht mehr auf Dischord zu sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass sich einfach mehr Leute um unsere Sachen kümmern sollten, nicht nur die Bandmitglieder. Wenn man sich gleichzeitig um die Musik, das Drucken von T-Shirts, das Buchen von Touren und die notwendigen Flugtickets kümmern muss, ist das zu viel. Darunter leidet alles. Es ist nicht schlimm, wenn dir jemand hilft.

Leisure Class machen das alles?

Jason: Die Platte kommt ja bei mehreren Labels heraus, in Europa wird es Modern City Records sein, und bei deren Inhaber Remi weiss ich, dass er alles so macht, wie ich es möchte, ohne dass ich das kontrollieren müsste. Leisure Class sind auch Freunde von uns. Sie bringen sehr viel Enthusiasmus mit, aber natürlich ist es ein Experiment.

Dann lass uns noch über deine grafischen Arbeiten reden. Ich hab irgendwo gelesen, dass du damit angefangen hast, weil Swizz ganz einfach ein Cover brauchten.

Jason: So ungefähr. Um ganz vorne anzufangen: Ich habe angefangen, Skateboard zu fahren, was mich zum Hardcore gebracht hat. Das brachte mich dazu, Musik zu machen, weshalb wir ein Plattencover brauchten. Damit fing ich mit den Illustrationen an.

Was war dein erstes Cover abgesehen von euren eigenen?

Jason: Ich habe eine 7″ illustriert für eine Band namens Desiderada, der Band von Amanda McKaye, Ians kleine Schwester. Danach kamen entweder Severin oder Fugazi. Nachdem sich Swizz aufgelöst hatten, fing ich an, Sachen für andere zu machen.

Und was ist nun wichtiger für dich? Die Musik oder die Arbeit als Grafiker?

Jason: Ich mache beides gerne, zumal es ja völlig verschiedene Sachen sind. Mit der Arbeit als Grafiker verdiene ich meinen Lebensunterhalt, so gesehen ist das wichtiger. Aber wenn es darum geht, was mir Spass bereitet, ist beides gleich wichtig.

Woher hast du deine Ideen? Nehmen wir mal zum Beispiel ‚Relationship Of Command‘ von At The Drive-In. Wie entstand das?

Jason: Das war sehr kompliziert. Die Band wusste nur, dass sie ein Trojanisches Pferd benutzen wollten und dass ein Freund von ihnen das Cover machen sollte. Wir fingen mit nichts an. Ich suchte nach Bildern von Trojanischen Pferden. Als ich ein cooles Bild hatte, schickte mir der Zeichner Bilder, die er gut fand.

Wir haben dabei völlig ins Dunkle geschossen, wir hatten keine Idee, was rauskommen sollte. Ich hab das Bild von dem Pferd und seine Zeichnungen genommen und daraus ein Cover gemacht, Farbe reingemacht und so. Bereits das erste Cover war das, was die Band toll fand. Wir haben noch andere ausprobiert, aber wir blieben bei der ersten Idee. Ich hab dann dem Zeichner das Bild von dem Trojanischen Pferd gegeben, damit er es in seinem Stil nachzeichnet.

Wie läuft das normalerweise ab, wenn ein Cover gemacht wird?

Jason: Das ist immer unterschiedlich. Bei den Fugazi-Covern, die ich gemacht habe, war es so, dass die Band sich mit Jem Cohen hinsetzte und Ideen entwickelte. Ich war dann sowas wie ein Ingenieur, der sicherstellen sollte, dass sich das verwirklichen liess oder wie man das Ganze noch verbessern könnte.

Das ist das eine Extrem, das andere ist, wenn die Band gar keine Ahnung hat. Das wiederum finde ich beängstigend. Ein paar Bilder oder der Albumtitel müssen schon sein.

Arbeitest du denn mit jeder Band, die dich fragt. Oder musst du die Musik mögen?

Jason: Bisher gab es keine Band, die ich nicht gemocht habe. Ich muss sie nicht unbedingt lieben, aber ich hab sie nie gehasst. Mir ist es aber wichtiger, dass ich die Leute mag, mit denen ich zusammenarbeite. Sie können die Musik machen, die sie wollen, solange sie dahinter stehen.

Du hast gerade die Wiederveröffentlichungen von Dag Nasty gemacht und deren neue Platte, oder?

Jason: Dischord geht gerade seinen gesamten Backcatalog durch und schaut, welche Platte remastered werden müssten. Dabei wird auch das Cover überarbeitet. Wir wollen nicht das Cover ändern, weil es Betrug wäre. Es ist ja die gleiche Platte. Aber wir fügen ein paar neue Bilder hinzu oder verbessern es ein bisschen – wie beim Remastern der Musik.

Die neue Platte von Dag Nasty zeigt definitiv deinen Stil. Bei den Farben zum Beispiel.

Jason: Ich hab eindeutig eine grüne und eine metallische Phase hinter mir. Bei Dag Nasty war es gerade rot.

Die verschiedenen Schriften, die du benutzt, sind auch ähnlich. Wie bei Retisonic oder bei Bluetip und jetzt bei Dag Nasty. Wie viel von deinem eigenen Still kannst du den einbringen?

Jason: Es ist unvermeidbar, dass meine Handschrift zu erkennen ist. Ich finde das auch nicht schlimm. Es ist da aber ähnlich wie bei der Musik – ich mag es zu kooperieren, wie etwa bei dem At The Drive-In Cover. Ich bringe bestimmte Farben, Formen, Schriften ein.

Die Formen sind ein gutes Stichwort. Du scheinst ja ein normales Quadrat, was CDs eigentlich mit sich bringen, zu vermeiden. Ist es kompliziert, solche Formen in den Druckereien durchzusetzen?

Jason: Oh ja, sehr. Eigentlich sind diese ganzen Sachen sehr einfach. Ich versuche immer, simple Möglichkeiten zu nutzen, um etwas anders aussehen zu lassen, um es nicht zu teuer werden zu lassen.

Aber das ist völlig egal, sobald du nach etwas anderem fragst, nehmen die dir so viel Geld ab. Das Cover von ‚Polymer‘ hat so verdammt viel Geld gekostet, und ich hab keine Ahnung warum.

Auf welches Cover bist du besonders stolz?

Jason: Ich liebe alle fünf Bluetip-Cover, weil ich da die meiste Kontrolle hatte. Und sie passen gut zusammen. Ansonsten würde ich sicher das At The Drive-In Cover sagen und ein Regulator Watts cover, das ich sehr mag.

***

Interview: Dietmar Stork

Links (2015):
Homepage
Facebook
Discogs

Both comments and pings are currently closed. RSS 2.0