September 1st, 2018

FLUCHTWEG (#74, 1999)

Posted in interview by Jan

Ich wollte wissen, was haben DIE ÄRZTE, TERRORGRUPPE und FLUCHTWEG gemein­sam. Ich hatte mir auch schon wochenlang darüber Gedanken gemacht, und ich war so richtig heiß auf diese Frage! – Nichts war’s. Absolut ausgebremst worden. Berlin war’s nicht, und ich mache mir nun weiterhin Gedanken…
FLUCHTWEG warfen aber in der Vergangenheit, ebenso wie heute auch noch, genügend andere Fragen auf, die im Folgenden recht gut beantwor­tet wurden. Ihr werdet feststellen (wenn ihr es nicht schon wißt), FLUCHTWEG sind eine humorvolle Truppe, die neben Unsinn auch noch einiges mehr in der Birne haben. Als Schlußfazit wird man dann aber doch erkennen, daß eine kleine Antwort auf die anfängliche Vergleichsfrage schon gegeben wurde.

Ihr habt vor kurzem euer neues Album „Commerzpunk“ veröffentlicht. Wie ist die Geschichte des Albums, und vor allem wie war das mit Bela B. und Johnny Bottrop?

FLUCHTWEG: Die Geschichte des Albums ist schnell erzählt. Wir saßen im Winter letzten Jahres, wie immer frierend, in der Wärmstube vom Roten Kreuz und löffelten einen Teller Armensuppe. Als unserem Sänger wieder ein Schneidezahn heraus eiterte und in den Kamillen­tee fiel, war uns plötzlich alles klar: So kann das nicht weitergehen! Wir müssen eine Platte machen, die uns über Nacht zu Megastars macht und uns aus dem Elend der Gosse holt. Da wir als arbeitsscheue Ostler natürlich keine Lust haben, selbst Hand anzu­legen, haben wir unsere Sozialarbeiter Bela B. und Johnny Bottrop angerufen und ihnen gesagt, daß sie sich kümmern müssen. Sie haben dann das gröbste erledigt, Bela B. sang übers Telefon. wir waren auch ein paar Mal im Studio, um ihnen Hinweise zu geben. am Ende waren wir recht zufrieden, hatten ausgiebig Sex, und jetzt kann die Kohle fließen!

Trägt der gute „Commerzpunk“ Tracht? (FLUCHTWEG präsentieren sich dieses Mal auf dem aktuellen Release und auf Pressefotos in Volksmusik-Tracht!)
Der gute Commerzpunk erlegt sich ein paar Wildecker Schürzenjäger, zieht ihnen die Trachten ab und trägt sie als Trophäe.

Euer letzter Release „Le Figur“ war eine Parodie auf das ÄRZTE-Album „Le Frisur“. Haben die Leute den Sinn dieser Veröffentli­chung eigentlich verstanden?
Den Leuten, die das ÄRZTE-Album kennen, ist schätzungsweise schon beim Cover ein Licht aufgegangen. Wer dann spätestens beim „Dreißig-Jahre-Bauch“ noch nichts geschnallt hat, dem wird vielleicht auch niemals ein Licht aufgehen. Da könnten wir ja nur mit den Schultern zucken und sagen: „Der gute FLUCHTWEG-Fan, der versteht schon einen Spaß!“ Grundsätzlich ist aber schon festzustellen, daß Ironie in der Szene nicht sehr verbreitet ist. Für viele Leute müssen Bands entweder eindeutig ernsthaft, intellektuell und politisch, oder blödelnde Funpunker sein.

Es gibt in Deutschland kaum etwas dazwischen. DIE ÄRZTE und die TERRORGRUPPE gehören zu den wenigen Bands, die es schaffen, unver­krampfte, humorvolle Texte zu machen, die trotzdem verdammt intelligent sind, ohne allerdings intellektuell zu sein. Wobei ich mir sicher bin, daß 50 Prozent ihrer Fans (und natürlich auch ihrer „Feinde“) den tatsäch­lichen Humor dieser Bands gar nicht schnallen, sondern sich an den vordergründi­gen Textaussagen orientieren. Und so ähnlich geht es auch uns immer wieder. Bei „Le Figur“ sah das dann so aus, daß es die eine Fraktion gab, die die Platte gut fand, weil wir ihrer Meinung nach DIE ÄRZTE damit angreifen würden, und die andere Fraktion, die die Platte genau aus diesem Grund scheiße fand. Ganz abgesehen natürlich von denen, die FLUCHTWEG als Blödelpunks ansahen, weil sie sich nicht wirklich damit beschäftigt hatten.

Zu den wenigen, die die Platte so verstanden hatte, wie wir sie meinten, gehörten übrigens DIE ÄRZTE selbst, die (anstatt uns den Anwalt auf den Hals zu hetzen) sich bei uns einige Exemplare von „Le Figur“ bestellten! Für uns war diese Platte eigentlich nichts weiter als eine Schnapsidee, die wir auf einer Kurztour hatten. Wir setzten uns im Bandbus auf dem Weg nach Wien als ziel, innerhalb von drei Tagen 17 Songs zu schreiben, die einerseits etwas mit dem menschlichen Körper und andererseits aber auch etwas mit den ÄRZTEN zu tun haben sollten, also ihrer Art von Musik und ihrer Art Texte zu machen. Und diese 17 Songs sollten dann noch alle auf eine Single passen, denn bei Punkrock sollten 17 Songs ja eigentlich nicht länger als 22 Minuten dauern. Und wenn man diese Ziel­vorgaben alle einhält, kommt logischerweise manche Blödelei dabei raus. Daher ist das Ding ja auch nicht als offizielles FLUCHTWEG Album, sondern als Single unter dem Titel FLUCHTWEG featuring DER ARZT erschie­nen.

Mit dem Song „Arbeitsscheue Ostler“ (war auf dem gleichnamigen Album) seid ihr damals zum Teil schwer in die Kritik geraten. Gibt es dazu Erwähnenswertes?
Es war auf jeden Fall eine schöne Provokation. Vor allem lustig auf die Reaktionen zu warten und zu sehen, welche Leute sich wie dazu verhalten. „Arbeitsscheue Ostler“ war ja ei­gentlich die Antwort auf die ständige Herab­würdigung von sogenannten „Ossis“, vor allem in der westdeutschen Durchschnitts­bevölkerung und in den Medien. Den Spieß haben wir umgedreht und gesagt: „Genau! Wir sind genau so, wie ihr uns sehen wollt. Ein bißchen vertrottelt und vor allem zu keinerlei nützlicher Tätigkeit bereit.

Und wir haben den längeren Atem.“ Während im Westen jeder geradewegs auf den Herzinfarkt zu schuftet und dabei einen ausverschämten und völlig unnützen Wohlstand anhäuft, liegen wir in der sozialen Hängematte und sehen dabei zu. Die Bezeichnung Ostler steht dann eben auch nicht mehr für eine regionale Herkunft, sondern für eine vernünftige Lebenseinstellung. Und die bedeutet nach unserer Ansicht nicht unbedingt, sich völlig fallen zu lassen und hoffnungslos zu verstinken und verschlampen. eher, daß man sich gut überlegt, wie man sich das Leben einteilt und nicht vergißt, es zu genießen. die Bahnhofspunks verstehen unsere Botschaft auf ihre Art und asseln weiter ab. aber das würden sie auch ohne FLUCHTWEG. Dann gibt es echt beleidigte ex-DDR-Bürger, die uns Drohbriefe schreiben und als Nestbeschmutzer geißeln. Auch rührend, die meisten Fans, die wir sprechen, haben aber schon verstanden, was wir wollen.

DIE ÄRZTE – TERRORGRUPPE – FLUCHTWEG. Eure Gedanken dazu …
Äh…aus Berlin? Aus Berlin!

Wie steht ihr zur APPD?
Auf die APPD trifft ähnliches zu, wie für den Titel „Arbeitsscheue Ostler“. Jeder macht sich seine eigene Auslegung von der Sache. Als Partei vielleicht die einzige, die dem Wähler keine falschen Versprechungen macht. Schade, daß es keine große Koalition mit CHANCE 2000 gegeben hat. Die waren den APPDlern vielleicht zu kopflastig, aber es hat sicher wichtige Stimmen gekostet.

Eure Stimmen zur Bundestagswahl vom September ’98.
Seit die Sozis an der Macht sind, ist das Wetter deutlich schlechter geworden, und das merkt man bis ins Ausland. wir waren gerade auf Tour in Europa, und es hat nur gesaut. Insge­samt hat wohl jeder, der sich wesentliche Änderungen verspricht, mit Zitronen ge­handelt. Es war ja wohl eine Wahl im stinken­den, faulenden und parasitären imperialisti­schen Gesellschaftssystem (frei nach Lenin) und keine Revolution.

Seit der deutschen Wiedervereinigung sind nun schon einige Jahre ins Land gezogen. Wie sieht euer Zwischenfazit darüber aus?
Es gibt da sicherlich gar kein eindeutiges Fazit. Einerseits ist mit dem Zusammenbruch der DDR auch die Illusion vom Sozialismus gestorben. Nicht, daß die DDR selbst richtig sozialistisch gewesen wäre. Die war ein totali­tär geführter Selbstbedienungsladen für be­tonköpfige Parteibonzen. Aber viele Menschen hatten den Traum, dieses System zu ändern und ein sozial gerechtes daraus zu machen. Das ist vorbei, und ich finde es traurig. Die andere Seite ist aber, daß die „Wende“ viele persönliche Freiheiten mit sich gebracht hat. Das fängt damit an, daß wir als Band die Musik und die Texte machen können, die uns wichtig sind, und die (mal abgesehen von ein paar linken Spießern) von niemandem zensiert werden. Dazu kommen die Möglichkeiten rumzufahren, sich die Welt anzusehen etc. etc. So liegen die Dinge und wir sind keine Otalgiker, oder Prostatiker, oder wie das heißt.

Was macht ihr neben FLUCHTWEG?
Wenn wir nicht gerade das viele Commerz­punk-Geld zählen, machen wir alle möglichen und unmöglichen Jobs. Arzt, Tourist, oder Banker.

Findet ihr, daß Fanzines für die Szene noch wichtig sind?
Auf jeden Fall. Man merkt das auf den Kon­zerten. Viele Leute sind durch die Fanzines über die lokale Szene, Aktionen usw. gut informiert. Man muß auch nicht mit allem einverstanden sein, was da drin steht. Aber unabhängig von den offiziellen Medien eine eigene, alternative Position ausdrücken und verbreiten zu können, ist wichtig.

FLUCHTWEG und Fußball …
Wir stehen ab und zu am Kicker. Sonst fallen wir immer dadurch auf, daß wir von Fußball überhaupt keine Ahnung haben. Natürlich wissen wir, daß viele Punker immer zu St. Pauli gehen und da auch mehr dran hängt als nur Fußball. aber seit Schupphase nicht mehr bei CARL ZEISS JENA spielt, ist alles nicht mehr so lustig.

Würdet ihr eure nächste Scheibe auch auf einem Major-Label veröffentlichen?
TollShock ist unser eigenes Label. Hausmarke sozusagen. Und wenn es so weiter geht, sind wir zur nächsten Scheibe selbst Major. Immer­hin haben wir von der „Commerzpunk“ schon über drei Exemplare verkauft.

Welche Pläne habt ihr für 1999?
Wir versuchen nicht zu sterben, und dann sehen wir weiter. Vielleicht machen wir eine große Tour auf den Tequilamond!

FLUCHTWEG
c/o Tollshock
Postfach 350126
10210 Berlin

Interview: Howie B. Hlava

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