März 11th, 2007

EVERY TIME I DIE (#106, 06-2004)

Posted in interview by andreas

Kommen wir nun zur Kategorie „übermässig tätowierte junge Männer, die hyperventilierend in ihren Leibchen zappeln“. Da hätten wir zum Beispiel Every Time I Die aus Buffalo, NY: Auf deren jüngstem Album, dem zweiten, schreibt jemand mit Blut menetekelnd „Hot Damn!“ an die Wand und fabriziert einen Sound, zu dem das innere Auge Schlagzeilen wie Psychopathischer Rasenmäher hinterlässt Spur der Verwüstung und Ich wusste, das Crack war schlecht produziert.

Sänger Keith Buckley, ein funkeläugiges HC-Wiesel, klingt als sei sein Leben ein einziger Loop aus Vollbremsung und über-den-Lenker-fliegen. Keiths Bruder Jordan und der (so will es die Legende) aus einer Schlägerei herausrekrutierte Andy Williams stehen dazu Zähne fletschend am Griffbrett. Auch Bassist Steve Micciche kann ein paar Tricks, besonders live, wenn er mit dem Kopf special moves macht, nach denen er seine Transformers früher wegwerfen musste. Komplettiert wird die kaputte Familie von Schlagzeuger Michael Novak, auch liebevoll Ratboy genannt.

Nach den anstelligen Vorgängern „The Burial Plot Bidding War“ (2000) und „Last Night In Town“ (2001) sowie einem kuriosen Lizenzdeal, der dazu geführt hat, dass „Hot Damn!“ binnen 12 Monaten gleich zweimal – via Ferret und Roadrunner – veröffentlicht wurde, war es höchste Zeit, dass der quirlige Fünfer bei uns aufschlägt.

Was im Februar dann endlich passiert ist, im smart eingefädelten Doppelpack mit den Metalcore-Megasellern Chimaira aus Cleveland. Höre ich an dieser Stelle ein weltmüdes Stöhnen? (Uhhh, Metalcore, schon wieder. Bäh, Roadrunner, ausgerechnet.) Ruhe da hinten! Every Time I Die haben schliesslich nicht umsonst ihre jugendlichen Schnauzen an Converge und Dillinger Escape Plan gerieben.

Andy Williams sitzt vor dem Nachtleben-Gig aufgeregt wippelnd auf der Treppe, pflügt durch ein Milchshake und grinst: „Ich hab‘ noch nie ein Interview gegeben! Sonst will niemand was von mir wissen. Alle stürzen sich immer auf Keith.“

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„Squeal like soft music / If it helps we’ll dim the lights on the floor.“

Okay, Andy. Hardcore (viel) + Metal (wenig) + Groove = ETID. Schön und gut, wegen mir auch medikamentös schlecht eingestellter Noisecore, aber warum denke ich eigentlich automatisch Black Flag, wenn ich Every Time I Die höre? Wegen der flüssigen, zwischenatmenden Gitarren?

Andy: Uh, halt mal. [schluuurp] Black Flag ist eine meiner absoluten, ewigen Lieblingsgruppen, als Kid bin ich förmlich in sie reingekrochen. Ich habe sie aufgesogen. Alles, was Henry Rollins und Keith Morris je gesagt und getan haben, haben ich instinktiv sofort verstanden.

Wenn ich heute meine Gitarrenparts schreibe, denke ich tatsächlich an Greg Ginn! Applaus – du bist die erste, die mich dabei erwischt hat. Aber das ist supergut. Als wir mit Every Time I Die 1998 angefangen haben, planten wir nämlich eine Mischung aus Deadguy und Black Flag, so in der Richtung.

Was ist mit schwedischem Hardcore, der Umeå-Szene und so? Hat euch das in irgend einer Weise beeinflusst?

Andy: Nee, überhaupt nicht. [Andy schwenkt seinen Kugelschreiberkopf vehement von links nach rechts.] Das hört sich jetzt vielleicht scheisse an, aber Refuseds „Shape Of Punk To Come“ hat die Musik komplett ruiniert. Jede Popelband hat danach versucht, Refused abzurippen und nachzuahmen.

Sie hatten etwas eigenes und originelles, und die anderen haben es total versaut. Ich mag ihre älteren Victory-CDs, aber ehrlich gesagt kann ich mir Refused nicht mehr anhören, weil mittlerweile alles so klingt; uns selber haben sie eigentlich überhaupt nicht beeinflusst; wir haben eher in Richtung älterer Bands geschielt.

Every Time I Die ist die gerade so gezügelte Entropie: Eingeweide-Musik. Energie, die scheinbar spontan in die Sphären gekotzt wird. Aber wie sieht das auf Papier aus? Ihr müsst disziplinierte Songschreiber sein…

Andy: Das Beste an ETID ist, dass es keine Richtlinien gibt. Wir können tun und lassen, was wir wollen. Auf „Hot Damn!“ gibt es Songs, die völlig käsige Thin Lizzy-Riffs haben, während anderes von mir aus an Black Flag erinnert, alles ist denkbar, und alles, was die Einzelnen auf den Tisch legen, wird verwendet.

Dass daraus Songs werden, fasziniert mich auch immer noch. Ist mir eigentlich ein Rätsel. Schliesslich besteht die Band aus fünf völlig unterschiedlichen Typen, die Ideen anschleppen. Ich selber bin eher der klassische Typ, ich mag alte Punk-Bands. Jordan und Keith hingegen stehen total auf Britpop! Blur und Suede und so. [konspirativ] Unter uns: Keiths Lieblingsband sind die Counting Crows!

Du verarschst mich.

Andy: Doch, wirklich! Das glaubt einem niemand, ist aber so. Eine meiner Lieblingsplatten ist „Grace“ von Jeff Buckley. All dieses Zeug. Heraus kommt dann Every Time I Die. Schon ein bisschen seltsam.

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„We are not even remotely capable of keeping our heads about us.“

Wird es euch jemals zu intensiv, sprich: seid ihr schon mal unter eurem eigenen Druck eingeknickt?

Andy: So intensiv kann gar nichts sein. Das will ich sehen! Aber eins stimmt: ehe wir uns zum Schreiben hinsetzen oder vor einem Konzert sind wir wie eine Bombe, die gleich hochgeht… Weil das alles ist, was wir tun und wofür wir leben. Keiner von uns hat Jobs, die Band ist unser Lebensmittelpunkt. Für „Hot Damn!“ haben wir uns zwei Wochen lang im Kellergeschoss eingesperrt und gegenseitig fast täglich erwürgt.

Auf Tour ist es genauso: wir stopfen etwa neun Leute plus Kram in einen 16 Personen-Bus und hocken auf einander wie die Chinakracher, eine ganze Ladung Fingernägel kauender Zappelphilipps. Was immer wir tun, tun wir bis zum Anschlag. Nach jedem Gig wischen Ratboy und ich uns die Stirn ab und sagen: phew, Glück gehabt, es ist nichts passiert. Kids went nuts and people were happy. Das ist alles, was ich möchte! Wenn wir das erreichen, indem wir auf der Bühne zerplatzen, dann bitte, gerne.

Wieso eigentlich „Ratboy“?

Andy: Ich glaube, die Geschichte ist noch nirgendwo erzählt worden! In grauer Zeit vor ETID habe ich in einer Band Schlagzeug gespielt, und der Gitarrist hatte einen kleinen Bruder, der wiederum wo anders Gitarre spielte. Ratboy war dort Drummer. Und immer wenn ich spielte, sah ich dieses hässliche dicke Bürschchen in meinen Sachen, vor allem meinen CDs rumwühlen. Wenn ich wieder hinschaute, war der kleine Fettsack weg, mitsamt meinem Zeug. No Kid, no CDs. Sehr viel später tauchten die CDs wieder auf, aber das wiederholte sich ständig. Deshalb taufte ich ihn Beutelratte. Daraus wurde Ratboy, und nun spielt der kleine Scheisskerl neben mir.

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„There’s a delicate love song in this, kicked out and dripping verse.“

Keiths Texte rauschen wie ein Bewusstseinsstrom durch Every Time I Die: hyperintellektuelle, sarkastische, multifunktionale Vignetten, die nonstop aus seinem Verstand lecken. Gut möglich, dass seine Eltern dann und wann daran dachten, den Bub an der Autobahn auszusetzen, weil er ihnen zu unheimlich wurde. (Ich meine, what the fuck: Counting Crows?!) Andy, wie denkst eigentlich du über Keiths Lyrics?

Andy: Keith ist so ein wunderbarer Weirdo. [lacht] Du kannst seine Texte lesen, wie du willst, egal, ob dein Mädchen dir das Herz rausgerissen hat oder es um politische Dimensionen geht. Seine Texte sind vielschichtig. Sie sind Geschichten, aber auch Rätsel. Der Typ benutzt Wörter, die ich mein Leben lang nicht gehört habe! Ich ziehe daraus, was ich nachvollziehen kann; kann natürlich sein, dass er ganz anderes meint…

Auf der CD ist ein Song, „Godspeed Us To Sea“, Song Nummer – nein, warte mal, [greift die CD] wie dämlich ist das bitte, ich kann mich noch nicht mal an unsere eigenen Songs erinnern! Ah, hier ist er doch: „Hit Of The Search Party“. Ich dachte, es ginge um Bürgerkrieg: „Slouch into position, men, this is awar… that’s what you get for fucking with us. When we find you we will skin you alive, we’ll pluck out your eyes and the canons will roar as we march to the capital, dragging your hide…“, aber Keith erklärte mir, es geht um Chatrooms und Computerforen. Häh? Keith ist eine der merkwürdigsten Figuren, die ich je getroffen habe, und ich glaube, es gibt keinen perfekteren Sänger für uns.

Neben dem unvermuteten Groove, den ihr auf „Hot Damn!“ an den Start rollt, steht ein Song heraus wie ein wunder Daumen: „In The Event That Everything Should Go Terribly Wrong“ ist mit seiner einzigen Textzeile „youreokiwillbei“ schon fast ein Instrumental. Und es schwappt so träge herein, als spielten Cult of Luna den Soundtrack zu einer ölpest.

Andy: Yeah, genau! Dabei hat uns der Song nur 2 Minuten gekostet… Er ist spontan im Studio entstanden. Ich weiss noch wie es dazu kam; ich habe drei Akkorde vor mich hin genudelt und gerufen, hört euch das an, hört euch das an! Ratboy hat genickt, wir haben angezählt, und es genau so aufgenommen. „In The Event…“ ist einer meiner Lieblingssongs auf dem Album, und wir spielen ihn gerne auf Tour, weil er zwischen dem ganzen High Energy-Zeug für einen Bruch sorgt.

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„It appears that the inmates have overrun the asylum.“

Bands, die zwischen den Hardcore- und Metallagern tingeln, gibt es mittlerweile so viele wie Refused-Epigonen. Fühlt ihr euch noch okay neben Chimaira oder ist das bereits zu Metal?

Andy: Nee, ich denke, das Beste beider Welten vermischt sich so ein bisschen schneller. Bands wie wir, SikTh und Bleeding Through haben keine Berührungsängste mehr vor Metalcrowds, es gibt keine Streitereien mehr, keine dumme Anmache und Cliquenscheiss. Perfekt! Klar gibt es immer ein paar faule Eier, aber das passiert immer seltener.

Wenn sich Every Time I Die schon neben Watfords SikTh stellen, kann man bei der Gelegenheit gleich noch ein paar weitere Geistesverwandte ausmachen: Since By Man und JR Ewing, sowie natürlich Dillinger Escape Plan und Converge.

Mit den letzten beiden waren ETID in Kanada und an der Ostküste auf Tour, und Jacob Bannon von Converge hat das Cover und Booklet von „Hot Damn!“ gestaltet…

Andy: Oh mein Gott, Converge. [Andy kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, sich hier und jetzt auf der Treppe in den Staub zu werfen…] Diese Gruppe hat Meilensteine gesetzt. Jede einzelne ihrer Platten hat das Gesicht von Hardcore verändert. „Petitioning The Empty Sky“ – ein Jahrhundertwerk. Alle haben die Hände über’m Kopf zusammengeschlagen, ohmigawd, das klingt ja völlig unerhört, mäh mäh!

Dann kam „When Forever Comes Crashing“, und wieder sind die Fressen aufgeklappt: wie krass, diese Typen haben die Gitarren komplett runtergestimmt! Alles klingt schlammig, die Aufnahme ist beschissen! Aber es hat funktioniert. „Jane Doe“: boom, everything changed again. Wenn ihre neue Platte im Sommer rauskommt, wird es wieder so sein.

Und erst Dillinger Escape Plan: Ich glaube, es gab noch nie eine Band mit soviel Können, sie haben Hardcore wirklich ein neues Arschloch gerissen… Jeder einzelne von ihnen hat mehr Talent als wir alle zusammen; beide Gitarristen sind vollkommene Jazzgitarristen, der Bassist ist ein Jazzer, der Drummer ist ungelogen der Beste, den ich je gehört habe, und Greg, der neue Sänger, ist einfach zum Kotzen genial. Alles was Mike Patton auf der „Irony Is A Dead Scene“-EP mit ihnen gemacht hat, kann Greg besser.

Als 1998 ihr „Under The Running Board“ erschien, war das wie ein Schlag ins Gesicht. Dass wir und SikTh und Since By Man von ihnen zu lernen versuchen, ist hoffentlich verzeihlich. Hiermit prophezeie ich, dass DEP und Converge zu gottgleichen Dimensionen heranwachsen werden, eben, weil sie ständig neue Referenzalben schaffen. Schau, ich denke nicht, dass wir einen solchen Moment mit Every Time I Die schon erlebt haben. Wir sind noch nicht so weit. Wir haben unser perfektes Album noch nicht geschrieben. Wer weiss, vielleicht das nächste?

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www.everytimeidie.com

(melanie aschenbrenner)

Links (2015):
Wikipedia
Homepage
Discogs

 

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