Oktober 20th, 2016

Bericht über Schlagermusik (#59, 08-1996)

Posted in artikel by Jan

Einige haben ja wohl die kurze, kritische Bemerkung in meiner Kolumne aus TRUST # 58 zu den ganzen „Disco-Schlager-usw.“-Partys gelesen. In dem folgenden Essay von Stefan Kleiber werden die Gründe hierfür nochmal in aller Sachlichkeit dargestellt. Prinzipiell ist natürlich nichts dagegen einzuwenden wenn Leute Spass haben – in welcher Form auch immer. Was aber doch bedenklich stimmt, ist die Frage, ob sich Leute auch wirklich bewußt darüber sind welchen „Mitteln“ sie sich bedienen um Spass zu haben.

Denn gedankenloses feiern ist in vielen Fällen eine klasse Sache, ob damit allerdings „irgendwelchen“ Ansprüchen gerecht wird – das steht auf einem anderem Blatt. Was in diesem Zusammenhang besonders stört ist der Widerspruch in der Sache. Verhaltensmuster und „Kultur“ von anderen Menschen werden aufs schärfste kritisiert oder gar abgelehnt. Diese beiden Komponenten, in leicht abgeänderter Form (als „Satire“ verkleidet, aber in jedem Fall noch zum verwechseln ähnlich), dann aber zu kopieren und in andere Strukturen zu projezieren, das steht im krassen Widerspruch zu der sonst artikulierten, begründeten, Abneigung ebendieser. Leicht könnte man anhand anschaulicher Beispiele diesen Widerspruch sichtbar machen, das soll aber der Phantasie des Lesers überlassen werden. Hier wäre noch anzufügen das ein vielleicht einmalig guter „Witz“ auch nicht besser wird wenn man ihn öfters wiederholt. In diesem Sinne: „Party ‚till you puke – I might puke when I see you party“

Das Phänomen „Schlager“: Wachtraum oder Alptraum? Eine kleine Reise durch die Schlagerwelt.

Beim Schlager scheiden sich die Geister. Während viele Menschen den Schlager aufgrund seiner einfachen musikalischen Struktur und seiner trivialen Texte als „kulturell minderwertig“ abtun, freuen sich andere aus genau denselben Gründen schon seit über 100 Jahren über seine Existenz. Beschäftigt man sich mit dem Phänomen Schlager, so wird schnell deutlich, daß sehr viele Aspekte in die Betrachtung miteinfließen müssen. Denn neben der musikalischen Herkunft spielen auch soziologische, ökonomische, psychologische und literaturwissenschaftliche Aspekte eine Rolle. Gerade der Warencharakter unterscheidet den Schlager von anderen Musikgattungen wie beispielsweise dem Volkslied. Er ist ganz klar ein Massenprodukt, das auf den Augenblickserfolg ausgerichtet ist und durch seine beabsichtigte Kurzlebigkeit Raum für immer mehr „Schlagerprodukte“ schafft.

Um eine möglichst breite Konsumentenschicht erreichen zu können, passen sich seine Produzenten gerne den gängigen modischen Geschmacksrichtungen des Publikums an. Denn verdienen läßt es sich in der Schlagerbranche sehr gut. Von den hohen Um-sätzen profitieren, neben den von der Musikindustrie in’s Rennen geschickten Schlagerstars, insbesondere die Männer im Hintergrund: Plattenfirmen, Manager, Texter, Komponisten, und Verleger. Von besonderem Interesse sind die Schlagertexte. Was letztendlich dabei herauskommt, wenn das Produkt Schlager von Textern und Komponisten im Namen der Musikindustrie kreiert wird, um möglichst viel Umsatz zu erzielen, läßt sich schon erahnen. Diese Texte, die bewußt weitab jeder Realität liegen und den Hörer in’s Schlagerland der Illusionen und Träume schicken, sind in ihrer unpolitischen Art, welche die Hörer zur Passivität und Schicksalsergebenheit erzieht, schon wieder ein Politikum. Denn spätestens seit dem Dritten Reich wissen wir, daß man auch mit Musik die Massen manipulieren kann.

Die Wissenschaft hat zur Wirkung der Schlager noch keine fundierten empirischen Ergebnisse vorgelegt und so will ich im folgenden Essay der Frage nachgehen, ob die Schlager nun lediglich harmlose Wachträume sind, welche die Hörer beglücken oder ob sie in ihrer wirklichkeitsfremden – eine heile Welt vorgaukelnden – Art eine Gefahr für die ahnungslosen Rezipienten darstellen. Daß er gefährlicher ist als manchen Leuten lieb ist, werden meine Ausführungen belegen, die versuchen, die interessantesten Aspekte des Phänomens Schlager vorzustellen. Welche Höhen und Tiefen der Schlager durchlebte, soll zunächst in einem kurzen geschichtlichen Abriß gezeigt werden (I.); welche textlichen Inhalte der Schlager zu bieten hat und wie oder ob sie sich überhaupt innerhalb der letzten 100 Jahre verändert haben, verdeutlicht Kapitel II. Danach werfe ich einen Blick auf die Nutznießer des Schlagers und wie sie die Ware Schlager an den Mann bringen (III.) Welche Reize und Funktionen er für seine Anhänger hat, wird Kapitel (IV.) klären und Kapitel V zeigt dann zum Abschluß, welche Wirkungen vom Produkt Schlager ausgehen.

I. Wie alles begann und was sich daraus entwickelte

Der Begriff des Schlagers tauchte erstmals 1880 in einer Wiener Musikkritik auf, die darunter eine „zündende Melodie“ verstand. Die Musik und Textform des Schlagers haben ihre Wurzeln im Couplet und Gassenhauer. Interessant ist bei der Betrachtung der Geschichte des Schlagers insbesondere, daß er bis 1930 durchaus Bezug auf reale politische und soziale Probleme nahm. Themen wie Arbeitslosigkeit oder Inflation (1922) wurden in Liedern wie „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen“ mit einem gehörigen Schuß Galgenhumor auf’s Korn genommen. In den 20er Jahren gab es aber noch keinen Starkult um die Interpreten und auch die Musikindustrie war technisch noch nicht so weit fortgeschritten, als daß sie mit den Tonträgern einen großen Umsatz hätte erzielen können. Nichtsdetotrotz waren es gerade die technischen Medienentwicklungen der Schallplatte und des Rundfunks, die für eine starke Verbreitung des Schlagers sorgten.

Eine weitere technische Entwicklung – nämlich die vom Stumm- zum Tonfilm, indem nun auch immer einige Schlager präsentiert wurden – brachte ihm dann den endgültigen Durchbruch, wobei sich dadurch auch eine zunehmende Personalisierung des Schlagers einstellte. Im Dritten Reich entfernten sich die Schlager dann immer mehr von der Wirklichkeit und die Machthaber, die mittlerweile sowohl den Rundfunk als auch den Film unter ihrer Kontrolle hatten, mißbrauchten ihn zu Propagandazwecken. Aufgrund der Zensur blieb den Schlagerautoren nur der Rückzug aus der Wirklichkeit in irgendwelche Traumwelten. Bis zum bitteren Ende wurden dem gebeutelten Volk Durchhalteparolen in Schlagerform (beispielsweise Zarah Leander’s „Ich weiß es wird einmal ein Wunder geschehen“) via Volksempfänger nähergebracht. 1945 war dann der Spuk vorbei und bis auf die Deutsche Grammophon waren alle größeren Schallplattenproduktionsstätten und die Traumfabriken der Ufa zerstört. Der Rundfunk war nun in den Händen der Besatzungsmächte, die „ihre“ Musik spielten. Der deutsche Schlager war somit in einer schweren Krise.

Bis 1960 waren 50% aller Schlager Auslandskompositionen, die lediglich eingedeutscht wurden. Der Schlager wurde in der Folgezeit größtenteils von den jeweiligen, angesagten Strömungen der internationalen Popmusik – wie Swing, Rock’n’Roll, Beat oder Discomusik – bestimmt. Die Musikbranche erfand nun immer mehr schablonenhafte Produktionsmuster, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg „weiterstricken“ ließen. Diese Maschen, wie beispielsweise die Südseemasche (ganz groß war hier beispielsweise Freddy Quinn „Junge, komm bald wieder“) oder die Cowboymasche (z.B. „Ich will nen Cowboy als Mann“ von Gitte) hielten sich recht lange – bis sie von den nächsten Maschen abgelöst wurden. Immer stärker bemühten sich die Plattenfirmen um den Aufbau populärer Interpreten, die feste Kundenstämme um sich scharten und auch mit schlechteren Stücken noch genügend Umsatz erzielten. Dieses Starsystem wurde von nun an zum zentralen ökonomischen Prinzip im Schlagergeschäft. Dieser kurze historische Abriß sollte verdeutlichen, daß Schlager entscheidend von ihrer Zeit geprägt sind, im Gegenzug aber auch einen gewissen Einfluß auf die jeweilige Epoche haben. Technische, ökonomische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen müssen deshalb in jeder Betrachtung berücksichtigt werden. Doch nun wende ich mich dem eigentlichen Kern der Schlager zu – den Texten.

II. Die Texte: Die Wiederkehr des Immergleichen

Zu Beginn muß betont werden, daß bei aller Wichtigkeit, die den Schlagertexten zugerechnet wird, nicht vergessen werden darf, daß seine Wirkung durch die Musik enorm verstärkt wird. Musik und Text leben voneinander und bedingen sich gegenseitig. Die Schlagertexte vermitteln ganz allgemein gesprochen Einstellungen, Meinungen und Vorstellungen von Themen, die sie in Form von Geschichten erzählen. Schon durch die gewählte Sprache, die überwiegend auf Begriffe der Romantik zurückgreift, soll dem Hörer ein möglichst großer Assoziationsspielraum gegeben werden. Zu seinem doch sehr beschränkten Wortschatz zählen insbesondere allseitsbekannte Reiz- und Schlüsselwörter wie „Welt, Glück, Liebe“ oder „Träume“, die einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen und dem Hörer auf ideale Weise die Identifikation erleichtern.

Mittlerweile sind diese Begriffe in den Schlagern aber derart oft strapaziert worden, daß sie kaum noch als Inhalte begriffen werden, sondern zum Klischee verkommen sind. Ein weiteres Merkmal der Sprache ist die starke Gefühlsbetontheit und kann in dieser Beziehung doch mit vielen Trivialprodukten der Kulturindustrie, wie Liebesromanen oder gefühlsseligen Fernsehserien verglichen werden. Wie beim literarischen Kitsch ist die Gesamtaussage intensiv emotional gehalten und assoziativ besonders ergiebig, was sich in Adjektiven wie „sanft, schön, himmlisch“ oder Substantiven wie „Schnee, Feuer“ oder „Rosen“ ausdrückt. Durch die so gewählte Sprache sollen die Käufer, ähnlich wie bei einem Werbetext, zu einer bestimmten Ansicht, Meinung oder Haltung und letztendlich natürlich auch zum Kauf verführt werden.

Die Verführungstechnik stützt sich auf irrationale Beweise, die den Hörer überzeugen sollen. Inhaltlich hat sich im Schlager in den letzten 100 Jahren kaum etwas verändert. Man beschränkt sich vorwiegend auf Motive und Themen, die den Bedürfnissen und Erwartungen der Konsumenten entsprechen. Werner Hahn arbeitete die folgenden vier Themenschwerpunkte heraus, die auch von anderen Wissenschaftlern bestätigt wurden. Der größte thematische Bereich ist mit fast 90 % die Liebe; weiter verbreitet der Schlager Weltanschauungen, eine Illusionswelt und Lebensregeln und Weisheiten. Im Thema Liebe sammelt sich alles, was die soziale Funktion des Schlagers ausmacht: die

Verheißung eines illusionären Glücks, Flucht aus der Realität, Trost und Schicksalsbegebenheit. Die Schlagerliebe läßt keinen Aspekt aus – außer dem sexuellen. Das höchste der Gefühle ist ein Kuß. Die Frau wird häufig nur als Augenweide des Mannes gesehen und rückt teilweise sogar in die Nähe eines Versandhausartikels („Das schöne Mädchen von Seite eins“). Auf alle Fälle hat sich Emanzipation im Schlager noch nicht herumgesprochen. In bezug auf die Liebesverbindung ist der Blick stets in die Zukunft gerichtet; nicht das Jetzt gibt der Gegenwart ihre Bedeutung, sondern das Wissen irgendwann einmal eine lebenslängliche Beziehung einzugehen. Da diese Anforderungen an die Liebe nicht erfüllbar sind, wird alles in Wunschform ausgedrückt. Liebe im Schlager ist Wirklichkeitsflucht und praktische Lebenshilfe geworden, die aber auch verhindern kann, nach Ursachen außerintimer Probleme zu fragen.

Die Liebe wird als Allheilmittel allen Übels angesehen. Wenn man nun überlegt, daß die Schlagertexte auf die Bedürfnisse der Rezipienten ausgerichtet sind, so stellt sich die Frage, ob die Schlagerfans wirklich ein so großes Liebesbedürfnis haben oder ob der Schlager dieses Bedürfnis möglicherweise erst hervorruft. Klar ist auf alle Fälle, daß der Schlager die Bedürfnisse der Rezipienten nur scheinbar erfüllt – nämlich nur solange das Lied läuft. Die Schlager geben ganz klar eine Weltanschauung aus und schreiben einem vor, wie man die Welt zu sehen hat. So singt Tony Marshall beispielsweise „Junge, die Welt ist schön“ oder in seiner „Schönen Maid“: „die Welt ist wunderschön, das muß ein jeder sehen“. Diese Beschwörungsformel impliziert die Angst vor der Enthüllung, daß diese Welt am Ende vielleicht doch nicht so toll ist.

Der Ahnung der Unzulänglichkeit der Welt entspricht ein fatalistischer Zug in vielen Schlagertexten. Gravierendstes Beispiel hierfür ist der „Nickel Song“ von Melanie: „ Ob es so oder anders kommt, so wie es kommt, so ist es recht.“ Die Bereitwilligkeit das Leben einfach so hinzunehmen, muß in letzter Konsequenz jede Aktivität lähmen, auch die politische – und somit wird der Schlager zum Politikum.Aber auch die Illusionswelt wird im Schlager immer wieder beschworen. Die Flucht aus der Realität wird mit immerwährendem Glück belohnt; Bedingung dafür ist aber blindes Vertrauen. Auf den Punkt bringt es die Böblinger Popgruppe PUR in ihrem neuesten Hit Abenteuerland: “Komm mit in’s Abenteuerland…der Eintritt kostet den Verstand“. Die Träume von denen Schlager träumen sind meistens Wachträume. Ohne die Fluchtmöglichkeit in den Wachtraum wäre das Leben nicht zu bewältigen. In ihm erfährt der Mensch ein kurzzeitiges Glück – hier kann er seine Angst, den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit vergessen. Problem dabei ist, daß die Träume in keiner Weise zu einer Bewältigung oder Veränderung realer Probleme beitragen. Daß der Schlager diese Flucht in die Innerlichkeit propagiert, diffamiert ihn als Werkzeug regressiver und antiemanzipatorischer Kräfte.

Unüberhörbar ist die Absage an die von politischen und sozialen Konflikten erfüllte Welt. Die Leute werden nicht getröstet, sondern vertröstet. Das hochpolitische an den Texten ist ihr Verweis aufs Unpolitische. Die vielfach pessimistische Einsicht in das Leben, erklärt eine Fülle verführerischer Empfehlungen in Schlagern, das Leben zu nutzen und zu genießen. Das regressive Wunschdenken frustrierter Menschen verhüllt sich hinter der Genußsucht und lärmenden Konsumierung von Zerstreuung. Aber auch einige Lebensregeln und Weisheiten hält der Schlager für uns parat: Glücklich ist derjenige, der einsieht und sich damit abfindet, daß er sein eigenes Leben nicht selber bestimmt.

Trost und Zuspruch sind heute einfach nötig, um schwierige Lebenssituationen zu meistern. In vielfältiger Art wird ausgedrückt, daß gerade finanzieller Besitz angesichts des Wertes von Gefühlen nicht glücklich macht. Bescheidenheit zu verlangen ist eigentlich nicht mehr als recht und billig, wenn man bedenkt, daß die ganze Welt „schön“ ist. Massive Befehle verlangen, daß man an die Macht des Schicksals glaubt, anstatt an die Kraft der eigenen Entscheidung, daß man sein Herz an Träume hängen soll, anstatt an die Realität. Zwar wurden im sogenannten sozialkritischen Schlager ab und zu auch schon reale Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Drogenmißbrauch angesprochen (Am Tag als Conny Kramer starb), jedoch werden diese auf eine so oberflächliche Art und Weise in einem verschleiernden Glanz ohne jegliche Schärfen behandelt, daß am Ende wiederum nur die Flucht in eine unreflektierte heile Welt steht.

Insgesamt betrachtet sind die Inhalte der Schlager wirklichkeitsfremd. Situationen werden durch Idealisierung leicht als unproblematisch hingestellt, was auch die optimistischen Aussagen zum Ausdruck bringen. Sowohl die Vergangenheit wird glorifiziert, als auch die Erfüllung der Hoffnung in die Zukunft projiziert wird. Begegnungen der handelnden Personen spielen sich nicht in einem sozial definierten Raum oder Zusammenhang ab, sondern alles wird dem individuellen Schicksal zugeschrieben. Auf diese Weise trifft der Text in der Identifikation der Hörer mit dem Gesungenen auf alle Fälle zu wie ein Horoskop. Diese Allgemeingültigkeit, wird mit dem Mittel der verschwommenen Beschreibung erreicht, das eine Situation bewußt ungenau skizziert, damit der Hörer seine eigenen Wünsche in den Text legen kann. Nicht das wirkliche Geschehen zählt, sondern sein Gefühlswert.

Bei der Themenwahl der Schlager zeigt sich, daß einige Themen einfach tabu sind. Andere schwierige Situationen als jene, die die Liebe schafft, kennt er nicht; er vermeidet es konkrete Nöte wie Krankheit zu thematisieren. Themen des Schlagers sind weder Familie oder Freunde, ebensowenig wie Politik oder Arbeit. Damit läßt der Schlager die wichtigsten Begebenheiten des Lebenszyklus aus (Geburt und Tod) und auch das öffentliche Leben (Politik und Arbeit) und private Belange werden in ihm nicht thematisiert. Die Reduktion der Nöte und Freuden im Schlagertext auf das Individuum und die Loslösung der privaten Belange von ihren gesellschaftlichen Verknüpfungen fördern einerseits den Glauben des Hörers an eine „Schlagerfamilie“, zu der man in anonymen Kontakt steht, andererseits bleibt die Isolation des einzelnen, der auf den Trost des Schlagers angewiesen ist, real erhalten.

Die Harmonisierungstendenzen in den Texten haben den Hörer dazu gebracht gesellschaftliche Widersprüche zu übersehen. Das politische System hat natürlich auch nichts dagegen, wenn die bestehenden Verhältnisse als lebenswert und unveränderbar dargestellt werden. Schlager und daraus folgend das Bewußtsein der Hörer, stabilisiert eindeutig soziale – und eben auch politische Gegebenheiten. Wie keine andere Ware haben sich Schlagertexte den Bedingungen des kapitalistischen Marktes angepaßt. Die Aufgabe der Texte besteht darin von der Wirklichkeit abzulenken und die bewußte Auseinandersetzung mit ihr zu verhindern; es wäre ja schließlich nicht im Sinne des Schlagers, wenn auf einmal der Ruf nach Veränderung laut würde. Somit hoffe ich doch gezeigt zu haben, daß der Schlager in seiner unpolitischen, wirklichkeitsfremden Art nicht unterschätzt werden darf. Weil Schlager die Lebensbedingungen der Menschen nicht ändern können, entstehen die Wünsche immer wieder neu – und können somit auch immer wieder neu von der Bewußtseinsindustrie ausgebeutet werden. Wie diese Ausbeutung vonstatten geht, verdeutlicht das nächste Kapitel.

III. Die Nutznießer des Schlagers oder „Wir machen einen Star aus dir“

Der Musikmarkt ist durch die gestiegene Freizeit der Menschen ein enormer Umsatzmarkt geworden. Gerade bei Jugendlichen steht die Freizeitbeschäftigung „Musikhören“ ganz oben. Um einen Schlager zum Erfolg zu bringen, reichen heute eine schöne Melodie und ein angemessener Text schon lange nicht mehr aus. Heute müssen Teamwork, Management, Konzerndirektiven, Erfolgskalkulationen, Geschmackskosmetik, Käuferbeeinflussung, Marktstreuung und Werbemaßnahmen gut aufeinander abgestimmt sein – ansonsten hat man keine Chance. Denn verdienen wollen am Schlager viele – insbesondere die Personen, die gerne im Hintergrund die Fäden in der Hand halten: Plattenfirmen, Texter, Komponisten, Verleger etc.

In den Vordergrund stellen diese Leute ganz klar den Interpreten und tun alles, damit er bekannter wird. So wurden häufig Filme nur deshalb gedreht, um die Schlager, die dort eingebaut wurden, bekannter zu machen und höhere Umsätze zu erreichen. Ich denke dabei beispielsweise an „Paukerfilme“ mit Peter Alexander und Heintje. Der Star soll zwei – eigentlich gegensätzliche Eigenschaften – gleichzeitig verkörpern. Er soll einerseits dem Fan so nah sein, daß dieser denken kann: so bin ich auch; andererseits soll sich der Star auch vom Fan abheben, etwas besonderes sein. Deswegen bedient man sich dem Mittel der Imagemontage: Werbung ist alles – nach dem Motto: egal was man über den Star spricht, Hauptsache man spricht über ihn.

Aus Gerd Höllerich wird aus verkaufstechnischen Gründen Roy Black, aus Heinz Georg Kramm wird kurzerhand Heino. Zum neuen Namen bekommen die Stars auch ein festgelegtes äußeres Erscheinungsbild, bestehend aus Kleidung, Frisur und Aussehen – beispielsweise wurde die schwarze Hornbrille von Nana Mouskuri und deren Langhaarfrisur ihr absolutes Markenzeichen. Schließlich erhalten sie eine sogenannte Life story – einen meist erfundenen Lebenslauf verpaßt. Es muß ganz einfach eine festumrissene Persönlichkeit der Interpreten erkennbar sein, mit Hobby, Familie, Lebensgeschichte, Einfamilienhaus und persönlichen Eigenschaften. Politisch äußern dürfen sich die Schlagerstars selbstverständlich nicht, weil einerseits Politik zur gesellschaftlichen Realität gehört und zweitens eindeutige politische Aussagen für diese oder jene Partei, unnötigerweise den Käuferkreis einengen würden.

IV. Welche Reize und Funktionen hat der Schlager für den Rezipienten ?

Wenn man nun gehört hat, welche Gefahren im Schlagerkonsum liegen, muß man sich fragen, weshalb sich dennoch Millionen von Bürgern an solchen trivialen Produkten erfreuen. Irgendeinen Reiz muß er ja schließlich haben. Dazu muß man sich verinnerlichen, daß Musik in unserer heutigen Gesellschaft überall zu finden ist und von uns ständig – bewußt oder unbewußt – wahrgenommen wird. Für viele ist Schlagermusik weit mehr als Geräuschkulisse oder bloße Ablenkung: für viele wird sie zur Erfüllung von Wachträumen, welche die täglich erlebten Frustrationen vergessen lassen. Die Hauptreize des Schlagers liegen in seinem Identi-fikationsangebot, seiner Lebenshilfe, seiner Eigenschaft als Trostspender und der Lebensbewältigung in Traum und Illusion. Bei der Identifikation mit dem Schlagerstar sind insbesondere außermusikalische Merkmale

und Eigenschaften der Stars wichtig; Aussehen, Lebensgewohnheiten oder Ansichten sind meistens die Auslöser für die Verliebtheit der Fans. Aber auch die Stücke selbst müssen vom Text und der Musik her, genau auf das Image des Interpreten abgestimmt werden. Der Schlager befreit den Hörer von seinem Gefühl der Einsamkeit in einer immer unpersönlicher werdenden Welt und gliedert ihn in die Gemeinde der Fans ein. Er hebt zwar die Einsamkeit nicht auf, er vermittelt aber ein Gefühl des Verstandenseins. Alleine dadurch, daß sich der Hörer mit dem Star identifizieren kann, ist er ihm eine Lebenshilfe. Und diese Hilfe hat der Mensch in der heutigen Zeit auch bitter nötig.

Früher wurde der Mensch noch in der Familie oder der Kirche aufgerichtet, doch heute sind diese Institutionen immer mehr überfordert und die Vereinsamung in dieser technisierten Welt schreitet voran. Der Schlager spendet den nötigen Trost, indem er die Einsamkeit übertönt und den Menschen aus dem Alltag entrückt. Dadurch, daß sich die Schlagermusik an den geheimen Wünschen der Verbraucher orientiert, formuliert sie dessen Wachträume. Hier verwischen sich unmerklich Wirklichkeit und Vorstellung, die dem enttäuschten Menschen ein Refugium im Unwahren anbieten. Im Illusionären schafft er ein Ventil, das mit lautstarker Fröhlichkeit oder sentimentaler Innerlichkeit von den Problemen ablenkt und somit vorgaukelt mit Traum und Illusion das Leben bewerkstelligen zu können. Der Schlager hat aber auch noch andere Qualitäten: er dient als Background bei monotonen Arbeiten, als Stimmungsmacher, als Vehikel von Gemeinschaftserlebnissen – vorwiegend zur Unterhaltung eben. Denn Unterhaltung ist es, was die Schlagerrezipienten vorwiegend wollen. Damit der Schlager seine Wirkung in allem Umfang entfalten kann, muß er aber freiwillig und bewußt vom Rezipienten aufgenommen werden. Wie steht es nun aber mit Situationen, in denen wir den Schlager nicht bewußt, sondern unbewußt aufnehmen? Verfehlt er dort seine Wirkung oder beeinflußt er uns vielleicht sogar ungewollt?

V. Die Wirkung des Schlagers: Seelentröster oder Manipulator?

Was, wie und ob Schlager langfristig wirken, ist empirisch weitgehend noch unerforscht. Klar ist aber, daß sie den Hörer über seine realen materiellen und immateriellen Lebenschancen hinwegtrösten. Schlager dienen dem Harmoniebedürfnis der Menschen, erretten ihn vor der Langeweile der Freizeit und lenken ihn von Schrecken und Ängsten ab (beispielsweise beim Arztbesuch im Wartezimmer). Die Wirkungen des Schlager sind laut Köhne exakt kalkulierbar, selbst wenn er nur zur Berieselung im Hintergrund eingesetzt wird. Schlager können beim Einsatz in Kaufhäusern den Kaufreiz verstärken oder in Bierzelten regelrecht Fröhlichkeit verordnen. Daß leichte Musik auch zu politischen Zwecken mißbraucht werden kann, zeigten die Propagandisten des Dritten Reichs. Sojka konnte in einer Untersuchung jener Zeit ganz klar eine weltanschauliche Beeinflussung durch die Musik feststellen.

Die Sprache wurde auch in den Liedern uniformiert und gewann formelhaften Charakter. Der ständige Umgang mit diesen Wendungen führte dazu, daß sie sich in’s Bewußtsein der Menschen „einschleiften“ und zum Maßstab für die Beurteilung von Recht und Unrecht wurden. Die Leute damals wurden insbesondere gefühlsmäßig erfaßt und die Möglichkeit beispielsweise ein Lied gemeinsam mit vielen anderen zu singen, stärkte auch das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Parallelen zum Schlager heute sind kaum übersehbar. Auch hier ist der Sprachschatz auf wenige Begriffe reduziert, die ständig wiederholt werden und der Hörer wird auch von ihm in erster Linie gefühlsmäßig erfaßt. Der Hörer kann sich nur schwer den leichten und äußerst einprägsamen Melodien entziehen – sie sind für ihn „Balsam für die Seele“. Beobachtet man Schlagersendungen im Fernsehen, bei denen das Publikum bei jedem Lied in rhytmisches Klatschen ausbricht, so muß doch auch hier ein psychologischer Effekt zugrunde liegen.

Hier fühlen sich die Schlagerfreunde wohl, hier ist man unter sich. Man ist eine große Familie und gehört einfach zusammen. Dem Schlagerkonsumenten werden die Geschichten und lebenskundlichen Ratschläge über konfliktlose Beziehungen und Märchen vom Schönen und Guten so lange vorgelogen, bis er sie bereitwillig glaubt. Die Schlager regen zwar durch ihre Assoziationen und Reizworte die Phantasie des Hörers an und verleiten ihn auch zum Träumen, doch erschöpft sich deren Spektrum auf die beschränkte Schlagerwelt. Er braucht niemals selbst eigenes Potential zu aktivieren, denn die Musikindustrie versorgt ihn gerne mit immer neuen Schlagern, mit denen er seinen grauen Alltag vergessen kann.

Schlußpunkt

Gerade wenn man weiß, daß Schlager durchaus manipulativen und politischen Charakter besitzten und von der Musikindustrie lediglich aus Kommerzgründen produziert werden, stellt sich einem die Frage, wie und ob man diesem „Alptraum“ entgegenwirken kann. Wer glaubt, daß die Musikindustrie jemals vom Erfolgsrezept Schlager freiwillig abrücken wird, solange sie dadurch Millionen verdienen kann, befindet sich auf dem Holzweg. Von daher wird sich, wenn sich schon seit 1930 nichts mehr gravierendes im Schlagerbereich geändert hat, auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nichts ändern. Doch wer will auch allen ernstes alten, einsamen Menschen ihre letzte Illusion einer heilen Welt in Form des Schlagerglücks rauben? Und würde man sich mit einem „Schlagerverbot“ nicht in ähnlich abwegige Sphären begeben, wie einst die zensurausübenden Propagandisten des Dritten Reiches?

Musik ist nun mal Geschmackssache und äußerst subjektiv und wenn manche Menschen gerne in, von der Musikindustrie gefertigte, Traumwelten entfliehen, dann sind sie im Grunde genommen bemittleidenswerte Geschöpfe. Wenn jetzt aber einige Kids die Schlagerfans nur mitleidig belächeln, sollten sie sich darüber im klaren sein, daß sie von der Musikindustrie auf fast die gleiche Weise ausgenutzt werden. Die Plattenfirmen bauen Stars auf, verpassen ihnen ein Image, nachdem sie sich am Markt informiert haben, was sich gerade gut verkaufen läßt und schon werden die neuen Rockstars kreiert. Ihnen wird zwar kein Saubermannimage verpaßt, sondern ein wildes Äußeres, aber bei genauerem Betrachten fällt es nun schon verdammt schwer, die Unterschiede der beiden Zielgruppen „Schlagerfans“ und beispielsweise „Rockanhänger“ herauszufinden.

Und wer jetzt einwendet Rockmusiker hätten die besseren Texte, so kann ich denen nur entgegnen, daß das erstens keine Kunst ist und zweitens Bands wie U2, die sich mit Themen wie dem Krieg auseinandersetzen, dies auch nur auf eine oberflächliche gewinnbringende, pseudosoziale Art tun. Auch Schlagerstars wie die Schürzenjäger thematisieren den Krieg, jedoch in einer zugegebenermaßen noch plumperen Art, wie dies kommerzielle Rockbands tun. Aber beide scheuen nicht davor zurück einen finanziellen Gewinn aus der Not anderer Leute zu schlagen. Sie sind eben beide nur pseudo-sozialkritisch, nur fällt das eben den meisten Leuten nicht auf. Gut Lachen hat in beiden Fällen die Musikindustrie.

Damit am Ende meiner kleinen Reise durch die Schlagerwelt aber kein – ob der Schlechtigkeit der Musikindustrie – frustrierter Leser zurückgelassen wird, kann an dieser Stelle glaubhaft versichert werden, daß es durchaus noch Musiker gibt, die sich nicht an die Musikindustrie verkaufen und somit ihre künstlerische Freiheit bewahren. In welchen Musikrichtungen man diese Musiker findet, muß ich dem Leser diese Heftes nicht erläutern. Solange einige Bands im Untergrund noch „ehrliche“ Texte und Musik machen, die sich auf das reale Leben beziehen und dadurch die Leute für die wirlichen Probleme sensibilisieren, wird es auch immer Leute geben, die den Mißständen unserer Zeit aktiv entgegentreten. Hoffen wir, daß dies so bleibt und die böse Musikindustrie am Ende der Verlierer ist. Optimismus tut Not.

Text: Stefan Kleiber

Intro: dolf

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