April 1st, 2020

Nikt Nic Nie Wie Records aus # 200/02-2020

Posted in interview by Jan

Mehr als Entertainment für die Ausgestoßenen: Nikt Nic Nie Wie

Als jemand, der im tiefsten Westen Deutschlands aufgewachsen ist, war Polen für mich immer sehr weit weg. Das wurde mir bewusst, als wir 2014 einen Urlaub im östlichen Nachbarland planten, das nun in Berlin lebend nur noch wenige Minuten hinter der Stadtgrenze fast schon begann. Fast nichts wusste ich über die örtliche Punk- und Hardcore-Szene, abgesehen von einzelnen Songs von Bands wie Post Regiment, Alians oder Dezerter. The Fight hatte ich mal live gesehen und eine Single von ihnen erworben. Das war es aber schon fast. Bei unseren Besuchen in Szczecin, Gdansk, Gdynia oder Poznan suchten wir dann nach Punkrock in Plattenläden (mäßig erfolgreich) und auf Trödelmärkten (etwas erfolgreicher).

Zu Hause hörten wir uns durch Bands wie Dezerter, Armia oder Big Cyc. In Büchern und Texten von Alexander Pehlemann über Punk in Osteuropa konnte ich weitere spannende Hinweise finden und suchte in einigen Plattenläden und Mailordern in Deutschland nach polnischen Punkbands. Semi-erfolgreich, was mich überraschte.

Erst beim Plattenladen „Real Deal“ (R.I.P.) in der Gneisenau Straße in Kreuzberg wurde ich richtig fündig. Leider wurde der Plattenladen kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag Opfer der Gentrifizierung und heute ist, meines Wissens, ein Café an seiner Stelle. Von Juni 1997 an hielt sich Real Deal in Kreuzberg. Ein Unicat, ein aus der Zeit gefallener Laden, der einige Platten hatte, die ich seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr irgendwo habe stehen gesehen. Etwas ziellos suchte ich vor mich hin und kaufte eine Accidente-Platte. Irgendwie kamen wir ins Gespräch und ich erwähnte, dass ich nach spannenden polnischen Bands suchen würde.

Sofort wurde ich auf eine kleine Kiste verwiesen. Mir wurde mit Nachdruck empfohlen diese eine Platte anzutesten – El Banda: Skutki Uboczne. Da mein Geschmack flüchtig bekannt war, schließlich hielt ich mich hier nie lange bei Sin Dios oder The Annoyed auf, dafür umso länger bei melodischem Punk, nahm ich die Doppel-LP von El Banda in die Hand, sah sie mir an und bei einem doch durchaus fairen Preis nahm ich sie einfach ungehört mit. No risk, no … kennt ihr. Zu Hause legte ich sie auf und war sofort verliebt. Natürlich war mir schon zuvor klar, dass es in Polen eine große Szene gibt, eine vielfältige, engagierte, spannende und schon lange existierende Punk und Hardcore-Szene. Doch über die Jahre fehlte mir einfach ein konkreterer Bezugspunkt. Weniger Zeit später sah ich noch The Past, eine DarkWave-Punkband aus Polen und mein Interesse war endgültig geweckt.

Auf ein Label traf ich bei meiner Odyssee, meiner Recherche zwangsläufig immer wieder: Nikt Nic Nie Wie. Neben Pasazer und Refuse Records wohl das bekannteste, aktuell noch aktive Label. Da ich in dem NNNW Distro einen ganzen Stapel geiler osteuropäischer Platten fand, kamen wir in Kontakt. Also reifte schnell der Entschluss, mal nachzufragen, ob Michal Interesse an einem Interview hatte. Die Antwort kam schnell, direkt mit der Einschränkung: Aber nur wenn nicht die gleichen Fragen gestellt werden, die er schon dem Plastic Bomb oder anderen ausländischen Zines beantwortet hatte. Kein Problem, also flugs ein paar Fragen geschickt und ein langes hin und her entstand.

***

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast! Nikt Nic Nie Wie (zu Deutsch: Niemand weiß etwas) ist einer der am besten klingenden Label-Namen, auch wenn ich etwas Zeit gebraucht habe, um ihn zu behalten und zu verstehen. Woher kommt der Name? Ist es ein Zitat?
Vielen Dank für dein Interesse am Label! Der Name war als Titel für das Zine gedacht, das wir 1989 veröffentlicht haben. Es war eine der Namensideen, die mir damals einfielen, und wir haben ihn am Ende gewählt. Dann hatte jede Ausgabe unseres Fanzines einen anderen Namen, wie „Religion For Sale“ und „Panta Rhei“. Letzterer blieb immerhin der Name für zweieinhalb Ausgaben. Keine sehr clevere Marketingstrategie, oder?! Aber als wir einen Namen für das Label brauchten, kehrten wir einfach zum Original zurück. Es ist kein Zitat, sondern eine sarkastische Bemerkung über die Situation unserer traurigen Gesellschaft am Rande eines politischen Systemwechsels.

Ich habe jemanden gehört, der es mit dem klassischen Discharge-Titel „Hear Nothing …“ vergleicht, aber das war keine absichtliche Intention. In Polen sagte man immer: „Niemand weiß etwas – wie ein tschechischer Film“, was die kritische Reaktion auf die Handlung eines typischen, tschechischen Films in dieser grauen Ära war. (Ich habe es nicht ganz verstanden, erinnere mich aber, dass ich als Kind und Jugendlicher großartige tschechische Filme gesehen habe. Es gab wirklich einen tschechischen Film mit polnischem Titel, der „Nikt nic nie wie“ lautete, was mir allerdings damals nicht bekannt war).

Als wir unsere erste Veröffentlichung im berühmten tschechischen Presswerk bei Prag in Auftrag gaben, mussten wir den Hauptgeschäftsführer treffen. Es war die verrückte Zeit der Transformation, also wurden Punx dem „Verantwortlichen“ des Sekretariats angekündigt. Er schaute in die Unterlagen und fand den Namen. Er lächelte sofort und sagte: „In Ordnung, Nikt Nic Nie Wie, der tschechische Film!“, erzählte uns anschließend von seinen polnischen Wurzeln und die Dinge gerieten viel leichter für uns ins Rollen …

Das klingt sehr gut. Wie viele Leute stehen hinter dem Label?
Von Anfang an waren wir nur zwei Personen. Mein Kumpel Wolek und ich.

Ihr habt 1989 als Tape-Label angefangen. Herzlichen Glückwunsch, dieses Jahr (das Interview wurde 2019 geführt) wird Euer Label also 30 Jahre! 1989 war eine Zeit massiver Veränderungen in den politischen Systemen in Europa, insbesondere in Osteuropa. Was war damals Deine Motivation ein Label zu gründen?
Wir wollten die Leute über die Musik informieren, die uns gefiel. Kein staatliches Unternehmen würde sich jemals für eine obskure Band aus einer langweiligen Industriestadt interessieren. (Zumindest war es das, was wir dachten). Private Label gab es nur wenige und sie beschäftigten sich mit Bootleging oder der Veröffentlichung jeglicher „pushable“ Art von Musik. Wir begannen mit Tapes, die zu Hause mit Doppelkassettendecks kopiert wurden und als der Eiserne Vorhang fiel, trafen wir einen Typen aus der Tschechoslowakei, Martin, der später erfolgreich sein eigenes Label gründete, Malarie Records. Er sagte uns irgendwann, dass es diese riesige staatliche Firma gäbe, die anfing, Aufträge von Privatunternehmen anzunehmen und wahrscheinlich bereit sei das Vinyl für uns pressen zu lassen. Also wollten wir die Ersten in diesem Land sein, um diesen ersten kleinen Schritt auf für uns unbekannten Boden zu machen.

Was war die Reaktion von Bands, Freund*innen, Familie, als du angefangen hast?
Die Bands waren genauso stark begeistert wie wir selbst. Und sie hatten ebenso wie wir keinerlei Erfahrung. Zuerst boten wir zwei Bands die Veröffentlichung einer Platte an, die für die erste Welle des polnischen DIY-HC-Punks der späten 1980er Jahre sehr wichtig waren: Die eine Band war Apatia aus Poznan, die zuvor eine 7″ in der Schweiz veröffentlicht hatten. Diese Single hatten sie als HCP aufgenommen, das war Zweidrittel dessen, was etwas später Apatia wurde. Sie hatten bis dato immerhin etwas „Studio-Erfahrung“. Die andere Band war Inkwizycja aus Krakow. Drei von ihnen waren vorher in U.O.M., eine sehr inspirierende Band, die allerdings nie Studio-Material aufgenommen hatte. Inkwizycja schienen sehr verzweifelt zu sein, den gleichen Fehler nicht zu wiederholen und hatten bereits ein Demo in sehr rauer Qualität draußen.

Unsere Freund*innen waren insgesamt sehr unterstützend. Niemand wusste wirklich, worum es ging. Die Familien dachten, wir wären verrückt und wir würden bald das ganze Geld verlieren. Aber wir hatten auch etwas Unterstützung von ihnen. Es war mit Sicherheit eine interessante Zeit.

Du schriebst, dass Eure erste veröffentlichte von Inkwizycja war. Es war gleichzeitig auch die erste unabhängige Punk-Platte in Polen überhaupt. Es scheint, dass die Band immer noch aktiv ist. Seid ihr immer noch im Kontakt? Was hat Dich gereizt, gerade diese Platte zu veröffentlichen?
Es gab in Polen schon Punk-Platten, die in den 1980er Jahren auf staatlichen Labels veröffentlicht wurden. Damals hatten Bands wie Dezerter oder Armia bereits vor Zehntausenden von Menschen gespielt, zum Beispiel auf dem Jarocin-Festival. Und, das war sehr wichtig, da sie aus Warschau kamen, half es ihnen „die richtigen Leute“ zu kennen. Wir hingegen waren einige Jahre jünger und wollten ein Statement abgeben. Die frische DIY-Punk-Szene war unser natürliches Habitat. Und wie ich vorhin schon sagte, Inkwizycja waren eine hervorragende Band. Sie waren originell und spielten überall live gegen das Geld für Zugtickets. Wir wurden schnell Freunde.

Ich half ihnen, die erste Europatournee 1991 zu arrangieren, die sie leider absagen mussten. Zu der Zeit begannen ihre Besetzungsprobleme, die sie jahrelang verlangsamten. Aber die Band löste sich nie auf und nahm Mitte der 1990er Jahre einige Songs auf, die wir als 7“ veröffentlichten und als Kassette mit Poesie ihres Sängers auf der anderen Seite. Dann gab es weitere Besetzungswechsel, persönliche Probleme, bis zu ihrer Rückkehr im Jahr 2001 mit ihrem „Stare fotografie“-Album („Old Photos“). Danach war wieder Stille für einige Zeit. Irgendwann Anfang 2010 gelang es ihnen schließlich, ein stabiles Line-Up zu bilden. Sie begannen wieder Konzerte zu spielen und wir beschlossen, ihre Debüt-LP neu zu veröffentlichen. Sie haben dann eine weitere Platte selbst gemacht und eine weitere Phase des Line-Up-Wechsels durchlaufen.

In diesem Jahr (2019) haben wir einige neue Sachen von ihnen herausgebracht. Im April 2019 spielten sie ihre XXX (30) Jubiläumsshow in der DIY-Venue „Warsztat“ in ihrer Heimatstadt. Schaut Euch den Laden an, wenn ihr in Krakow seid. Das Jubiläumsalbum mit modernen Versionen ihrer vier Klassiker und drei neuen Songs kam heraus. Der Titel „XXX“ sagt alles.

Ich stelle mir gerade die Anfangszeit ja sehr schwer vor. Wie hast du diese ersten Platten produziert? Ich nehme an, niemand war da, um dir irgendwelche Tipps und guten Ratschläge zu geben?
Wir wussten vollkommen gar nichts über den Prozess. Alles war neu, wir haben die Cover selbst geschnitten und geklebt. Die Master-Bänder oder die Layouts ins Presswerk zu bekommen bedeutete damals mit dem Zug nach Prag zu fahren. Als wir tatsächlich die fertigen Platten abholten, hatten wir keine Ahnung, dass wir beim Zoll an der Grenze viele Papiere ausfüllen mussten. Also waren wir gezwungen von der Grenze wieder zurückzufahren. Ein Teil dieser verrückten Geschichte ist in dem Inlay zu einer Neuauflage der ersten Inkwizycja-Platte verewigt.

Wir konnten uns damals nicht vorstellen, dass in einer nahen Zukunft der ganze Prozess mit einem Computer möglich sein würde, ohne Dein eigenes Schlafzimmer zu verlassen…. Ich hatte zum Zeitpunkt der Erstellung der ersten Layouts überhaupt keinen Computer. Weder bei der Inkwizycja Platte, noch bei den SKTC oder Ketzerei / Meatfly Split Platten. Ich glaube, das erste Layout, das ich teilweise mit meinem eigenen Computer vorbereitet habe, war für die Apatia Debüt-CD, Kassette und deren „Punk Floyd“ 7“, die mehr oder weniger gleichzeitig erschienen [Anm. Mika: Das war 1993, das siebte Release von NNNW].

In einem Interview sagt Robert von Refuse Records, dass NNNW den Hardcore in Polen auf ein neues Niveau gebracht habe. Er betont, wie wichtig Euer Label dafür war Menschen zusammenzubringen und Netzwerke aufzubauen. Was hat sich von den Anfängen bis heute verändert? Worin besteht der Hauptunterschied? Was war damals besser, was ist jetzt besser?
Es gab sicherlich ein paar Labels, die diese ganze Sache ausgelöst haben. Qqryq aus Warschau, die DOA- und MDC-Alben veröffentlichten, aber vor allem alle Post-Regiment-Records, wurde wesentlich ernsthafter betrieben. Sie hatten ein Büro, stellten Leute ein (z.B. den jungen Robert Refuse), aber ihr Hintergrund war immer noch DIY. Antena Krzyku war sehr wichtig als Zine und Band-Label, stellte dann aber für einige Zeit alle Aktivitäten ein. Sie sind jetzt wieder aktiv. Wir waren nur Teil der Bewegung, die in den 1990er Jahren zu einer Lawine von DIY-Labels führte. Aber wir hatten viel Spaß, reisten viel, trafen Leute, halfen Bands und bekamen viel Hilfe von guten Leuten. Ich würde lieber sagen, die ganze Szene war das, was Hardcore oder Punk verändert hat. Für einige Zeit war es viel mehr als Entertainment für die Ausgestoßenen. Und viele wichtige Initiativen haben ihre Wurzeln in dieser Zeit.

30 Jahre später scheint es eine ganz andere Realität zu sein. Aber es mag so aussehen, denn ich betrachte die Welt nicht mehr mit den Augen eines 20-jährigen Träumers. Die Menschen haben in der vergangenen Zeit viel gelernt, denn die „neue Generation“ mag es einfacher haben. Ich hoffe, sie können die Freiheit so aufregend finden, wie sie für uns war, und nicht nur versuchen, das zu kopieren, was einst aufregend und frisch war.

Denn das würde für mich keinen Sinn machen, wenn Leute 77er-Punk, den Discharge-Sound, 80er Jahre Hardcore oder was auch immer mehrere Jahrzehnte später nur noch recyceln. Und – Schock, Horror!!! – Tragedy waren vor fast zwei Jahrzehnten die inspirierendste Band überhaupt, das heutige Klonen von „Neo Crust“ für alle Zeiten ist hingegen ziemlich erbärmlich.

Am Ende bin ich nicht derjenige, der den „guten alten Zeiten“ nachtrauert. Ich vermisse die abenteuerlichen Ambitionen in der Szene. Deshalb mag ich verrückte, wilde Bands, wie The Kurws, Santa Irena, Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp.

Bei den Recherchen bin ich auf einen Wikipedia-Eintrag gestoßen, der besagt, dass Euer Label-Motto zu Beginn lautete: Podk?adamy nogi tym, którzy nie chc? o nas s?ysze? (zu Deutsch: Wir setzen auf diejenigen, die nicht von uns hören wollen). Was bedeutet das? Was wolltest ihr damit sagen?
Es ist eine Zeile aus einem Song von ULICA, einer Band aus Bytom (Beuthen), wo wir mit dem Label begannen. Es fasst mein Verständnis von Punk-Attitüde zusammen: Wir machen das Leben für diejenigen schwieriger, die unsere Existenz nicht akzeptieren. Und dann: Jede*r kann seine/ihre Ebene wählen, das so zu leben. Eine*r würde aussteigen, ein*e andere*r würde Steuern vermeiden, seine/ihre Ernährung ändern oder einfach den Mittelfinger in Richtung sozialer Regeln (und Rollen) zeigen. Und noch ein*e weitere*r würde helfen, den Soundtrack dieser Rebellion zu verbreiten.

Ihr veröffentlicht neue Bands, alte Bands und Platten, die meisten davon aus Polen, aber auch internationale und europäische Bands. Hast du einen geheimen Fokus oder veröffentlicht ihr einfach nur, was Euch gefällt?
Die ganze Sache begann mit Freund*innen, dann erweiterte sich alles auf Brieffreund*innen. In den 1980er und frühen 1990er Jahren kommunizierten Punks mit Schneckenpost (Briefe und Postkarten), tauschten weltweit Platten, Zines und Tapes aus. Ich war in Kontakt mit Kalv von Heresy und fragte, ob sie daran interessiert seien, ihre Aufnahmen in Polen zu vertreiben. Also veröffentlichten wir schließlich die Heresy / Meatfly Split LP. Wir waren auch beeindruckt von So Much Hate, deren ersten beiden Platten, haben sie für ein Fanzine interviewt und später „Seein‘ Red“ auf CD mitveröffentlicht sowie die Kassette gemacht, genau so ging es dann weiter mit „Lies“.

Einige Beziehungen entstanden als wir halfen Konzerte für Bands zu organisieren, z.B. Resist, Oi Polloi, Sabot, Trottel, Active Minds, Dog Faced Hermans, Under The Gun, His Hero Is Gone oder Los Crudos. Dann begannen wir, Crass und Subhumans Releases zu vertreiben und veröffentlichten dann schließlich ihre Alben auf Kassette. Wir haben Dezerter, die für uns eine große Inspiration waren, gebeten, die 7“ zum zehnjährigen Jubiläum für sie zu veröffentlichen und überraschenderweise haben sie zugestimmt. Jetzt ist es 25 Jahre später, sie sind immer noch aktiv und haben noch immer Wichtiges zu sagen. Mit einigen Bands wurden wir enge Freunde, mit anderen haben wir uns nie getroffen.

Es gab keinen „Schlüssel“, manchmal gefiel uns nur die Musik. Bands wie Throng or Thing hatten einen völlig abweichenden Stil, aber die gemeinsame Grundlage war: Wir mochten ihren Sound. Manchmal war es ein Freund, der mit der Band zu tun hatte und wir wollten helfen. Oder ich ging zu einem Festival, sah Berlins Family Man auf der Bühne und war so beeindruckt von ihrer schieren Energie, dass ich sie fragte, ob sie möchten, dass wir ihre CD veröffentlichen … Du siehst, dass es eine Vielzahl von Stilen und Hintergründen gibt. Ein bisschen Chaos, wie allgemein in der Natur … Kein Geheimnis, was auch bedeutet, dass es keinen Kult, keine Meister geben wird….

In der Vergangenheit wurden 10.000e Exemplare von Dezerter-Tonträgern verkauft. Klar, diese hohen Zahlen sind heute nicht mehr möglich und die Verkaufszahlen sind stark gesunken. Wie überlebt man das als Label? Wie bringen ihr die Platten an die Leute? Wie wichtig ist für Euch ein internationaler Austausch?
Nun, die erste Dezerter Studio-LP wurde aufgrund von Zensurvorschriften in einer begrenzten Auflage gepresst, nämlich 5.000 Stück. Und ihre 7“ von 1983 soll in einer Auflage von 35.000 [!] Exemplaren gepresst worden sein. Aber einige Gerüchte besagen, dass ein Teil der Pressung absichtlich von den Behörden zerstört wurde. In den letzten Jahren wurde der Großteil des Dezerter Backkatalogs auf Vinyl wiederveröffentlicht. Doch ich denke, dass nur die „Underground Out of Poland“-Pressungen über 1000 Exemplare umfassen. Und mit neueren Bands?

Wir sind eines der wenigen polnischen Punk / Hardcore-Labels, das mindestens 500 Kopien von jeder Veröffentlichung herausbringt. Es gibt tatsächlich heutzutage einige Veröffentlichungen in einer Auflage von 100 Stück. Als wir letztes Jahr ein paar Doppel-LP-Veröffentlichungen machten, hatte ich Schwierigkeiten, die Rechnungen des Labels zu bezahlen. Das wäre nicht möglich gewesen, ohne das unterstützende Gehalt aus meinem alltäglichen Job.

Die meisten Platten werden direkt von den Bands oder über den Versandhandel verkauft („Mailorder“ beschreibt ja in der antiken Welt den E-Shop ohne Computer). Festivals, bei denen man einen Stand machen kann, helfen ein wenig. Und wir tauschen und handeln immer noch, obwohl es bei den hohen Portopreisen und dem allgemeinen Desinteresse an kleineren, unbekannteren Bands schwierig wird. Und uns auch manchmal einfach nur die Zeit fehlt, das alles zu arrangieren. In den 1990er Jahren waren wir mit kleinen Labels aus Südamerika, Asien, natürlich Europa und Nordamerika in Kontakt und tauschten Platten. Heutzutage ist das eine Seltenheit.

Aber vor einigen Jahren traf ich einen Mann aus Buffalo, NY, der ein langjähriger Freund eines Freundes ist. Und wir sehen uns vielleicht einmal im Jahr und tauschen Musik aus. So habe ich Zugang zu frischen Aufnahmen aus Buffalo, NY, und er bekommt einige obskure polnische Kassetten und Platten. Also zur Beantwortung Deiner Frage: Ja, ich denke, dass der internationale Austausch wichtig ist, aber darauf kann ich mich bei den Label-Aktivitäten kaum konzentrieren.

Polen hat eine lange Geschichte von großen Punk-Bands. Dezerter, Brygada Kryzys, Alians, Armia, Abaddon, Moskwa, um nur einige zu nennen. Wie war es, später einige dieser alten Punk und Hardcore-Bands zu veröffentlichen?
Ein Teil meines Traums, ein Label zu machen, wurde durch die Veröffentlichung von Aufnahmen von Bands wie Dezerter, Abaddon, Crass, Subhumans, Crucifix, Chumbawamba erfüllt. Sie haben mich geformt, als ich in die einzigartige Welt des Punks einstieg. Es war eine große Ehre, das NNNW-Logo auf diesen Kassetten / Schallplatten zu sehen. Darüber hinaus war es immer ein faires Geschäft, denn die Bands zeigten Verständnis dafür, was wir tun und auf welchem Niveau wir arbeiten.

Alians hingegen waren sogar Freunde. Also waren deren Veröffentlichungen eine andere Geschichte, eher wie eine natürliche Konsequenz. Es gibt eine Geschichte, die nicht so weit verbreitet ist: Wir sollten auch eine 7“ von Armia heraus bringen. Das war zu der gleichen Zeit als wir die Jubiläums-7“ von Dezerter veröffentlicht haben. Armia nahmen die Single auf und gaben das Masterband einem Freund, der das Tape dann allerdings im Zug verloren hat. Kurze Zeit später veränderten sich die Texte von Armia in eine sehr seltsame Richtung. Sie wurden im religiösen Sinne offen evangelikal. Also ist es vielleicht besser, dass das verdammte Masterband verloren ging…..

Du sagtest in einem der Interviews, die ich gelesen habe, dass deine erste Show 1981 Kryzys und Phantom war. Wo war es? Wie war die Show? An was kannst du dich erinnern und was hat dich so sehr angezogen, dass du ein Punk wurdest?
Ich habe in einer ziemlich großen Industriestadt in Polish-Silesia (Oberschlesien) gelebt. Es gab ein staatlich (oder städtisch?) geführtes Kulturhaus, das Rockkonzerte organisierte. Ich interessierte mich schon ziemlich früh für Musik und ein älterer Freund nahm mich mit zu diesem Konzert. Eine Art-Rock-Band spielte, etwas Metal und halt zwei frühe, polnische Punkbands. Das war natürlich ein Wahnsinn, was soll ich sonst sagen …. Viele der Leser*innen haben bestimmt ähnliche Erfahrungen, schätze ich. Ich hatte damals von Punk gehört (und der Name Kryzys war nicht unbekannt), hörte Sex Pistols oder Dead Kennedys, aber das ganze live zu sehen war eine ganze andere Sache.

Der Saal war voll (mit einigen Hundert?), es gab reguläre Sitzplätze im Theaterstil, aber die Leute drehten ab, begannen vor den Stühlen zu tanzen, wurden auf die Bühne eingeladen. Ich war froh, in dieser Menge zu sein. Die Aufnahme vom Konzert wurde in den 1990er Jahren, glaube ich, als Bootleg-Tape veröffentlicht.

Obwohl die Musik nicht sehr hart war, war Kryzys im Grunde genommen ein Klon von The Pop Group, eine Band, die ich sehr spät entdeckte. Ihre Energie, an die ich mich erinnere, war das, was mich in dieser frühen Phase anzog. Und ihr Gitarrist, der 2018 leider gestorben ist, war eine so wichtige Person: Brygada Kryzys, Armia, Izrael, Falarek sind nur einige der Bands, die ohne ihn nicht so gut wären. Das Tonstudio (Gold Rock), das er Anfang der 90er Jahre leitete, ermöglichte es zahlreichen jungen Bands, ihre Alben aufzunehmen. Dafür gebührt Robert ewiger Respekt!

Polen hatte in der Vergangenheit eine riesige Szene (und es fühlt sich an, als gäbe es immer noch so viele tolle Bands). Zur gleichen Zeit gab es das Kriegsrecht ab Anfang der 1980er. Wie groß war die Gefahr für polnische Punks, in Konflikt mit Polizei und Behörden zu geraten? Wie hast du es geschafft, zu überleben und so viele tolle Bands zu entdecken? Warum hat das staatliche (Plattenlabel) Platten von Dezerter oder Brygada Kryzys veröffentlicht?
In Polen leben vierzig Millionen Menschen. Seine Szene ist auch irgendwie groß. In den frühen 1980er Jahren wurde Punk zu einem natürlichen Kanal für Rebellion, die Adoleszenz gemischt mit der politischen Situation hinterließ den Eindruck, dass Punk so massiv ist. Das Jarocin-Festival, das als Treffpunkt für Tausende von Ausgestoßenen oder Freaks des Landes diente – you name it – schuf die Illusion einer riesigen Bewegung. Es waren sehr graue Jahre: kein Zugang zu Musik, Literatur, Filmen. Rockkonzerte waren daher sehr beliebt. Und für einige Zeit war alternative Musik, wie Punk, nur ein Teil dieser Rock-Sache. Die Konzerte fanden an mehr oder weniger stark staatlich kontrollierten Veranstaltungsorte, wie Studentenclubs, statt. Jedes Mal benötigten die Organisatoren eine Genehmigung der Zensoren.

Unabhängige Konzerte fanden in der Tat regelmäßig statt. Aber die Organisatoren waren Punks und mussten im Rahmen der Agenda einer Jugendorganisation oder des Clubs selbst handeln (und jemand wurde für seine Arbeit sicher bezahlt). Ein Punk (oder ein Hippie, Rasta, Metalhead) zu sein, bedeutete Probleme in der Schule, bei der Arbeit und auf der Straße. Polizei auf der einen Seite – ich erinnere mich daran, dass mein Ausweis mehr als zehn Mal am Tag überprüft wurde – durchschnittliche Hinterwäldler auf der anderen Seite. Anfang 1984 besuchten Punks aus der gesamten Gegend, in der ich lebte, eine lokale Band (Smierc Kliniczna) in einem der Studentenclubs.

Die Polizei organisierte eine Jagd auf die Besucher*innen. Der Club befand sich auf einem der Hauptplätze von Gliwice, riesige Lastwagen wurden auf der Seite geparkt, solche, in denen Soldaten hereinkommen, und dann wurden Punks verfolgt, hinein geschoben, kontrolliert, ihrer Nietengürtel und Armbänder gestohlen, in Gewahrsam genommen und bedroht. Das hat mir persönlich dahingehend geholfen, meine Einstellung zur Autorität zu prägen.

Im Gegensatz zu Ostdeutschland oder Tschechien wurden die Menschen allerdings nicht ins Gefängnis gesteckt (es sei denn, sie weigerten sich, der Armee beizutreten), in die Psychiatrie verfrachtet (wie in Russland), aber dennoch war diese Haltung der Mächtigen sehr gesund, um eine Positionierung gegenüber den staatlichen Institutionen zu schaffen. Und die Bands hatten etwas Treibstoff, etwas, worüber man schreiben und wütend sein konnte. Natürlich bin ich jetzt gerade sarkastisch bei diesen Erinnerungen, aber vielleicht ist das wirklich ein Teil der Erklärung?

Auf der anderen Seite wurden einige Punk-Platten auf Staatslabels veröffentlicht. Das ganze System funktionierte halt so. Die Mehrheit der Menschen war in der „kommunistischen“ Partei, aber waren sie wirklich Kommunisten? Oder nur Opportunisten? Brygada Kryzys Platte war das Ergebnis eines Experiments zur Überprüfung der neuen Studioausrüstung. Armia und Dezerter waren tolle Bands und das waren nicht nur Punks, die das merkten. Wie ich bereits erwähnt habe – aus der Landeshauptstadt zu kommen bedeutet auch mehr Möglichkeiten zu haben …

Mit Dezerter, Crass, Chumbawamba, MDC, OiPolloi, Alians, So much Hate, Citizen Fish hast du viele Platten / Kassetten veröffentlicht, die heute Klassiker sind! Wie bist du mit diesen Bands in Kontakt gekommen? Wie hast Du sie ausgewählt? Was war der inspirierendste Kontakt?
Den ersten Teil der Frage habe ich ja schon beantwortet. Als es einfacher wurde, eine Kassette zu veröffentlichen, kontaktierten wir einige neue oder alte Bands, die uns persönlich gefielen. Es gab Pläne, weitere Tapes zu veröffentlichen, die leider nie aufgegangen sind; Witchknot, Archbishop Kebab, Badgewearer, Inner Terrestrials. In letzter Zeit haben wir uns an einige Bands gewandt, um ihre „Diskographie“-Aufnahmen zu arrangieren. Das hat bei Quarantine oder Sanctus Iuda funktioniert, bei anderen wiederum nicht. Schwer zu sagen wer „die Inspirierendsten“ waren, aber ich mag es, mit vielen der von uns veröffentlichten Bands in Kontakt zu bleiben. Ich habe mich mit einigen Leuten nach (und nicht vor) der Veröffentlichung ihrer Platte eng angefreundet. Das zählt.

Ich schätze, zusammen mit Pasazer ist Nikt Nic Nie Wie das bekannteste Label aus Polen. Manchmal arbeitet Ihr zusammen (Dezerter-Release) und auch Kassetten wechseln zwischen beiden Labels. NNNW wurde in einer alten Ausgabe des Pasazer-Fanzines vorgestellt und ich las, dass Ihr das Zine und das Label unterstützt haben. Wie ist deine Verbindung heutzutage?
Nun, wir waren Teil der gleichen Crowd. Wir haben mehr für unser Label getan und Bezkoc (von Pasazer) war stärker auf das Zine fokussiert. Als er sich entschied, eine größere Auflage zu drucken (sorry, ich kann mich nicht erinnern, wie viele Exemplare es in den 1990er Jahren hätten sein könnten), fehlte ihm das Geld. Wir boten unsere Hilfe an, unterstützten ihn bei der Verteilung des Zines und anschließend konnte er die folgenden Ausgaben selbst finanzieren. Für einige Ausgaben bot er uns immer wieder kostenlose Werbeflächen an, dann hörte er auf. Ich habe einige Interviews für sein Zine beigesteuert, habe einige Kolumne geschrieben und einige Rezensionen.

Vor einigen Jahren weigerte er sich, einige Sachen, die ich ihm geschickt hatte, zu veröffentlichen. Das ist sein Recht, aber ich hörte im Anschluss erst einmal auf, für das Pasazer-Zine zu schreiben. In der Zwischenzeit haben wir an einigen Veröffentlichungen zusammengewirkt. Wir sind Freunde, also arbeiten wir immer wieder zusammen. Tatsächlich ist Pasazer viel größer geworden als wir es sind, wenn ein solcher Vergleich überhaupt einen Sinn ergibt. Aber er betreibt Pasazer auch in Vollzeit. Und sein Zine ist wirklich lesenswert, wenn man Polnisch versteht. Ansonsten ist es ein guter Ort, um seine Sachen zum Besprechen hin zu schicken – zusammen mit dem „Chaos W Mojej G?owie“ sind das zwei regelmäßig erscheinende DIY-Punk-Zines.

Beim Lesen von Zines in Deutschland habe ich mich gefragt, warum nicht häufiger Bands aus Polen interviewt werden. Andererseits spielen viele polnische Punk und Hardcore-Bands häufig hier, z.B. in Berlin. Wie siehst Du den Austausch zwischen beiden Ländern? Wie ist der Kontakt zu anderen Ländern?
Ich mag es nicht wirklich, Punk-Bands mit Nationalitäten in Verbindung zu bringen. Ich verstehe das Konzept des „Scandi Crust“ oder des „French Screamo“, aber mein Konzept von Punk als Gegenkultur widerspricht stark der Idee einer Nation. Gedanken, nicht die gesprochene Sprache, verbinden die Menschen. [Anm. Mika: Dem Stimme ich zu 100 Prozent zu. Dennoch glaube ich, dass es regionale Eigenheiten gibt, die zum Teil durch eine gemeinsame Sprache, durch gemeinsame Normen und Regeln sowie die Rebellion gegen diese entstehen können.]

Ich verstehe aber, was du meinst. Im Vergleich zur Rockwelt gibt es wohl noch immer ein größeres Interesse an obskuren Punk-Szenen – sei es in Chile, Griechenland oder Polen – wenn es um DIY-Punk / Hardcore geht. Oder vielleicht idealisiere ich das? Ich kenne viele polnische Bands, die nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen deutschen Städten spielen, ebenso wie deutsche Bands hier. In der Vergangenheit wurden Bands wie Upright Citizens oder Slime hier durchaus beachtet. In den 1980er Jahren spielten ostdeutsche Punkbands in Polen, einige polnische Bands schafften es nach Ostdeutschland. Damals waren Spermbirds sehr beliebt im DIY-Umfeld, oder Arm aus Hamburg. Viele polnische Punx begannen in den 1990er Jahren nach Deutschland zu ziehen. Berlin hat eine riesige, eigene Szene, in der sich Menschen an verschiedenen Projekten beteiligen, so dass es ganz natürlich ist, dass sie die Bands, die sie kennen, einladen.

Allerdings ist es schwer hier abzuwägen, denn es gibt nicht viele deutsche Punks, die in polnischen DIY-Zentren arbeiten …  Großbritannien ist ein weiterer Ort mit vielen polnischen Punks, so dass auch dort häufig Bands von hier spielen. Ich denke, dass es heutzutage für eine relativ unbekannte DIY Hardcore / Punk Band aus Polen einfacher ist, in London zu spielen (und wenn sie Glück haben, sogar weitere Tourdaten zu füllen) als umgekehrt. Aber natürlich kommen alle Dinosaurier-Punks aus Großbritannien und spielen hier regelmäßig.

Es ist heutzutage sicherlich für polnische Punk-Bands viel einfacher, im Ausland zu spielen. Government Flu – sind sie überhaupt eine polnische Band, wenn ihr Schlagzeuger Deutscher ist? – war die erste polnische Band, die eine DIY-Tour in den USA spielte. Ewa Braun war zwar auch schon einmal dort, aber das war mehr im Indie-Bereich, wenn das denn einen Unterschied macht. Meinhof spielten in Japan und Brasilien. Wobei hier wirklich Grenzen des Labelings aufkommen, denn der Gitarrist ist aus Polen, der Bassist aus Spanien und Sänger und Schlagzeuger sind aus verschiedenen Ländern, sie leben aber alle in Großbritannien …

Wie wichtig ist die politische Botschaft einer Band für NNNW? In der Vergangenheit habt ihr z.B. die Einnahmen aus den ULICA-Platten an die Green Brigades weiter gegeben. Wie ist es dazu gekommen? Hast du mehr Geld für Aktivist*innen gesammelt?
Früher dachte ich, dass die politische Botschaft sehr wichtig ist. Jetzt nicht mehr. Natürlich zählt es, aber nur, wenn es mit Aufrichtigkeit einhergeht. Guts Pie Earshot machen instrumental Musik. Das mindert aber nicht die Bedeutung ihrer DIY-Einstellung. So sehe ich es.

Unsere erste Veröffentlichung war ein Benefit für ein ökologisches Zine, die den gleichen Background hatten. Sie waren Hippies, Anti-Militaristen. Sie konnten auf eine große Unterstützung aus der frühen Szene zählen. Einfach und von Natur her. Im Laufe der Zeit veröffentlichten wir viele Benefit-Releases, unterstützten Gruppen gegen den obligatorischen Militärdienst, Tierrechtsaktivisten, Anarchist Black Cross und in jüngster Zeit Gruppen, die mit Geflüchteten oder Opfern von Kriegen arbeiten. Dabei waren auch einige kleinere Gruppen. Es gibt hier keine einheitliche Herangehensweise, wir unterstützen das, was wir für wichtig halten, wenn wir es können. Und das ist leider nie genug.

In Europa gibt es eine beschissene Entwicklung der Politik nach rechts hin, in nahezu allen Ländern, auch in Deutschland und Polen. Wie siehst Du diese Entwicklung in Polen? Wie wirkt sich das auf Punks und Punkbands aus? Wie ist die von Euch aufgebaute „soziale Infrastruktur“, wie alternative Veranstaltungsorte, Festivals oder Bars und (vegane / vegetarische) Restaurants bedroht?
Dieser Prozess macht mir Angst und ich glaube nicht, dass er sich in naher Zukunft ändern wird. Leider sehe ich der Klimakatastrophe das größte Potenzial, diesen Rechtsruck zu stoppen, da wir trotz verschiedener politischer Ansichten alle darunter leiden werden. Und irgendwie kann ich dadurch nicht sehr optimistisch in die Zukunft blicken.

Die ärgerlichste Tatsache in Polen ist, dass es die Jugend ist, die schnell aufhörte „Rebell“ oder „progressiv“ zu sein. Jetzt scheint die Mehrheit der Menschen unter 30 Jahren entweder einer harten Utopie des freien Marktes zu folgen oder sie wollen die traditionellen Werte, also ja zu Familie, Religion und Tradition. Es gibt da diesen passenden deutschen Ausdruck: „Kinder, Küche, Kirche“. Ich verstehe es nicht, aber es hat die Nationalisten ins polnische Parlament gebracht.

Du kannst die Veränderung auch im Punk sehen. Ich wurde für die Kolumne, die ich nach dem Tod des polnischen Papstes geschrieben habe, beschimpft. Selbst innerhalb der Crowd von Punks ( oder besser: „Punk“?) mag es inakzeptabel sein, einen Kerl zu kritisieren, der sich gegen die Verwendung von Kondomen in AIDS-gefährdeten Gebieten einsetzte, vergewaltigte Frauen drängte, ihre Babys zu gebären, Kinderschänder unter Priestern schützte und alle möglichen bösen, politischen Deals in seinem Kampf gegen „Kommis“ bereitwillig mitmachte. Es gab sogar eine Website, die konservative Werte innerhalb von Punk propagierte. Ich konnte zudem beobachten, wie Punks zu Auftritten mit polnischen Nationalsymbolen, Flaggen-Aufklebern oder Hemden kamen. Wie weit (rechts) kann das ganze noch werden?

Allerdings ist es auch kein so neues Phänomen. Oi Polloi wurden kritisiert, weil sie ein Papst Johannes Paul der Zweite Bild bei einer Show in Polen verbrannten. Da war er noch am Leben … In den letzten Jahren gab es massive Aufmärsche am polnischen Unabhängigkeitstag, dem 11. November. Die größten davon in Warschau. Nazis griffen vor einigen Jahren ein besetztes Haus an. In Wroclaw findet gleichzeitig ein Marsch von Hardlinern statt, bei dem immer und immer wieder eine Wagenburg angegriffen wurde. Einige Male im Jahr kannst Du sehen, wie die lokalen Crews einen veganen Ort oder eine Buchhandlung angreifen oder zerstören. Es gab auch einige Angriffe auf Konzerte. Es ist, als würden wir in der Zeit in die 1990er Jahre zurück gehen, als solche Angriffe noch recht häufig waren.

In mehreren Interviews hast du gesagt, dass Punk aus Polen in der Vergangenheit ein besonderes Gefühl, eine besondere Note hatte und dass du das heute nicht mehr so wahrnimmst. Kannst Du beschreiben, was diese besondere Note für dich war? Denn ich finde auch, dass es immer noch eine gewisse Besonderheit gibt am polnischen Punk. Mein Interesse wuchs, weil ich mich in die El Banda Platte „Skutki Uboczne“ (Deutsch: Nebenwirkungen) verliebt habe. Und ich habe das Gefühl, dass polnischer Punk häufig düsterer ist. Die Sprache – ich spreche leider kein Polnisch – klingt sehr direkt, manchmal hart. Ich nehme an, die Franzosen sagen dasselbe über Deutsch, haha. Aber es sind auch viele polnische Bands, die ich kenne, die einen anderen Sound haben. Nicht so klar, nicht so überproduziert und etwas Besonderes, vor allem wenn ich an Bands wie El Banda, Klinika oder kürzlich The Past denke.
Heutzutage ist es einfach, eine Band mit der Vision zu gründen, eine Kopie zu kopieren – schreib hier einfach irgendeinen beliebigen Namen – und ihre lokale Version zu werden. Irgendwie funktioniert das für so viele, dass die Idee durch alle Stile recycelt wird, ohne Ausnahme für Punk. Und wie viele andere mag ich diese Bands ziemlich oft. Ich weiß, dass es sehr schwer ist, mit etwas Neuem in der Musik zu kommen.

Aber das ist nicht unmöglich. Neben den oben genannten Bands empfehle ich Bands wie Produkt, Morus, Wszaniec, Stregesti, Hanako, Pro Publico Bono, Tripis, Life Scars, The Fight, 19 Wiosen, Santa Irena, Prawo Do Jazdy. Beim Hören dieser Bands würde man einige Einflüsse erkennen, aber man kann sie nicht „polnische Antwort auf Discharge / Tragedy / Cock Sparrer“ nennen. Einige von ihnen existieren nicht mehr und es gibt sicher noch viele mehr, die ich nicht kenne oder vergessen habe zu erwähnen.

Blick in die Zukunft: Was ist dein größter Wunsch für die polnische Szene? Was erwartest du, was passieren wird?
Vor fast zwei Jahrzehnten haben wir ein Brettspiel „König der Punks“ entwickelt. Es lag der zweiten LP von Czosnek (Knoblauch) bei, der einzigen Band, in der ich spielte. Kurz bevor man in diesem Spiel zum „König“ wurde, musste man drei Versuchungen überwinden: Ausverkauf, Alkohol- und Drogenmissbrauch und nicht zuletzt: Lebensstabilisierung („life stabilization“). Ich hoffe, es wird genug „Könige und Königinnen“ geben, um das Ganze am Laufen zu halten. Es ist ein erstaunlich wichtiger Teil meines Lebens und ich hoffe, dass andere das erleben können. Ich erwarte, dass neue Leute angezogen werden, andere aussteigen, so läuft es jahrelang.

Welche neuen Bands sollen wir anchecken? Welche neue Band möchtest du auf deinem Label sehen? Und welche alten Bands auch?
Ich sehe heutzutage nicht mehr so viele Bands. Ich reise viel weniger, seit wir aufgehört haben zu spielen. Ich habe schon ein paar Namen genannt, aber was mir kürzlich gefallen hat, sind auch Orphanage Named Earth, Throne, Moira, Wojna, Deszcz, Sanity Control. Im Grunde genommen bin ich immer noch begeistert von Musik …

Ich weiß nicht, ob es neuen Bands wirklich hilft, auf NNNW zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir langsam ein Teil der Vergangenheit werden, was ein ganz normaler Prozess ist. Ich bin sehr glücklich, dass wir eine Platte der schwedischen „Polish punk obsessed“ Band namens Smierc (Death) aufgenommen haben. Es gab einen Plan, die Sedition-Diskographie zu veröffentlichen. Aber sie blieben jahrelang ruhig. Das ist, was ich bedauere, dass es nicht passiert ist.

Wie werdet ihr 30 Jahre NNNNW feiern?
Ein veganer Kuchen mit 30 scharfen Paprikas würde reichen. Der Kuchen ist dann dafür da, um die hässliche Fresse irgendeines Idioten zu treffen. Davon gibt es leider immer noch mehr als genug.

Interview: Mika Reckinnen

Website: NNNW.pl
Bandcamp: https://nnnw.bandcamp.com/
Kontakt: PO BOX 53, 34-400 Nowy Targ, Poland – info@nnnw.pl

Kurze Ergänzung:
Da wir kurz über die politische Situation in Polen gesprochen haben. Momentan ist das Rozbrat, ein Squat in Poznan unter akuter Räumungsgefahr. Das Rozbrat befindet sich direkt im Zentrum am Marktplatz der Stadt und ist seit Mitte der 1990er eine wichtige Anlaufstelle für Gegenkultur in der polnischen Großstadt und das älteste besetzte Haus in Polen. Das alte Warenhaus hatte vorher längere Zeit leer gestanden. Es ist ein Treffpunkt unter anderem für anarchistische Gruppen, aber auch Veranstaltungsort für Konzerte und Vorträge. Immer wieder wurde das Rozbrat in der Vergangenheit von rechten Hooligans – unter anderem von dem heimischen Verein Lech Poznan – angegriffen. Unter https://www.rozbrat.org/ findet ihr weitere Informationen zum Haus und seiner Bedeutung in Poznan. Im Oktober hat das Rozbrat seinen 25 Geburtstag gefeiert, hoffen wir, dass noch viele weitere hinzukommen.

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